Vehikel der Unmittelbarkeit: Gedankenexperimente und Erkenntnis

Von Alexander Fischer (Basel)


Wir kennen Gedankenexperimente als kurze, im Kontext philosophischer Argumentation strategisch eingesetzte Narrative[i], die darauf abzielen, möglichst alle relevanten Aspekte einer Problemstellung zu vergegenwärtigen, Muster aufzuzeigen und Lösungsrichtungen innerhalb eines Arguments einsehbar zu machen. Das berühmte Höhlengleichnis Platons, das Straßenbahn-Dilemma Philippa Foots oder John Rawls’ Szenario vom Schleier des Nichtwissens sind nur drei bekannte und oft auch im philosophischen Unterricht eingesetzte Gedankenexperimente. Aufgrund ihrer unmittelbaren Bilderstärke führen sie effektiver als ein langer, rational-diskursiv verhandelnder Text in die innere Aushandlung. Gerade deshalb sind sie als didaktisches Mittel so beliebt und lassen sich gut in andere Formen wie Kurzfilme übertragen und künstlerisch variieren.[ii] Doch was genau ist es in ihrer Gestaltung, das sie im gelungenen Falle zu einem Vehikel unmittelbarer Einsicht werden lässt? Hierauf möchte ich ein kurzes Schlaglicht werfen.

Als fiktive, szenisch konstruierte (Anfang-Mitte-Ende) und anregend bildstarke, prägnante Kurznarrative bieten sie Repräsentationen abstrakter Entitäten und machen deutlich, wie diese zueinander in Beziehung stehen. Mittels ihres imaginativen Antlitzes ermöglichen sie so einen Wechsel des Erkenntnismodus’: Anders als der umrahmende philosophische Text selbst, der uns rational argumentativ mittels unseres Verstandes überzeugen soll, verhelfen sie uns im gelungenen Fall unmittelbar zu einer Einsicht in ein faktisches Problem. Wir bekommen die Problemlage eines Sachverhalts direkt zu spüren, worauf sich bereits eine Lösungstendenz bemerkbar macht. Gedankenexperimente führen uns also gewissermaßen zum Anfangspunkt des Philosophierens zurück, wo in der Spürbarkeit eines Staunens, in der spürbaren Irritation und bei innerlich manifestierten Fragezeichen ein Anfangsschritt gemacht wird etwas auszuloten und zu verstehen – meist bereits in eine bestimmte Richtung. In gelungener Form nehmen sie in einem argumentativen Kontext so die Rolle eines Instruments ein, das mehr ist als bloße Illustration. Sie helfen dabei, uns jenseits des rationalen Radars über den Weg unseres Gefühls einsichtsvoll zu machen und in einem Folgeschritt unsere Intuition – also die Amalgamisierung von erkennendem, gerichteten Gefühl, Erfahrungswissen und denkerischem Verstand – zu aktivieren. Der amerikanische Philosoph Daniel C. Dennett bezeichnet Gedankenexperimente passenderweise als «intuition pumps».[iii] Im Sog der Imagination eines prägnanten Gedankenexperiments werden wir also sinnlich berührt und fassen etwas schnell, direkt und unmittelbar auf, werden irritiert und/oder staunen, wohingegen eine rationale Argumentation uns diskursiv, wörtlich, in deutlichen Begriffen, rein den Verstand ansprechend und so in langsamerer Manier zu überzeugen versucht.

