Das Untote in Hegel: Warum wir über seinen Rassismus reden müssen
Von Daniel James (Düsseldorf) & Franz Knappik (Bergen)
Ob als Theoretiker der Anerkennung, der Freiheit, der Normativität, der staatlich eingegrenzten Märkte, der Logik oder der Kunst—das Erbe Hegels floriert derzeit im Inland wie im Ausland. Autor:innen in den unterschiedlichsten philosophischen Traditionen finden Inspiration in den Schriften Hegels, und selbst in der einst so geschichtsvergessenen analytischen Philosophie hat der Philosoph, dessen Geburtstag sich 2020 zum 250. Mal jährte, viele Verehrer. In den zahlreichen Beiträgen zum Hegel-Jahr lag der Schwerpunkt so zumeist auf Hegels Aktualität, auf dem „Lebenden in Hegels Philosophie“, wie es Benedetto Croce formuliert hatte. Warum auch sollte man sich heute noch mit dem „Toten“ in Hegels Denken beschäftigen, mit dem, wovon wir ohnehin wissen, dass es falsch ist?
Etwa mit Hegels berühmt-berüchtigter Deduktion der Zahl der Planeten (7, meinte Hegel)? Oder aber auch seiner Einschätzung der Bewohner des subsaharischen Afrika als „Kindernation, die aus der kindlichen Interessenlosigkeit nicht herausgehn“ und in einem Zustand „des höchsten Depotismus und der Grausamkeit“[i] leben? Seiner Behauptung, die „Inferiorität“ der indigenen Völker Amerikas gebe sich „physisch und geistig zu erkennen“[ii]? Seiner Einschätzung der Sklaverei in den europäischen Kolonien als „Stufe[…] der Zucht“[iii], durch die die Versklavten gebildet und zur Selbstbestimmung befähigt werden? Oder seiner Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus als Ausweg aus dem Armutsproblem der industriellen Revolution?
Sind nicht all dies längst überwundene Fehler, die man heute getrost übergehen kann, weil sie nicht das authentische, kritische, fortschrittliche Denken Hegels repräsentieren—Punkte, die marginal in seiner Philosophie sind, Punkte, in denen Hegel nur ein Kind seiner Zeit mit ihren Irrtümern und Vorurteilen war, noch dazu Punkte, die einer gesicherten philologischen Basis entbehren, da fragliche Passagen zumeist aus Kompilationen und Vorlesungsnachschriften stammen?
In der deutschsprachigen Hegel-Forschung zumindest schien man gemeinhin keinen besonderen Bedarf zu sehen für eine Debatte über rassistisches und pro-kolonialistisches Denken bei Hegel im Jubiläumsjahr 2020—dem Jahr also, in dem die Black Lives Matter-Bewegung und die durch sie ausgelöste Diskussion über strukturellen Rassismus breite öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland erlangte, dem Jahr auch, in dem Feuilletonartikel und eine prominent besetzte Vortragsreihe den Rassismus Immanuel Kants unter die Lupe nahmen. Im Falle Hegels ging zwar die Nachricht von einer Rassismus-Debatte unter Philosoph:innen durch die Presse, doch diese bestand im Wesentlichen aus einem kurzen Schlagabtausch ganz am Ende einer Stuttgarter Podiumsdiskussion anlässlich der Eröffnung des Museums Hegel-Haus. Der Behauptung Klaus Viewegs, Rassismus-Vorwürfe gegen Hegel seien „absurd“, widersprach Dina Emundts ganz zu Recht, und Axel Honneth räumte ein, es gebe bei Hegel „heute horrende klingende Stellen“. Vieweg verteidigte seine Haltung im Anschluss noch in zwei schriftlichen Stellungnahmen, die von den jeweiligen Herausgebern mit irreführenden Behauptungen dahingehend versehen wurden, es sei jüngst eine „Debatte“ zu Hegels Rassismus „entflammt[…]“ (Philosophie-Magazin), und „der Zeitgeist der Cancel Culture“ habe auch „vor Hegel nicht halt“ gemacht (Die Welt). Vier Minuten mündlicher Diskussion und zwei kurze, höchst einseitige Artikel—soll das bereits die „Debatte“ gewesen sein, die diese Themen seitens der akademischen Philosophie in Deutschland verdient haben? Dass eine Debatte auf diesem Gebiet gerade nicht „entflammte“, sondern ausblieb, kann auch nicht nur der Feierlaune im Geburtstagsjahr geschuldet sein: Anders als etwa in der angelsächsischen Forschung, wo Autor:innen wie Alison Stone, Robert Bernasconi, Susan Buck-Morss und Teshale Tibebu eine Reihe wichtiger Beiträge zu rassistischem und pro-kolonialistischem Denken bei Hegel vorgelegt haben, sind diese Themen in der philosophischen Forschung wie auch Lehre zu Hegel im deutschsprachigen Raum seit jeher kaum vertreten.
