Was ist das Ziel wissenschaftlicher Gedankenexperimente?

Von Harald A. Wiltsche (Linköping)


Die wissenschaftstheoretische Debatte um Gedankenexperimente (kurz: GEs)dreht sich häufig darum, das so genannte „Paradox der GEs“ zu lösen. Dieses besteht darin, dass GEs zwar nur im Geiste durchgeführt werden und demnach ohne den Import neuer Daten auskommen, aber dennoch beanspruchen, Wissen über die Welt zu generieren und dieses auch zu rechtfertigen. Ich halte dieses Paradox für ein Scheinproblem, das uns zu lange von weitaus wichtigeren Fragen im Zusammenhang mit GEs abgelenkt hat.

Die moderne Debatte um GEs geht auf eine Reihe von Arbeiten zurück, die der kanadische Wissenschaftstheoretiker Jim Brown seit den späten 1980ern und frühen 1990ern verfasst hat. In diesen vertritt Brown die provokante These, dass die empiristische Grundannahme, der zufolge alles informative Wissen über die Welt auf Sinneserfahrung beruht, durch Gedankenexperimente in der Physik widerlegt wird. Browns Analyse folgend rechtfertigt etwa Galileis Turmexperiment das moderne Fallgesetz, ohne hierbei auf neue empirische Daten angewiesen zu sein. Diesem Umstand kann nach Brown nur Rechnung getragen werden, wenn wir eine platonistische Haltung einnehmen: In einem ersten Schritt wird eine realistische Interpretation von Naturgesetzen befürwortet, die diese als kontingente Nezessierungsrelationen zwischen abstrakten Eigenschaften ansieht. Dieser metaphysischen Annahme fügt Brown in einem zweiten Schritt die epistemische These hinzu, dass es uns GEs wie jenes von Galilei erlauben, Naturgesetze in einer ähnlichen Weise zu „sehen“, in der wir nach platonistischem Dafürhalten auch andere abstrakte Gegenstände wie Zahlen oder Mengen sehen. Folgt man Browns Argumentation, dann erweisen sich GEs als in der Tat sehr außergewöhnlich: sie sind letztlich nichts anderes als Teleskope in Platons Ideenhimmel, in dem sich neben mathematischen Gegenständen auch Naturgesetze tummeln.

Angesichts der Exzentrizität von Browns Standpunkt verwundert es kaum, dass eine empiristische Antwort nicht lange auf sich warten ließ: John Norton konterte Browns Platonismus mit der auf den ersten Blick naheliegenden Sichtweise, dass Gedankenexperimente im Kern nichts anderes sind als Argumente, und dass wir immer, wenn wir meinen, ein GE durchzuführen, de facto nichts anderes als tun, als zu argumentieren. Der imaginativ-anschauliche Aspekt, der die Qualität von GEs für viele geradezu ausmacht, ist für Norton irrelevantes Beiwerk, das die epistemische Kraft von GEs in keiner Weise tangiert. Um seiner Theorie zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verleihen, hat Norton anhand von etlichen Fallstudien nachzuweisen versucht, dass sich wissenschaftliche GEs stets und ohne Ausnahme auf Argumente reduzieren lassen, ohne hierdurch an Rechtfertigungskraft einzubüßen.

Obwohl weder Norton noch Brown eine große AnhängerInnenschaft hinter sich scharen konnten, lässt sich nicht bestreiten, dass ihre Theorien die nachfolgende Debatte maßgeblich geprägt haben: Browns Platonismus und Nortons „argument view“ repräsentieren in der aktuellen Debatte nicht nur die Extrempunkte, zwischen denen sich alle späteren Theorieoptionen eingeordnet haben. Eine weitere, nur eher selten explizierte Voraussetzung beider Positionen ist, dass die Produktion und Rechtfertigung von Wissen dasjenige ist, was GEs zuallererst bemerkenswert macht und worauf sich das philosophische Interesse dementsprechend primär zu konzentrieren hat. Diese Voraussetzung hat dazu geführt, dass sich die moderne Debatte um GEs weitestgehend parallel zum Mainstream der zeitgenössischen Erkenntnistheorie entwickelt hat: Die Analysebemühungen konzentrieren sich auf propositionales Wissen und dessen Rechtfertigung.

Gewisse Zweifel an dieser thematischen Engführung sollten bereits dann aufkommen, wenn man einen auch nur kursorischen Blick auf die Wissenschaftsgeschichte wirft und dabei feststellt, dass die Aspekte von Wissensproduktion oder -rechtfertigung bei der überwiegenden Anzahl von GEs von vornherein keine Rolle zu spielen scheinen. Machen wir uns dies anhand eines Klassikers der neueren Physikgeschichte klar. [1]

Gehen wir davon aus, dass die Naturgesetze in allen Inertialrahmen die exakt selben sind und dass sich Licht stets mit der konstanten Geschwindigkeit c ausbreitet. Legen wir weiter fest, dass wir von der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse e1 und e2 dann sprechen, wenn sich Lichtimpulse, die von e1 und e2 emittiert worden sind, genau in der räumlichen Mitte zwischen e1 und e2 treffen. Stellen wir uns nun einen Zug vor, der sich mit konstanter Geschwindigkeit v fortbewegt und an dessen Enden zwei Lichtimpulse emittierende Ereignisse e1 und e2 stattfinden. Eine neben der Bahntrasse und genau in der räumlichen Mitte zwischen e1 und e2 positionierte Beobachterin wird zu dem Schluss kommen, dass e1 und e2 gleichzeitig erfolgt sind: die Lichtimpulse treffen sich genau an ihrer Position und damit auf halber Strecke zwischen e1 und e2.

