27 Mai

Was, wenn andere nichts tun? Eine Replik auf Rudolf Schüßler

Von Christian Baatz (Kiel) und Felix Pinkert (Wien)


In seinem aktuellen Beitrag zur Klimakrise stellt Rudolf Schüßler eine unbequeme Frage: Hat Deutschland bzw. die EU auch dann die moralische Pflicht, Treibhausgas-Emissionen erheblich zu reduzieren, wenn die Mehrzahl anderer großer Emittenten dies nicht tut?

Schüßler stellt zunächst klar, dass Industrieländer wie Deutschland (und auch die EU als Ganzes) aufgrund gegenwärtiger und vergangener hoher pro-Kopf Emissionen und größerer finanzieller Leistungsfähigkeit einen größeren Anteil der Klimaschutzlasten tragen sollen. Ziel der Emissionsreduktion sei es, die globaler Erwärmung auf 1,5-2°C zu begrenzen. Dieses Ziel könne – wenn überhaupt – nur erreich werden, wenn alle anderen großen Emittenten, einschließlich bevölkerungsreicher Schwellenländer, ebenfalls wirksamen Klimaschutz implementierten. Schüßler zeigt sich skeptisch, dass dies geschieht, und ein Blick auf die globale politische Lage mag seinen Pessimismus bekräftigen. Ohne hinreichende Kooperation hätte deutscher/europäischer Klimaschutz aber „kaum mehr als symbolische Bedeutung“. Er wäre womöglich beeindruckend, könnte gemäß einer folgenorientierten Ethik aber keine Pflicht sein. Als Analogie verweist Schüßler auf ein Dorf, das einer übermächtigen Armee gegenübersteht. Die vorhandenen Krieger hätten kaum die Pflicht, sich sinnlos zu opfern. Es stünde ihnen vielmehr frei, mit den anderen Dorfbewohner*innen zu fliehen. In der Klimakrise ist Nichtstun „dennoch keine Alternative, deshalb gilt es nicht zuletzt auf klassische Instrumente zu setzen, die rationale Erwartungen hinsichtlich der Kooperation von Staaten begründen.“

Daraus schlussfolgert Schüßler, dass Deutschland oder die EU so lange nicht verpflichtet sind, Emissionen zu reduzieren, bis ein verbindliches Abkommen mit wesentlichen Emittenten abgeschlossen ist. Solche Abkommen anzustreben sei jedoch sehr wohl moralische Pflicht.

Ein erster Einwand gegen Schüßlers Position ist, dass „rationale Erwartungen hinsichtlich Kooperation“ und entsprechender Raum für verbindliche ambitionierte Klimaabkommen hier vor allem durch eine Maßnahme erzeugt werden können: einseitige Emissionsreduktionen derjenigen, die das Problem maßgeblich mit verursacht haben. Schüßler ist skeptisch, dass solche Reduktionen als Vorbild für andere Länder wirken können. Zu skeptisch – denn das Verweigern von „first moves“, z.B. der USA und anderer Industriestaaten, wird immer wieder als ein erheblicher Grund für das bisherige Scheitern des internationalen Klimaschutzes angeführt. Will die EU das von Schüßler avisierte Klimaabkommen unter Einbezug der Schwellen- und Entwicklungsländer schließen, wird sie an zunächst unilaterale Emissionsreduktionen als Kooperationssignal wohl nicht vorbeikommen.

Schüßlers Position ist hierzu auch nicht vollends klar, denn in seinen Schlussworten lobt er den Vorschlag Ursula von der Leyens „Einfuhrzölle für nicht klimagerecht produzierte Güter zu erheben“. Solche Zölle ergeben aber nur Sinn in Kombination mit EU-weiten Emissionsreduktionen, denn sie sollen ja die heimische, klimafreundlicher produzierende Industrie vor einem Wettbewerbsnachteil gegenüber extern hergestellten Produkten schützen.