Es ist aber längst überfällig, dass sich dies ändert. Die oben genannten, gängigen Gründe dafür, eine Auseinandersetzung mit rassistischen und pro-kolonialistischen Elementen bei Hegel zu vermeiden, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Abwehrreflexe, die zu kurz greifen. Was den historischen Kontext angeht, so war Hegel durchaus auch mit Kritikern von Rassismus und kolonialer Sklaverei vertraut, und wie der bereits erwähnte britische Philosophiehistoriker Roberto Bernasconi in minuziöser Quellenarbeit nachweisen konnte, verzerrte und übertrieb Hegel in seinen Vorlesungen über außereuropäische Kulturen aktiv seine Quellen—er war also nicht nur ein passives Opfer des Vorurteils seiner Zeit. Und hinsichtlich der Quellenlage finden sich einschlägige Passagen auch in den von Hegel selbst veröffentlichten Texten—so die Annahme verschiedener nationaler „Lokalgeister“ mit je unterschiedlicher „Befähigung des intelligenten und sittlichen Charakters der Völker“ in §394 der Berliner Enzyklopädie; die Apologie des Kolonialismus in §§248 und 351 der Rechtsphilosophie; und eine höchst ambivalente Diskussion der Sklaverei in §57 ebenda. Weiter ausgeführt ist all dies in untereinander konvergierenden Passagen aus Vorlesungsnachschriften verschiedener Studenten aus verschiedenen Semestern in Hegels Berliner Zeit (1818-1831), die in den letzten Jahren vorbildlich ediert wurden.
Darüber hinaus ist es aber auch höchst zweifelhaft, ob rassistisches und pro-kolonialistisches Gedankengut im Hegelschen Werk tatsächlich eine so periphere Rolle spielt wie mancherlei andere „tote“ Elemente, etwa die erwähnten Spekulationen zur Anzahl der Planeten. Sobald man etwas genauer hinsieht, finden sich nämlich zahlreiche Querverbindungen zu anderen, anerkanntermaßen wichtigen Teilen von Hegels Philosophie—wie es eigentlich auch nicht anders zu erwarten ist, wenn ein so systematischer Denker wie Hegel Stellung zu brisanten politischen und moralischen Streitsachen seiner Zeit nimmt wie dem europäischen Kolonialismus und der kolonialen Sklaverei.
Da ist zum Beispiel Hegels Theorie des Eigentums. Hegels Rechtsphilosophie zufolge kommen Eigentumsrechte dadurch zustande, dass wir uns gegenseitig die Befugnis einräumen, Sachen in Besitz zu nehmen, zu gebrauchen oder zu veräußern—und also wechselseitig als Eigentümer dieser Sachen anerkennen. Dies gilt sowohl für Dinge—etwa ein Stück Land—als auch für uns selbst: Nach Hegel werden ein Körper und ein Geist erst dadurch mein Körper und mein Geist, dass ich sie trainiere und bilde. Nun sind aber für Hegel sowohl die gegenseitige Anerkennung als Eigentümer als auch der für Eigentum erforderliche Bildungsprozess kollektive, welthistorische Errungenschaften. Wo ganze Völker aufgrund mangelnder „Befähigung des intelligenten und sittlichen Charakters“ von der Geschichte ausgeschlossen bleiben—wie es Hegels Geschichtsphilosophie zufolge der Fall für die indigenen Völker Amerikas, Australiens und des subsaharischen Afrika ist—, werden Menschen nie von sich aus zu Eigentümern, weder über sich selbst noch über Sachen. Das erklärt zum einen, weshalb Hegel in seiner Diskussion des europäischen Kolonialismus nicht einmal ansatzweise die von anderen Theoretikern schon seit dem 16. Jahrhundert diskutierte Frage aufwirft, ob die europäischen Siedler nicht gegen die Eigentumsrechte indigener Völker verstoßen. Zum anderen bilden diese Aspekte von Hegels Rechtsphilosophie den unmittelbaren Kontext für seine ambivalente Stellungnahme zur Sklaverei in §57 desselben Textes. Während Hegel die Sklaverei an sich als Unrecht betrachtet, da der Mensch seinem Wesen nach frei sei, gibt er den Antiabolitionisten doch in Bezug auf den Menschen „als Naturwesen“ durchaus Recht. Wie in Hegels Vorlesungen deutlich wird, versteht er darunter nicht zuletzt die Bewohner Afrikas, die Hegel zufolge ohnehin schon auf ihrem Heimatkontinent in gegenseitiger Sklaverei leben. Von der Versklavung durch Europäer können sie nur profitieren, so Hegel, da sie hierdurch in einer Weise erzogen werden, die sie allererst von „Kindern“ zu mündigen Rechtspersonen und nicht zuletzt zu Eigentümern ihrer selbst mache. Die Sklaverei müsse zwar letztlich überwunden werden, so Hegel, dürfe aber keinesfalls gleich abschafft werden: „dadurch entstehen die fürchterlichsten Folgen“[iv] (so Hegel laut Adolf Heimanns Nachschrift der Geschichtsphilosophie aus dem Wintersemester 1830/31, die der Herausgeber—kein geringerer als der bereits erwähnte Klaus Vieweg—„mit aller gebotenen Vorsicht“ als „sehr gute Wiedergabe der Hegelschen Vorträge“[v] einschätzt). Vielmehr müsse man den versklavten Menschen erst „die Freiheit durch die Bändigung des Naturells“ „anerziehen“[vi].
