04 Mrz

Friedens- und Sicherheitslogik zusammen denken

von Michael Haspel (Erfurt)


Im Bereich der politischen Philosophie der internationalen Beziehungen ist schon länger zu beobachten, dass angesichts der weltpolitischen Verschiebungen, die insbesondere mit dem Aufstieg Chinas verbunden sind, (neo-)realistische Ansätze, die vor allem wirtschaftliche und geostrategischen Interessen fokussieren, Konjunktur haben. Sogenannte „liberale“ Ansätze, die auf die Verrechtlichung und Institutionalisierung von Konflikten setzen, sind entsprechend zunehmend in der Defensive. Der Angriff Russlands auf die Ukraine scheint dieser Entwicklung nun Recht zu geben.

Weder internationale Organisationen wie Vereinten Nationen (VN) und OSZE noch bilaterale diplomatische Beziehungen konnten Russland davon abhalten, das klassische Medium der liberalen Ansätze, nämlich das internationale Recht nicht nur zu brechen, sondern komplett zu ignorieren. Dabei ist besonders eklatant, dass nicht nur allgemeines Recht gebrochen wurde, sondern auch der völkerrechtliche Vertrag des Budapester Memorandums, in dem Russland als völkerrechtliches Subjekt explizit die Achtung der territorialen Integrität einer eigenständigen Ukraine im Zusammenhang mit deren nuklearer Abrüstung garantierte. Wenn ich recht sehe, hat Russland auch keine förmliche Erklärung bei den VN hinterlegt, wie dies sonst üblich ist.

Sowohl in der deutschen philosophischen als auch insbesondere theologischen Ethik wird das kantische Modell des Friedens durch Recht prominent vertreten. In der evangelischen theologischen Ethik wurde Kants eschatologische Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ dabei als systematische rezipiert, so dass manchmal reale politische Verhältnisse und wünschenswerte utopische Vorstellungen nicht immer hinreichend unterschieden werden. So wurde auch in der theologischen Friedensethik,  die Konfliktregelung durch internationales Recht betont und die Rechtsdurchsetzung (kontrafaktisch) exklusiv den VN zugeschrieben (siehe paradigmatisch: Die deutschen Bischöfe: Gerechter Frieden 2000 und EKD: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden Sorgen, 2007).

Seit Russlands Krieg gegen Georgien 2008 und die de facto-Annexion von Teilen der Ukraine 2014 sowie Chinas Weigerung 2016 den Schiedsspruch zu den Ansprüchen im Südchinesischen Meer anzuerkennen und den damit verbundenen expansiven Maßnahmen lässt sich erkennen, dass beide Mächte auf territoriale Expansion zielen und bereit sind, das internationale Recht zu brechen und die internationalen Organisationen zu missachten. Das Verhalten der USA bzw. der NATO mit Blick auf den Kosovo- und Irak-Krieg und die Überdehnung des Libyen-Mandats haben sicher auch zum Vertrauensverlust sowohl der westlichen Staaten als auch der UN beigetragen. (Vgl. dazu Michael Haspel: Friedensethik und Humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, 2002 sowie meinen Beitrag im Friedensethischen Lesebuch der EKD, S. 53-66).

 Sowohl ideologisch als auch faktisch haben so geostrategische Ordnungsvorstellungen wieder an Prominenz gewonnen, welche stärker die Konkurrenz als die Kooperation betonen und die eine eh schon fragile regelbasierte Ordnung zunehmend in Frage stellen.