Ein zweiter Einwand gegen Schüßlers Argument bezieht sich auf seine Schlussfolgerung aus der Annahme, dass sich Pflichten ändern können, wenn sich andere nicht so verhalten, wie sie es tun sollen. Wir akzeptierten die Annahme; aus ihr folgt unseres Erachtens aber keinesfalls, dass es in der aktuellen Klimakrise nur die Pflicht gibt, sich um ein kooperatives Vorgehen zu bemühen. Diesen Argumentationsfehler wollen wir im Folgenden aufzeigen, indem wir zwei Punkte ansprechen.

Schüßlers Argument enthält die implizite Annahme, dass Emissionsreduktionen letztlich nur dazu dienen, die globale Erwärmung auf 1,5-2°C zu begrenzen. Kann dieses Ziel nicht erreicht werden, sind die Reduktionen mehr oder minder wertlos. Erstens lässt sich aber selbst unter dieser Annahme plausibel begründen, dass die EU (bzw. Deutschland) auch unabhängig vom obigen Kooperationsargument Reduktionspflichten hat. Dahingehende Intuitionen werden geweckt, wenn man Schüßlers Dorf-Beispiel, in dem die kriegsfähigen Dorfbewohner nichts mit den Angreifern zu tun haben, in keiner Weise von dem Angriff profitieren, und im Falle einer Verteidigung ihr Leben aufs Spiel setzen, modifiziert. Die Analogie kommt dem Klimawandel, näher, wenn man sich Unternehmer vorstellt, welche die Angreifer mit Waffen oder Proviant beliefern. Sie unterstützen die Angreifer, weil ihnen das Schicksal der Dorfbewohner*innen weniger wichtig als ihr Gewinn ist. Aber keine der Unternehmer allein kann die Angreifer aufhalten, denn für jede Waffe oder jeden Proviant, den ein Unternehmer nicht verkauft, verkauft ein anderer entsprechend mehr. Das Handeln eines einzelnen Unternehmers kann das moralisch verwerfliche Ergebnis, den Angriff auf das Dorf, also nicht abwenden.

Das Analogon zu andauernd hohen Emissionen ist das andauernde Profitieren vom Krieg, das Analogon zu unilateralen Emissionsreduktionen ist, unilateral das Geschäft einzustellen. Hier ist nun, im Gegensatz zu Schüßlers ursprünglicher Analogie, weit weniger plausibel, dass ein gegebener einzelner Unternehmer keine moralische Pflicht hat, sein Geschäft einzustellen, nur weil es das Dorf doch nicht rettet. Ebenso wie bei Emissionen von Industrienationen profitiert der Unternehmer vom kollektiv angerichteten Unrecht. Und ebenso wie bei Industrienationen, und im Kontrast zu den wehrfähigen Männern im Dorf, riskiert der Unternehmer nicht Leib und Leben, wenn er sein Geschäft einstellt (und sich, nehmen wir an, einer zwar weniger lukrativen aber doch hinreichend profitablen Beschäftigung zuwendet). Das Verhalten des Unternehmers ist moralisch höchst problematisch, und es ist plausibel, dass er moralisch verpflichtet ist, sein Geschäft einzustellen, egal, ob andere das auch tun.

Diese Intuition lässt sich zudem im Rahmen von verschieden Moraltheorien bestätigen: Tugend- wie Pflichtenethiker*innen können das bewusste und vermeidbare Nutznießen aus einem moralischen Unrecht kritisieren. Und obgleich konsequentialistische Ethiken, also Folgenethiken, zunächst Schwierigkeiten hat mit Situationen, in denen die Handlungen Einzelner keine moralisch relevanten Folgen zu haben scheinen, so gibt es eine aktuelle und umtriebige Diskussion, wie auch eine Folgenethik die Intuition bestätigen kann, dass Mitwirken an einem moralischen Unrecht falsch ist. Hier wird u.a. mit verschiedenen Konzepten des kausalen Beitrags argumentiert, z.B. dem Konzept des notwendigen Beitrags zu einer hinreichenden Bedingung für eine Folge, oder mit Konzepten wie kontrafaktischem kausalen Beitrag.