Eine Beobachterin hingegen, die sich an Bord des Zugs befindet, wird bei der Bewertung derselben physikalischen Situation zu einem völlig anderen Ergebnis gelangen: Licht benötigt Zeit, um räumliche Distanzen zu überwinden. Da sich die zweite Beobachterin während dieser Zeit mit einer konstanten Geschwindigkeit v in Richtung e2 bewegt, wird der von e2 emittierte Lichtimpuls geringfügig früher bei ihrer Position anlangen als der Lichtimpuls von e1. Für diese zweite Beobachterin ist deshalb klar, dass e1 und e2 nicht gleichzeitig stattgefunden haben.

Einsteins Zug ist ein Klassiker der Physikgeschichte, der sich in jeder mir bekannten Einführung in die spezielle Relativitätstheorie findet. Offenkundig ist aber, dass es hier nicht um die Produktion oder gar Rechtfertigung von propositionalem Wissen über die Welt geht. Der Erkenntnisgewinn liegt viel eher in der Einsicht, dass unser altbewährter Sprachgebrauch vor dem Hintergrund eines neuen Theorierahmens revidiert werden muss: Wer das GE durchgeführt hat, versteht, dass von Gleichzeitigkeit niemals im absoluten Sinne, sondern immer nur in Abhängigkeit zu einem bestimmten Bezugssystem gesprochen werden kann.

Man könnte nun natürlich einwenden, dass ein berühmtes GE, das nicht auf die Produktion oder Rechtfertigung von Wissen abzielt, keine besonders breite Datenbasis für meine sehr viel allgemeinere These darstellt. Die Produktion und Rechtfertigung von Wissen könnte auch dann im Zentrum des philosophischen Interesses stehen, wenn nur wenige GEs zu dieser speziellen Leistung imstande sind. Diesem Einwand möchte ich aber entgegenhalten, dass selbst diejenigen Fälle, die in der Literatur häufig als die Paradebeispiele rechtfertigender GEs angeführt werden, an Überzeugungskraft verlieren, wenn sie einem wissenschaftshistorischen Realitycheck unterzogen werden. Werfen wir, um diese Behauptung zu untermauern, einen Blick auf das vielleicht berühmteste GE aller Zeiten, Galileis Turmexperiment.

Im ersten Kapitel seiner Discorsi attackiert Galilei das Aristotelische Fallgesetz, demzufolge sich die Fallgeschwindigkeit eines Körpers proportional zu dessen Gewicht verhält. Das hypothetische Szenario, das Galilei entwirft, um dieses Gesetz zu widerlegen, sieht wie folgt aus: Wir sollen uns zwei unterschiedlich schwere Körper vorstellen, die miteinander verbunden sind. Dem Aristotelischen Fallgesetz zufolge müssten sich die beiden Körper mit einer höheren Fallgeschwindigkeit bewegen, weil ein System zweier verbundener Körper ein höheres Gesamtgewicht hat als ein Körper allein. Gleichzeitig gilt aber auch, dass der leichtere Körper aufgrund seiner geringeren Fallgeschwindigkeit den schwereren Körper zumindest geringfügig abbremsen wird, was eine niedrigere Fallgeschwindigkeit des Gesamtsystems zur Folge hat. Dies ist aber ein für das Aristotelische Fallgesetz desaströses Ergebnis: Ein Gesetz, das hinsichtlich ein und desselben physikalischen Szenarios widersprüchliche Prognosen produziert, muss aufgegeben werden.

