Interview mit Eve-Marie Engels

Eve-Marie Engels war bis zu ihrem Ruhestand Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften an der Fakultät für Biologie der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.


Wieso wollten Sie Philosophin werden?

Das Fach Philosophie hat mich bereits in der Schule begeistert, weil Philosophie mit Fragen und Problemen zu tun hat, die nicht durch reine Kenntnis von Fakten lösbar sind, sondern eine tiefer gehende Reflexion erfordern, die auch Selbstverständliches in Frage stellt. Die Möglichkeit des Philosophieunterrichts in der Schule kam meiner bereits erwähnten Neigung entgegen. Auch den Religionsunterricht habe ich als spannend erlebt. Allerdings habe ich die Schule insgesamt sehr gern auch noch wegen anderer Fächer besucht.

Ich habe mein Studium 1969, also ein Jahr nach der 1968er Studentenbewegung, begonnen. Das Philosophiestudium war zu meiner Studienzeit weitaus weniger strukturiert als heute. Dies kann Vor- und Nachteile haben. Ein Vorteil waren die größeren Freiheitsspielräume bei der thematischen Wahl der Lehrveranstaltungen. Dieser Vorteil hätte sich jedoch auch nachteilig auswirken können, weil die Verantwortung für die Wahl der Studieninhalte hauptsächlich bei den Studierenden selbst lag. Rückblickend kann ich feststellen, dass mir diese Freiheit nicht geschadet hat, sondern mich in meiner Selbständigkeit gefördert hat. Ein Leben ganz ohne Philosophie kann ich mir für mich nicht vorstellen. Wenn ich in den Schuldienst gegangen wäre, statt an der Universität zu bleiben, wäre ich auch Philosophin geworden, da ich dieses Fach aus Liebe zur Philosophie studiert habe. Ich bin jedoch nicht nur Philosophin, sondern arbeite seit 1976 an der Schnittstelle von Philosophie und Biologie (siehe meine Antwort auf Frage 4).

Wie haben Sie Ihre Postdoc-Phase erlebt?

Als Postdoc war ich in Deutschland an der Ruhr-Universität Bochum tätig, wo ich mich 1988 in Philosophie habilitiert habe. Danach nahm ich von 1989 bis 1991 Lehrstuhlvertretungen und Vertretungsprofessuren an den Universitäten Bielefeld, Göttingen und Hamburg wahr. Als Heisenberg-Stipendiatin der DFG verbrachte ich 1992 einen Forschungsaufenthalt am Center for the Study of Science in Society der Virginia Tech in Blacksburg/Virginia, USA, wo einschlägig ausgewiesene und international bekannte PhilosophInnen der Biologie wirkten (Marjorie Grene, Richard Burian). Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem amerikanischen und unserem Universitätssystem ist das strukturierte Ausbildungsprogramm, an dem amerikanische DoktorandInnen teilzunehmen haben. In Deutschland werden Graduiertenkollegs jeweils von einer ProfessorInnengruppe bei Förderinstitutionen, wie der DFG, beantragt und durchlaufen ein strenges Prüfverfahren. Ausbildungsprogramme von DoktorandInnen sind bei uns jedoch kein fest etablierter Bestandteil des Universitätssystems.

Welche Erlebnisse während ihres Studiums oder am Beginn Ihrer Laufbahn haben Sie besonders geprägt?