Versuchen wir das noch besser zu verstehen: Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz unterscheidet „klare“ von „dunklen Begriffen“. „Begriff“ meint hier nicht einfach ein Wort, sondern die Form der Erkenntnis an sich. Während klare Erkenntnis uns ein eindeutiges Identifizieren erlaubt (z.B. einer Mirabelle im Gegensatz zu einer Zwetschge -als Unterarten der Pflaume), ist es bei dunkler Erkenntnis so, dass wir uns an etwas erinnern mögen, etwas in uns angeregt ist, aber keine verlässliche Unterscheidung möglich wird (wie z.B. im vagen Erkennen einer Person, ohne, dass uns der Name oder der passende Kontext einfällt). Die klare Erkenntnis kann außerdem deutlich oder verworren sein. Verworren ist sie dann, wenn wir die Merkmale einer Sache nicht ganz klar angeben können, wie bei dem Geschmack von Shrimp oder dem Klang eines Instruments. Sind Begriffe klar und deutlich, zeichnen sie sich durch Präzision aus; der Gegenstand des Wissens ist eindeutig bestimmt, es herrscht eine Logik von Unter- und Überordnung. In den Worten des Jenaer Philosophen Gottfried Gabriel haben wir es dann mit „propositionalen“ Wissensbeständen zu tun. Ist die Erkenntnis nur klar, aber nicht deutlich, bewegen wir uns im Bereich „nicht-propositionalen“ Wissens. Hier ist der Gegenstand des Wissens angemessen und prägnant dargestellt, er ist also plastisch und treffsicher vergegenwärtigt, aber eben nicht eindeutig – es bleibt Interpretationsspielraum. Denn manches ist eben nicht vollständig und klar in diskursives Vokabular zu übersetzen.[iv] Vor diesem Hintergrund funktionieren auch Gedankenexperimente, die so versuchen, Vehikel der Unmittelbarkeit zu werden, die einen Zugang zu nicht-propositionalem Wissen schaffen, um die umrahmende Argumentation voranzutragen.

Gelungene Gedankenexperimente zeichnen sich so durch ihre Plastizität, ihre treffsichere, angemessene Darstellung eines Sachverhalts und eine Prägnanz aus. Sie ermöglichen uns auf diese Weise einen Zugang zu praktischem und phänomenalem Wissen, das mehr ist, als ein bloßes Wissen davon, wie man z.B. Fahrrad fährt und wie sich das anfühlt. Sie bringen uns dem Wissen um die Ziele und Folgen unseres Handelns näher, wie es insbesondere in der Praktischen Philosophie relevant ist – als „Urteilskraft“, als „phrónesis“, als „Intuition“ –, wie auch einem Wissen, wie es sich anfühlen würde, von einer Entscheidung als Figur eines Gedankenexperiments betroffen zu sein. Das ist es auch, worauf die meisten Gedankenexperimente abzielen: Die Rezipienten dazu zu bringen, sich selbst einzuschreiben, einzuspüren und so die Ebene des rationalen Durchdenkens für einen kurzen, aber wichtigen Moment zu verlassen, bevor die Integration dieses kurzen Schlüsselmoments in die umrahmende rationale Argumentation stattfindet. Gedankenexperiment scheinen dabei so etwas wie Cousins raffinierter fiktiver Literatur zu sein. Sie sind selbst keine Romane oder Novellen, aber als Kurznarrative zeigen sie selbst das eine oder andere Charakteristikum des Literarischen. Nicht nur indem sie fiktiv Entitäten aus der realen Welt repräsentieren, ohne die reale Welt zwingend abzubilden, weil sie eine (zumindest rudimentäre) Erzählperspektive besitzen und sich sequenziell von A nach B entwickeln. Sondern auch indem sie prägnant etwas aufweisen, uns jenseits der verstandesgemäßen Rationalität erwischen können, unser Gefühl stimulieren und so nicht-propositionale Wissensbestände mit in die rationale Argumentation einbeziehen. Doch sie unterscheiden sich letztlich wiederum auch wesentlich von längerer, detaillierterer und letztlich auch – und das ist eine wesentliche Qualität – opaker (also aus Mangel an Transparenz weniger leicht zugänglicher) Literatur.[v] Wir würden beiden Genres nicht gerecht werden, setzten wir sie einfach gleich.[vi] Und nicht zuletzt: Wenngleich Gedankenexperimente als strategisch geformte Vehikel der Unmittelbarkeit in unsere affektive Wesenheit hineinreichen, gehören sie in einen Kontext der rationalen philosophischen Argumentation.

