Philosophische Gedankenexperimente sind nur was für Philosoph*innen? DenXte!
Von Amrei Bahr & Markus Schrenk (Düsseldorf)
Philosophische Gedankenexperimente sind Experimente einer besonderen Art: Jede*r kann sie durchführen! Aber der Reihe nach. Was sind überhaupt philosophische Gedankenexperimente? Was können wir damit anfangen? Und inwiefern können sie auch von Nicht-Philosoph*innen gewinnbringend angestellt werden?
Ganz grob lassen sich zunächst drei Funktionen philosophischer Gedankenexperimente unterscheiden. Schauen wir uns diese Funktionen einmal genauer an und betrachten wir dazu jeweils ein Beispiel! Anschließend kommen wir darauf zu sprechen, warum Gedankenexperimente allen Menschen das Philosophieren ermöglichen. Wie wir sehen werden, eignen sie sich aus diesem Grund besonders gut als Mittel zur philosophischen Wissenschaftskommunikation.
Die erste Funktion philosophischer Gedankenexperimente besteht darin, eine philosophische Theorie glaubhaft zu machen. John Rawls’ Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens[1] kann dazu herangezogen werden, diese Funktion zu illustrieren. In diesem Gedankenexperiment geht es darum, wie eine möglichst gerechte Gesellschaft aussehen sollte. Rawls glaubt, dass in so einer Gesellschaft alle Mitglieder gleiche Rechte, gleiche Grundfreiheiten und faire Chancengleichheit besitzen müssen. Um zu zeigen, dass das stimmt, stellt er folgendes Gedankenexperiment an:
Stellen wir uns vor, noch einmal auf die Welt zu kommen. Dabei haben wir die Wahl, in welche Gesellschaftsform wir hineingeboren werden. Viele der Gesellschaftsformen, unter denen wir wählen können, haben Nachteile für einige ihrer Mitglieder. Etwa die, in der eine Alleinherrscherin größte Reichtümer besitzt und alle anderen ihre rechtlosen Sklav*innen sind. Oder die, in der Menschen aufgrund bestimmter Merkmale diskriminiert werden, während andere umfangreiche Privilegien genießen. Zur Wahl steht aber auch eine Gesellschaft, in der gleiche Rechte, Grundfreiheiten und Chancen für alle Mitglieder gewährleistet sind, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe etc.
Die Schwierigkeit: Wir wissen nicht, als wer wir in die von uns gewählte Gesellschaft hinein geboren werden. Daher heißt das Gedankenexperiment auch „Schleier des Nichtwissens“: Hinter so einem Schleier befinden wir uns zum Zeitpunkt, zu dem wir eine Wahl für eine Gesellschaftsform treffen sollen. Wir wissen schlicht nicht, wer wir zukünftig sein werden: Geschlecht, Hautfarbe, sozio-ökonomische Stellung, etc. bestimmt der Zufall. Vielleicht werden wir als die eine Alleinherrscherin geboren; vielleicht aber auch als rechtlos Versklavte. Wir könnten qua Geburt privilegiert sein – oder von Diskriminierung betroffen.
Rawls vermutet nun, dass wir alle unter diesen Umständen diejenige Gesellschaftsform bevorzugen, deren Mitglieder gleiche Rechte, Freiheiten und Chancen haben. Denn hier ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass wir ein glückliches Leben führen können – egal, wie die Geburtenlotterie für uns ausgeht. Finden Sie es nach der Durchführung des Gedankenexperiments ebenfalls intuitiv einleuchtend, dass diese Gesellschaftsform die gerechteste ist? Dann ist Rawls‘ Gedankenexperiment geglückt!