Den ersten Punkt zusammengefasst: Durch ein der Klimakrise ähnlicherem Beispiel als Schüßlers Dorfbewohner*innen wird viel plausibler, dass Deutschland und die EU Pflichten haben können, ihre Emissionen zu reduzieren – auch wenn dies das Verfehlen des 2°-Ziels nicht verhindert und das Erreichen dieses Zieles alles ist, wozu Emissionsreduktionen dienen können. Und solche Pflichten lassen sich auch jenseits von Analogien durch gängige moraltheoretische Überlegungen begründen.

Zweitens ist Schüßlers Annahme, dass Emissionsreduktionen nur der Erreichung des 2°-Ziels dienen, schlichtweg falsch. Grundsätzlich gilt: 2°C ist besser als 2,5°C, ist besser als 3°C usw. Selbst wenn globale Kippunkte bei einer Erwärmung von 2,1°C überschritten werden, was derzeit niemand weiß, lauern danach weitere klimatische Schwellenwerte, graduelle und chaotische Prozesse, die es zu vermeiden gilt, will man Leid minimieren. Jenseits der 2° ist eben nicht alles egal. Schüßlers Argument basiert aber eben genau auf der irrigen impliziten Annahme, dass die Emissionen Deutschlands bzw. der EU keinen Einfluss auf die Stärke des Klimawandels haben, wenn der 2°-Schwellenwert ohnehin überschritten werden wird.

Übrigens gibt es unter folgenorientierten Ethiker*innen eine intensive Debatte, ob die Emissionen Einzelner sozum Klimawandel beitragen, dass sich daraus individuelle Reduktionspflichten ergeben. Die Mehrheit bejaht dies (z.B. John Broome). Aber auch prominente konsequentialistische Gegner einer solchen Pflicht würden wohl zustimmen, dass die Emissionen eines Landes der Größe Deutschlands, oder gar der EU, einen moralisch relevanten Unterschied machen und deswegen so weit wie möglich zu senken sind. 

Wenn man einschlägige Moraltheorien ganz „nüchtern“ und „emotionslos“ auf die aktuelle Situation bezieht, scheint sich insbesondere für Konsequentialist*innen eher eine Schüßler entgegengesetzte Position zu ergeben: kann man (Netto-)Emissionen überhaupt noch rechtfertigen, wenn sie das Risiko, Leben, Gesundheit, Eigentum oder das Staatsgebiet zu verlieren, für viele Millionen Menschen weiter erhöhen oder noch mehr Menschen dem Risiko aussetzen?

Um Schüßlers Argumentation zu Fall zu bringen, muss man sich diesem kontroversen Feld aber nicht widmen. Da auch jenseits des 2°-Zieles weitere Emissionen weiteres Leid verursachen werden, besteht auch dann eine Pflicht, Emissionen zu reduzieren, wenn abzusehen ist, dass das Ziel verfehlt wird. Wie weitreichend diese Pflicht ist, hängt on diversen normativen und deskriptiven Annahmen ab, die wir hier nicht diskutieren können. Mit pragmatischem Blick auf eine Welt mit fragmentarischem Klimaschutz halten wir Einführzölle wie Schüßler für ein geeignetes, eventuell sogar gebotenes, Instrument – vorausgesetzt, die EU (Deutschland) verteuert das Emittieren im Vergleich zu anderen Regionen entsprechend.


Christian Baatz lehrt und forscht am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ab Sommer 2020 leitet er eine BMBF-Nachwuchsgruppe zur Finanzierung von Anpassung an den Klimawandel.

Felix Pinkert ist tenure-track Assistenzprofessor am Institut für Philosophie der Universität Wien und leitet dort den Masterstudiengang Philosophy&Economics.