In der philosophischen Debatte herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die soeben dargestellte Widerlegung des Aristotelischen Fallgesetzes lediglich die destruktive Seite des GEs darstellt. Die konstruktive Leistung Galileis wird demgegenüber darin gesehen, neben der Widerlegung der Aristotelischen Auffassung auch die positive Rechtfertigung des modernen Fallgesetzes geliefert zu haben. Die Destruktion der Aristotelischen Theorie wird so zu einem bloßen Präludium für die eigentlich revolutionäre Einsicht, dass alle Körper unter idealen Bedingungen ungeachtet ihres Gewichts gleich schnell fallen. Schließt man sich dieser Darstellung des Turmexperiments an, dann ergibt sich jedoch ein Problem: Da zwischen der Negation des Aristotelischen Fallgesetzes („Es ist nicht der Fall, dass die Geschwindigkeit, mit der Objekte fallen, proportional zu deren Gewicht ist.“) und dem modernen Fallgesetz („Alle Objekte fallen gleich schnell.“) kein Äquivalenzverhältnis besteht, muss die epistemische Kluft, die sich zwischen dem destruktiven und dem konstruktiven Teil des GEs ergibt, auf irgendeine Weise geschlossen werden. Der Platonismus soll genau dies leisten: Jim Brown zufolge versetzt das Turmexperiment manche von uns in die Lage, das Fallgesetz in seiner abstrakten Reinheit mit ihrem „geistigen Auge“ zu sehen. John Norton hat herauf mit einer detaillierten argumentativen Rekonstruktion geantwortet. Ein entscheidender Nachteil von Nortons Darstellung ist aber, dass sie mit Konzepten wie jenem einer streng monoton steigenden Funktion Terme enthält, die zu Galileis Zeiten noch mathematische Zukunftsmusik waren.

Eine Erklärung der konstruktiven Rechtfertigungskraft von Galileis Turmexperiment ist innerhalb der modernen Debatte um GEs zu so etwas wie einer philosophischen Nagelprobe geworden. Dies muss verwundern, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Galilei selbst dem Turmexperiment keine derartige Rechtfertigungsleistung abverlangt zu haben scheint: Nicht nur kenne ich keine einzige Textstelle, aus der unmissverständlich hervorgeht, dass das GE von Galilei als positive Rechtfertigung für das moderne Fallgesetz herangezogen wird. Ein genauerer Blick auf die Discorsi zeigt überdies, dass Galilei für die These, dass sich im Vakuum alle Objekte ungeachtet ihres Gewichts gleich schnell bewegen, ein vom Turmargument völlig unabhängiges Argument anbietet. [2] Galilei berichtet nämlich davon, das Fallverhalten von Objekten unterschiedlichen Gewichts in unterschiedlich dichten Medien beobachtet zu haben. Hierbei zeigt sich, dass die Differenzen in der Fallgeschwindigkeit mit abnehmender Dichte des Mediums geringer werden, was Galilei zur finalen Extrapolation veranlasst, dass in einem Medium ohne jene Dichte—also im Vakuum—die Differenzen zwischen den Fallgeschwindigkeiten unterschiedlich schwerer Körper gänzlich aufgehoben sind. Da diese Aussage mit dem modernen Galileischen Fallgesetz nun wirklich äquivalent ist, sehe ich hierin—und nicht im Turmexperiment—die positive Rechtfertigung für Galileis positive These.

Der analytischen Wissenschaftstheorie vor Thomas Kuhn ist nicht selten zum Vorwurf gemacht geworden, sich an einer bloßen Karikatur von Wissenschaft abgearbeitet und so an der Realität einzelwissenschaftlicher Forschung vorbeianalysiert zu haben. Hält meine Argumentation stand, so trifft etwas ganz Ähnliches auf weite Teile der modernen Debatte um GEs zu: Dass die Rechtfertigungskraft von GEs im Fokus steht, ist weniger der tatsächlichen Rolle von GEs in der Wissenschaftsgeschichte geschuldet, sondern der schon beinahe obsessiven Fixierheit auf propositionales Wissen, die nach wie vor weite Teile des philosophischen Mainstreams kennzeichnet. Diese thematische Engführung ist meiner Ansicht nach bedauerlich, weil sie alternative und möglicherweise gewinnbringendere Themen in den Hintergrund treten lässt. Eines dieser Themen hat beispielsweise mit der Fähigkeit von GEs zu tun, durch die Koordination zwischen abstrakten Begriffsrahmen und anschaulich-imaginierten Szenarien das Verstehen von Theorien entscheidend zu befördern. Wenn gezeigt werden kann, dass Verstehen ein ebenso relevantes wie auch irreduzibles epistemisches Ziel wissenschaftlichen Strebens darstellt, dann ergibt sich hier ein reiches Analysefeld, dem bislang innerhalb der modernen Wissenschaftstheorie zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde.


[1] Eine detaillierte Analyse von Einsteins Zugexperiment findet sich in: Harald A. Wiltsche (2019): „The Forever War. Thought Experiments, Science fiction, and Understanding“, in: Synthese, https://doi.org/10.1007/s11229-019-02306-6.

[2] Eine detaillierte Analyse dieses Experiments findet sich: Harald A. Wiltsche (2017): “Mechanics Lost. Husserl’s Galileo and Ihde’s Telescope”, in: Husserl Studies 33, 149-173.


Harald A. Wiltsche ist Professor für Philosophie an der Universität Linköping, Schweden. Er ist auch Recurring Visiting Researcher am Institute for Advanced Studies in Princeton und Projektleiter eines vom österreichischen Wissenschaftsfonds geförderten Projekts zur Wissenschaftstheorie Hermann Weyls. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Philosophie der Physik und Phänomenologie. Nähere Informationen zu seiner Arbeit finden sich auf www.haraldwiltsche.com.