In meiner philosophischen Examensarbeit Zur anthropologischen Grundlegung einer Theorie der Institutionen (Bochum 1975) befasste ich mich mit der anthropo-biologischen Grundlegung einer Theorie der Institutionen bei Arnold Gehlen, einem konservativen Befürworter starker und rigider Institutionen, und der Kritik seiner Position durch Jürgen Habermas. Der Betreuer meiner Arbeit war der Wissenschaftstheoretiker Prof. Dr. Gerard Radnitzky, dessen studentische Hilfskraft ich war und dem ich die Anregung zur Beschäftigung mit diesem Thema verdanke. Ein Jahr nach meinem Ersten Staatsexamen an der Ruhr-Universität Bochum trat ich einen zweisemestrigen Forschungsaufenthalt an der State University of New York at Stony Brook an. Dort entwickelte sich das Thema meiner Dissertation gleichsam „organisch“ durch die Dynamik meiner Gedanken und Fragen. Mir erschien die selbstverständliche Verwendung einer teleologischen Sprache, d.h. der Begriffe „Ziel“ und „Zweck“,  in jenen Kontexten philosophisch besonders interessant, wo kein zwecksetzendes menschliches Subjekt vorausgesetzt werden kann, wie dies bei der Entstehung und Selbsterhaltung von Organismen als Individuen und Arten der Fall ist. So kam ich aus Neugier zum Thema meiner Dissertation, der Teleologie des Lebendigen (Berlin: Duncker & Humboldt 1982) und damit zur Philosophie der Biologie. Nach meiner Promotion in Philosophie (Betreuer Prof. Dr. Gert König, Prof. Dr. Elmar Holenstein) studierte ich neben meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin von Prof. Dr. Gert König, Gerard Radnitzkys Nachfolger, einige Semester Biologie. Zu dieser Zeit trat zunehmend ein weiteres interdisziplinäres Thema an der Schnittstelle von Philosophie und Biologie in den Vordergrund, die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die zum Gegenstand meiner Habilitationsschrift Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolutionären Erkenntnistheorie (Frankfurt: Suhrkamp 1989) wurde. Letztlich sind die damit verbundenen Fragen auch der Ursprung meiner Beschäftigung mit der Abstammungstheorie von Charles Darwin, den ich nicht nur in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler, sondern auch als Person zunehmend schätzen lernte. In meiner Habilitationsschrift befasste ich mich mit Darwins metaphysischen Notizbüchern. Für den Beck Verlag verfasste ich in der Reihe „Denker“, in der große Philosophen vorgestellt werden (Aristoteles, Augustinus, Hume, Kant, Rawls u.a.), meine Monografie Charles Darwin (München: C. H. Beck 2007).

Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Unterschiede zwischen der heutigen und ihrer Generation von PhilosophiestudentInnen?

Das Studium ist heute, insbesondere seit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge, stärker strukturiert als zur Zeit meines Philosophiestudiums (1969-1975). Die Mentalität der Studierenden ist heute anders.

Was macht Ihnen in Ihrem beruflichen Alltag am meisten Freude, was ärgert sie?

Die Interaktion mit den Studierenden und ihre Betreuung macht mir große Freude. Die Möglichkeit, junge Menschen eine Zeitlang auf ihrem Lebensweg zu begleiten und dabei unterstützend wirken zu können, Türen zu öffnen, ist für mich etwas zutiefst Befriedigendes. Korrekturarbeiten von Klausuren und Hausarbeiten sind weniger interessant, sie bilden jedoch einen unverzichtbaren und unvermeidbaren Bestandteil meines Berufs. Dasselbe gilt für Gremiensitzungen.

Welchen Ratschlag würden Sie Studierenden und KollegInnen am Anfang ihrer Karriere geben?

 Ich empfehle ihnen eine gewisse Gelassenheit. Damit sind nicht Oberflächlichkeit oder Phlegmatismus gemeint, sondern bei gewissenhaftem Engagement in Studium und Beruf die Freundlichkeit gegenüber sich selbst und den Respekt vor den eigenen Leistungen nicht zu vergessen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Philosophie im deutschsprachigen Raum?