Freiheit als Resultat eines Bildungsprozesses—das ist ein weiteres zentrales Thema in Hegels Philosophie, das systematisch eng mit seinen Auffassungen zu Rasse, Sklaverei und Kolonialismus zusammenhängt. Hegel sieht bekanntlich die ganze Weltgeschichte als einen solchen Bildungsprozess, einen „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, in dem wir nach und nach verstehen, dass wir frei sind, und in die Lage kommen, diese Freiheit auszuüben, indem wir als vernünftige selbstbestimmte Wesen agieren, statt nur unseren erstbesten Impulsen Folge zu leisten. Wie die Fähigkeit zum Eigentum muss auch dieses Freiheitsbewusstsein samt ihm angemessener sozialer Institutionen mühsam im Lauf der Geschichte errungen werden und ist daher ebenfalls durch die „Befähigung“ der jeweiligen „Lokalgeister“ bedingt. Die Weltgeschichte besteht daher für Hegel in einer Abfolge von räumlich und ethnisch verschiedenen Zivilisationen, die jeweils in der Periode ihrer Blüte das zu dieser Zeit am weitesten entwickelte Freiheitsbewusstsein mitsamt entsprechender Institutionen besitzen—China, Indien, Persien, Griechenland, Rom, und zuletzt die christlich-europäische („germanische“) Kultur. Menschen anderer Völker und Kulturen dagegen bleiben dieser hierarchischen, eurozentrischen Konzeption zu Folge aus der Geschichte ganz ausgeschlossen. Sie sind zwar qua Menschen eigentlich ebenfalls zur Freiheit berufen, können aber nicht von sich aus ein entsprechendes Selbstverständnis entwickeln und sozial realisieren. Um daher Bewusstsein und Wirklichkeit der Freiheit zu erhalten, sind sie darauf angewiesen, dass andere, sprich: Europäer, sie zur Freiheit erziehen. Seine Freiheitskonzeption verschafft Hegel so eine weitere Strategie zur Rechtfertigung des Kolonialismus: Die Sklaverei als angeblich disziplinierende und bildende Institution, die Unterdrückung indigener Kulturen mit ihrem mangelnden Freiheitsverständnis, die christliche Missionierung, die Hegel dafür lobt, dass sie indigene Erwachsene wie Kinder behandle—all dies sind aus der (an Zynismus kaum zu überbietenden) Sicht Hegels Voraussetzungen dafür, dass wirklich alle Menschen frei werden können.