Gedankenexperimente rekurrieren also auf beides; unsere affektive Wesenheit wie auch unseren Verstand. In der Kombination gelangen wir sodann zur Vernunft: Im Weben eines Netzes von sinnlichem und diskursivem Vermögen als komplementäre Bestandteile der Urteilskraft. Beides ist notwendig im Kontext des philosophischen Nachdenkens, denn man kann hochrational, aber herzlos sein. So wie man auch sehr empfindsam, aber irrational sein kann. Vernünftig ist beides nicht. Gedankenexperimente setzen sich an diese Schnittstelle und locken uns ins Spüren ohne uns des Verstandes zu berauben. Dabei kann man mit Augenzwinkern feststellen, dass gerade sie, die „Experimente“ genannt werden und sich so methodisch gewissermaßen an die so rationalen Naturwissenschaften anzulehnen versuchen, im Rahmen der rationalen philosophischen Argumentation die Rolle als Vehikel der Unmittelbarkeit zum Spüren übernehmen, indem sie uns in einem primären Schritt ins Fühlen führen, bevor wir dann sekundär rational-integrierend im Kopf weiterarbeiten.


[i] „Narrativ“ meint, dass wir eine Struktur von zwei oder mehr Handlungsschritten vorfinden, die von einem Erzähler in einer bestimmten Perspektive erzählt werden, sich über die Zeit entfalten und dabei eine Beziehung zwischen den erzählten Entitäten herstellen. So wird nicht nur der sich entfaltende Prozess verstehbar, sondern unser Fühlen und daran anschließend auch unser Denken im gelungenen Falle eines Gedankenexperiments in eine Richtung gestupst, was in dieser Erzählung relevant und interessant sein mag. Vgl. für eine ausführliche Beschreibung von Gedankenexperimenten als strategisch platzierte Kurznarrative: Alexander Fischer, „Guinea Pigs in a Terrarium? Albert Camus‘ The Plague as a Thought Experiment“, in: Falk Bornmüller, Johannes Franzen, Mathis Lessau (Hg.), Literature as Thought Experiment? Perspectives from Philosophy and Literary Studies, Paderborn 2019, S. 155-169.

[ii] Schöne Beispiele bekannter Gedankenexperimente finden sich in Form von prägnant erzählten Comics unter dem Hashtag #filosofix auf YouTube. Animiert wurden diese von Nino Christen.

[iii] Daniel C. Dennett, „Intuition Pumps“, in: John Brockman (Hg.), The Third Culture, New York et al. 1997, S. 181-197, hier S. 193.

[iv] Vgl. für die Unterscheidung von propositionalem und nicht-propositionalem Wissen: Gottfried Gabriel, Erkenntnis, Berlin/Boston 2015. Für die Unterscheidungen der Erkenntnisformen bei Leibniz siehe: Gottfried Wilhelm Leibniz, „Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“, in: Ders., Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, hg. von Herbert Herring, Stuttgart 2004, S. 9-13.

[v] Für eine Charakterisierung des Opaken der Literatur siehe Peter Lamarque, The Opacity of Narrative, London 2014.

[vi] Siehe für eine ausführlichere Diskussion der Verwandtschaft von Literatur wie Romanen und Gedankenexperimenten Alexander Fischer, „Guinea Pigs in a Terrarium? Albert Camus‘ The Plague as a Thought Experiment“. Auch interessant für diese Diskussion sind die Aufsätze von Christiane Schildknecht, „Fiction as Thought Experiment?“, in: Falk Bornmüller, Johannes Franzen, Mathis Lessau (Hg.), Literature as Thought Experiment? Perspectives from Philosophy and Literary Studies, Paderborn 2019, S. 31-42 und Arne Willée, „Thought Experiments as a Narrative Genre“ im selben Band, S. 83-96.


Dr. phil. Alexander Fischer lehrt und forscht als wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Basel. Zu seinen Themen zählen Manipulation, Emotionen, Ethik und Erzählen. Zusätzlich zur wissenschaftlichen Arbeit ist er psychotherapeutisch und beraterisch tätig. Twitter: @alex_angler