Ich begrüße es, dass sich die Philosophie, vor allem auch unter dem Druck der Einführung immer neuer Biotechniken in die Lebenswissenschaften, handfesten praktischen Fragen geöffnet hat. Allerdings sollte sich dies auch noch stärker institutionell durch die Einrichtung entsprechender Lehrstühle bemerkbar machen. Die Universität Tübingen nimmt mit der Institutionalisierung der Ethik in den Wissenschaften durch die Einrichtung eines Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften in der Fakultät für Biologie, den ich von 1996 bis zu meiner Pensionierung zum 1. Oktober 2017 inne hatte, und eines Lehrstuhls für Ethik in der Medizin in der Medizinischen Fakultät sowie mit der Gründung eines Interdisziplinären und inzwischen Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften eine Vorreiterrolle ein. Die Etablierung der Ethik in den Biowissenschaften ging aus einer Initiative seitens der Biologie selbst hervor. 1985 sprach sich der Mikrobiologe Prof. Dr. Hans Zähner gegenüber der Landesregierung von Baden-Württemberg sowie innerhalb der Universität Tübingen dezidiert für die Notwendigkeit der Institutionalisierung einer Wissenschaftsethik aus. Fragen der Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers/der einzelnen Wissenschaftlerin und der Institution Wissenschaft sollten nach Hans Zähner auch innerhalb der Universität gründlich und wissenschaftlich diskutiert und behandelt werden. Dies sollte in jenen Fächern geschehen, von denen die brisantesten ethischen Herausforderungen ergingen, Biologie und Medizin. So wurde 1986 die Forschungsstelle „Ethik in den Naturwissenschaften“ gegründet, aus der sich das heutige Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) entwickelte, in dem alle Fakultäten der Universität vertreten sind. Ich war von 2001 an zehn Jahre lang Sprecherin des IZEW. Auch war ich Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Bioethik – zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken“ während dessen gesamter Laufzeit (2004-2013).  

Welche Rolle kann/soll Philosophie in der Öffentlichkeit heute spielen?

Philosophie/Ethik soll ein Reflexionsmedium sein, das die von neuen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik für den Menschen, andere Lebewesen und Ökosysteme ergehenden Herausforderungen diagnostiziert und das sich sachlich, ausgewogen und engagiert damit auseinandersetzt. Philosophie/Ethik hat sich einzumischen, insbesondere, wenn wir mit technischen Herausforderungen konfrontiert werden, die langfristige und nachhaltige Wirkungen haben können.

Was macht gute Philosophie aus, und was macht eine/n gute/n PhilosophIn aus?

Gute Philosophie und eine gute Philosophin/ein guter Philosoph sind offen für die Auseinandersetzung mit und für kritische Reflexion von neuen Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft. Dabei ist auch ein besonderes Augenmerk auf den Schutz der Biodiversität zu richten, der Tiere, Pflanzen und Ökosysteme. Und dies nicht nur um des Menschen willen, sondern um dieser Schutzgüter selbst willen. Eine Anthropozentrik, d.h. die Annahme, dass nur der Mensch um seiner selbst willen schützenwert ist, und eine Pathozentrik, d.h. die Annahme, dass nur alle leidensfähigen Lebewesen um ihrer selbst willen schützenswert sind, genügen nicht. Sachlich angemessen und nachhaltig notwendig ist mindestens eine Biozentrik, nach der alle Lebewesen um ihrer selbst willen schützenswert sind, also auch Pflanzen. Denn auch sie streben nach Selbsterhaltung und Wohlbefinden. Physiozentriker oder auch Holisten gehen darüber hinaus und vertreten die Schutzwürdigkeit der gesamten, also auch der unbelebten Natur um ihrer selbst willen.

Gibt es Bücher/Aufsätze die Ihrer Meinung nach jede/r PhilosophIn gelesen haben sollte und warum?

Jede/r PhilosophIn sollte Grundwerke der Klassiker verschiedener Positionen und ethischer Richtungen kennen und darüber hinaus mit den verschiedenen Grundpositionen der Philosophie und Bioethik und ihren einschlägigen Autoren vertraut sein. Die Kenntnis unterschiedlicher Positionen ist für die Möglichkeit der Abwägung von Argumenten und damit für die eigene Urteilsbildung unerlässlich.

Was machen Sie (am liebsten) wenn Sie nicht Philosophie betreiben? Was bedeutet Philosophie für ihr eigenes Leben abseits von Forschung und Lehre?

Ich treibe Sport, Schwimmen und Fahrradfahren sind meine bevorzugten Sportarten. Beim Fahrradfahren in der freien Natur erlebe ich diese zu den verschiedenen Jahreszeiten. Schwimmen ist für mich ein idealer Ausgleich zu der vorwiegend sitzenden Tätigkeit am Schreibtisch. Philosophie – auch abseits von Forschung und Lehre – beinhaltet für mich die Einnahme einer Lebenseinstellung des Respekts und der Rücksichtnahme, die nicht nur den Menschen, sondern auch alle anderen Lebewesen und die Natur einschließt.