Die Deutung von Knechtschaft als Instrument der Befreiung spannt schließlich einen weiteren Bogen innerhalb von Hegels Schaffen, nämlich zur Phänomenologie des Geistes von 1807. Das Verhältnis von Herr und Knecht, das Hegel im wohl berühmtesten Kapitel dieses Werkes beschreibt, trägt ebenfalls zur Bildung und Emanzipation des Knechtes bei und resultiert seinerseits aus einem Kampf um Leben und Tod, in dem der spätere Knecht aus Furcht um sein Leben nachgibt. Auf diesen Zusammenhang verweist Hegel später, wenn er die Sklaverei auch durch die Behauptung rechtfertigt, die Sklaven hätten implizit in die Versklavung eingewillt. Wie es dazu u.a. in Heinrich Gustav Hothos Nachschrift der Rechtsphilosophie aus dem Wintersemester 1822/23 heißt: „[W]enn der Mensch ein Sclave ist, ist es sein Wille; denn er braucht es nicht; er kann sich tödten“[vii]. Vor dem Hintergrund derartiger späterer Texte kann die Herr-Knecht-Dialektik von 1807 plötzlich in viel weniger vorteilhaftem Licht erscheinen, als sie es gewöhnlich tut—nämlich als apologetische Darstellung einer Form der Unterdrückung, die sowohl durch die Feigheit und Borniertheit des Knechts gerechtfertigt ist als auch durch die geistigen Vorteile, die sie ihm angeblich gewährt.
Hegels Theorie des Rechts, der Bildung, der Freiheit, die Herr-Knecht-Dialektik—all dies sind „lebende“ Elemente in seinem Denken, die vielen Philosoph:innen aus guten Gründen als Inspirationsquelle gedient haben und noch dienen. Wir haben versucht, ansatzweise plausibel zu machen, dass Hegels Rassismus und Verteidigung des Kolonialismus, statt nur eine Fußnote zum System zu sein, in engem Zusammenhang mit diesen Elementen stehen (und es ließen sich weitere Beispiele anführen). Ein besseres Verständnis solcher noch wenig erforschten Zusammenhänge bei einem der wirkmächtigsten Denker der modernen Philosophie könnte wichtige Aufschlüsse darüber geben, wie genau rassistische und pro-kolonialistische Denkmuster ihren verheerenden und bis heute anhaltenden Einfluss in der europäischen Geistesgeschichte entfalten konnten. Und nicht zuletzt läuft ohne ein solches Verständnis die philosophische Hegel-Rezeption Gefahr, sich unter der Hand höchst unerwünschte Implikationen scheinbar emanzipatorischer Lehrstücken einzuhandeln.
Mit all dem stellen wir weder in Abrede, dass die Beschäftigung mit Hegel auch heute philosophisch überaus lohnend sein kann, auch und gerade im Kontext von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, noch sind wir der Meinung, dass die Hegel-Forschung nur noch die Schattenseiten in seiner Philosophie erkunden sollte. Wir sind uns auch nur allzu gut dessen bewusst, dass die Textstellen, auf die wir uns beziehen, viele Deutungsfragen aufwerfen. Wir plädieren lediglich dafür, dass die philosophische Auseinandersetzung mit Hegel im deutschsprachigen Raum—in der Forschung, aber auch in der Lehre—nicht länger einen weiten Bogen um Hegels wohldokumentierte rassistische und pro-kolonialistische Äußerungen sowie um Fragen zu deren historischem und systematischem Kontext machen sollte. Denn wie der Schatten mit dem Licht der Aufklärung im Allgemeinen, hängen diese Themen mit dem Lebenden in Hegels Philosophie enger zusammen, als uns lieb ist: Sie sind das Untote in seinem Denken, das uns umso mehr heimsucht, je mehr wir es totzuschweigen versuchen.
Daniel James ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Universität Düsseldorf: Daniel James (hhu.de)) und Geschäftsführer des Düsseldorf Institut for Philosophy of Public Affairs (Universität Düsseldorf: Düsseldorf Institute for Philosophy of Public Affairs (hhu.de)). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der klassischen deutschen Philosophie, der Sozialphilosophie und der Philosophie der Sozialwissenschaften.
Franz Knappik ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Bergen (Norwegen) (Homepage). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Klassische deutsche Philosophie, Philosophie des Geistes/der Psychologie und Sozialphilosophie.
[i] Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. Nachschrift Hotho, 1822. Hg. Christoph Johannes Bauer. In: G.W.F. Hegel. Gesammelte Werke. Hg. Nordrein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste. Bd. 25.1. Felix Meiner: Hamburg, 2008, 35.
[ii] G.W.F. Hegel. Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann (Winter 1830/1831). Hg. Klaus Vieweg. München: Wilhelm Fink, 2005, 59.
[iii] Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. Nachschrift Hotho, 1822, a.a.O., 115.
[iv] Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann (Winter 1830/1831), a.a.O, 70.
[v] Ebd., 26.
[vi] Ebd., 70.
[vii] Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Nachschrift Hotho, 1822/23. Hg. Klaus Grotsch. In: G.W.F. Hegel. Gesammelte Werke. Hg. Nordrein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste. Bd. 26.2. Felix Meiner: Hamburg, 2015, 822f.