Andere philosophische Gedankenexperimente sind offener gehalten: Sie sollen nicht schon eine Theorie untermauern, sondern zunächst nur unsere Intuitionen zu einem bestimmten Thema abfragen. Dies ist die zweite Funktion philosophischer Gedankenexperimente. Erfüllt wird sie etwa vom berühmten Trolley-Experiment, das unsere intuitiven Moralvorstellungen herausfordert[2]:
Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einem Gleis, auf dem sich mit hoher Geschwindigkeit eine Straßenbahn nähert. Auf dem Gleis steht in einiger Entfernung eine Gruppe von fünf Personen, die durch die Straßenbahn erfasst und getötet zu werden drohen. Das Unglück lässt sich nur abwenden, indem Sie eine Weiche, die sich in Ihrer Reichweite befindet, auf ein anderes Gleis umstellen. Auf dem anderen Gleis befindet sich jedoch eine weitere, einzelne Person, die in diesem Fall von der Straßenbahn überrollt würde. Was würden Sie in dieser Situation tun? Würden Sie die Weiche umstellen, um die größere Zahl von Menschen zu retten? Oder würden Sie auf ein Eingreifen verzichten und die einzelne Person so davor bewahren, durch Ihr Handeln getötet zu werden?
Wer sich intuitiv für eine Umstellung der Weiche entscheidet, erweist Sympathien für eine utilitaristische Position, der zufolge für die Rettung einer größeren Zahl von Personen der Tod der Einzelperson in Kauf zu nehmen ist. Wer hingegen die Umstellung der Weiche intuitiv für falsch hält, ist einer deontologischen Position zugeneigt, der zufolge bestimmte Handlungen – wie das Umstellen der Weiche – ungeachtet ihrer Konsequenzen für sich genommen falsch sind.
Einige philosophische Gedankenexperimente werden schließlich dazu genutzt, Thesen zu widerlegen – dies ist die dritte Funktion solcher Experimente. In diesem Sinne funktionieren sie ganz ähnlich wie die Experimente zum Widerlegen einer naturwissenschaftlichen Theorie: Nehmen wir an, eine Physikerin möchte die Hypothese überprüfen, dass sich Elektronen in einem Magnetfeld auf geraden Bahnen bewegen. Sie stellt ein Experiment an, in dem sie tatsächlich ein Elektron in ein Magnetfeld schießt. Da sie etwas Gegenteiliges beobachtet – nämlich, dass sich das Elektron auf einer Kreisbahn bewegt –, ist die Hypothese damit widerlegt.
Ein philosophisches Gedankenexperiment zur Widerlegung einer Theorie läuft ähnlich ab – nur, dass wir dabei keine speziellen Geräte benutzen, sondern allein unseren Verstand! Schritt 1 des Experiments: Wir beschreiben ein Szenario, das sich ereignen könnte. Schritt 2: Wir schauen uns eine philosophische Theorie an, die auf das Szenario zutreffen sollte – ist sie richtig, dann müssen wir im Szenario aus Schritt 1 zu einem bestimmten Schluss kommen. Im dritten Schritt sehen wir, dass wir in unserem Szenario jedoch intuitiv zum gegenteiligen Schluss kommen! Die Folgerung: Die philosophische Theorie, die zur Debatte steht, überzeugt nicht.[3]
Dieses etwas abstrakte Schema lässt sich anhand eines Beispiels anschaulich machen. Dabei geht es darum, was Wissen ist. Einer vielbeachteten philosophischen Theorie zufolge lautet die Antwort: Wissen ist nichts anderes als wahre, gerechtfertigte Meinung. Aber ist das wirklich eine überzeugende Theorie?
Folgende Situation scheint die Theorie zunächst zu stützen: Stellen wir uns vor, Lounis wird pünktlich zum Mittag gefragt, ob er weiß, wieviel Uhr es ist. Er schaut auf seine Uhr, deren Zifferblatt „12“ anzeigt, und kommt zur wahren Meinung, dass es 12 Uhr ist – denn es ist ja tatsächlich 12 Uhr. Und er hat für seine Meinung auch eine Rechtfertigung: Er rät ja nicht einfach, sondern er hat einen anerkannten Weg gewählt, die Uhrzeit zu erfahren – den Blick auf ein Zeitmessgerät! Es scheint also angemessen, zu sagen, dass Lounis weiß, wieviel Uhr es ist.
Unsere Theorie kann jedoch mithilfe eines Gedankenexperiments[4] auf die Probe gestellt werden – dabei folgen wir dem Schema oben. Folgendes Szenario könnte sich statt des ersten, gerade beschriebenen, auch ereignen (Schritt 1): Lounis schaut exakt zur Mittagszeit auf seine Uhr. Die aber ist, wie es der Zufall will, genau zwölf Stunden vorher stehen geblieben. Lounis ist auch dieses Mal der Meinung, es sei 12 Uhr – und das ist ja zufällig auch wahr. Und wieder ist seine Annahme gerechtfertigt: er hat erneut auf ein Zeitmessgerät geschaut. Laut unserer Theorie weiß er also, dass es 12 Uhr ist – schließlich ist seine diesbezügliche Meinung wahr und gerechtfertigt (Schritt 2)!
Aber (Schritt 3): Würden wir hier wirklich von Wissen sprechen wollen? Lounis hat doch bloß Glück gehabt! Hätten wir ihn nur wenige Minuten später, sagen wir um 12:20 Uhr, gefragt, dann hätte er doch auch, aber nun fälschlicherweise, „12 Uhr!“ gesagt.
Viele Philosoph*innen glauben: Wirkliches Wissen kann kein Glückstreffer sein. Daher – so die Schlussfolgerung – reicht wahre gerechtfertigte Meinung nicht immer für Wissen aus: eine Theorie, die das besagt, ist widerlegt!
So unterschiedlich die Funktionen philosophischer Gedankenexperimente auch sein mögen – wie die Beispiele eindrücklich zeigen, haben sie alle eines gemeinsam: Dank ihres narrativen Charakters und ihrer geringen theoretischen Komplexität eignen sich diese Gedankenexperimente besonders gut dazu, auch Nicht-Philosoph*innen einen Zugang zu philosophischen Problemstellungen zu ermöglichen. Auf diese Weise philosophieren kann jede*r – und dabei zugleich philosophische Fragen und Problemstellungen kennenlernen sowie sich über die eigenen Intuitionen dazu klar werden.
Insofern sind Gedankenexperimente ein wertvolles Mittel, um philosophische Wissenschaftskommunikation zu betreiben: Sie gewähren allen Menschen einen Zugang zur Philosophie – und das unabhängig davon, ob sie über philosophische Vorbildung verfügen oder nicht.
Diesen Umstand machen wir uns auch in der Reihe denXte zunutze: Mit interaktiven Vorträgen, Videos und bald auch per Livestream laden wir unser Publikum ein, philosophische Gedankenexperimente mit uns durchzuführen. So wird Philosophie für alle greifbar!
[1] Rawls, John (1971) A Theory of Justice, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
[2] Das Gedankenexperiment stammt ursprünglich von Philippa Foot (1967): „The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect“ Oxford Review 5.
[3] Diese Nutzung von Gedankenexperimenten wird erstmals beschrieben in Roy A. Sorensens Thought Experiments (Oxford: OUP 1992). Die unserer Ansicht nach klarste Schematisierung und Ausarbeitung findet sich bei Sören Häggqvist in: „A Model for Thought Experiments“, Canadian Journal of Philosophy 39 (2009) 55-76.
[4] Gedankenexperimente dieser Art sind in der Philosophie als sogenannte Gettier-Fälle bekannt (nach Edmund Gettier und seinem Paper „Is Justified True Belief Knowledge?“ in: Analysis 23.6 (1963) 121– 123). Das Uhrenbeispiel ist eine Abwandlung eines Beispiels von Bertrand Russell (in seinem Human Knowledge: Its Scope and its Limits. London: Allen & Unwin (1948) 170-1).
Dr. Amrei Bahr ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In Forschung und Lehre befasst sie sich mit der Philosophie der Artefakte, der Ethik des Kopierens, Fragen der Publikationsethik und der Philosophie der Abfallentsorgung. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Wissenschaftskommunikation, z.B. im Rahmen ihrer #InsidePhilo-Threads auf Twitter und in Form von Blogbeiträgen. Methoden der Wissenschaftskommunikation vermittelt sie auch in der Lehre.
Markus Schrenk ist Professor für Theoretische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Metaphysik, speziell in der Metaphysik der (Natur-)Wissenschaften (siehe seine und Siegfried Jaags neueste Publikation Naturgesetze), in der Wissenschafts- und Sprachphilosophie. Sein jüngstes Projekt beschäftigt sich allerdings mit einem kunstphilosophischem Thema: Was ist propriozeptive Kunst?