Friedensethisch ergeben sich daraus erhebliche konzeptionelle Anforderungen. Die leitende Perspektive vieler „liberaler“ Ansätze ist, dass durch die zunehmende Verrechtlichung und die Stärkung der VN, militärische Konflikte zunehmend vermieden oder durch eine Art internationaler Polizei-Einsatz befriedet werden könnten oder zumindest sollten. Da die VN über keine eigenen militärischen Fähigkeiten verfügen, wurde dem Sicherheitsrat (SR) zumindest ein Gewaltermächtigungsmonopol zugeschrieben. Nationale Streitkräfte und Millitärbündnisse sollten quasi im Auftrag der Staatengemeinschaft polizeilich tätig werden. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es für eine kurze Zeit ja tatsächlich Hoffnung, dass der SR seine Blockade überwinden könnte und kooperativ Sicherheit und Menschenrechte verwirklicht werden könnten.

Diese Phase ist aber lange vorbei, wobei nicht nur China und Russland, sondern auch die USA und die NATO zur Schwächung des SR beigetragen haben. Allerdings hat er seine Funktion, zumindest die Eskalation von Konflikten zwischen Nuklearmächten zu verhindern, einigermaßen erfolgreich wahrgenommen. Mit Chinas Expansion im Südchinesischen Meer und seiner offenen Drohung gegen Taiwan sowie Russlands noch weitergehendem Verhalten gegenüber der Ukraine seit 2014, ist aber eine neue Qualität erreicht. Es scheint auch kein Zufall zu sein, dass Chinas und Russlands Übergang zu einer offen imperialen Politik im zeitlichen Zusammenhang stehen – und nach der Überdehnung des UN-Mandats für die Intervention der NATO in Libyen stattfand. Durch Russlands ostentative Ignorierung der VN vor und während der Aggression gegen die Ukraine stellt sich die Frage, ob der SR diese Funktion wirklich noch wahrnehmen kann. Dass weder die VN noch der SR damit völlig bedeutungslos geworden sind, zeigen allerdings nicht nur die beachtliche Mehrheit für die Ukraine-Resolution der Vollversammlung, sondern auch dass der SR bei anderen Dossiers weiter zu Beschlüssen kommt.

Allerdings wird die Frage, wie die Legitimierung des, wenn notwendig auch militärischen, Schutzes des internationalen Rechtes und einzelner Staaten vor Aggressionen, in dieser Konstellation begründet werden kann, friedensethisch weiter geklärt werden müssen. Dazu könnten etwa die Kriterien der bellum iustum-Tradition für einen solchen Kontext aktualisiert werden. Im ursprünglichen Bericht zur Responsibility to Protect von 2001 sind dazu hilfreiche prozedurale und kriteriale Vorschläge gemacht worden, die zum Teil auch im Rahmen der VN, aber in unterschiedlicher Intensität, rezipiert wurden.

Es sollten also ethische Kriterien und Verfahren der Prüfung der Legitimität des Einsatzes militärischer Kriegsgewalt so entwickelt werden, dass sie von Staaten und Staatenbündnissen guten Willens als Selbstbindung angenommen werden können, solange etwa der SR in dieser Hinsicht blockiert ist. Dies sollte immer unter der Perspektive der Vorläufigkeit geschehen, mit dem Ziel, das internationale Recht, Frieden und Sicherheit zu bewahren, zu verteidigen und zu stärken, bis etwa die VN dazu wieder besser in der Lage sind.

In der Friedensbewegung, aber auch in Teilen der Friedens- und Konfliktforschung, war lange das erklärte Ziel, die sogenannte Sicherheitslogik durch eine Friedenslogik zu ersetzen. Die Ausführungen hier zielen demgegenüber konzeptionell darauf, Friedens- und Sicherheitslogik systematisch zu verbinden. Inhaltlich wird dies eine Ethik der internationalen Beziehungen vor die Herausforderung stellen, Interessen und Werte genauer begrifflich zu fassen und operational auf einander zu beziehen. Hier kommt ggf. eine kantisch geprägte politische Philosophie an ihre Grenze, und man sollte mit Michael Walzer damit rechnen, dass auch das Gute bzw. Richtige meist durch gemischte Motivationen realisiert wird.

Da eine Ethik der internationalen Beziehungen auch die Frage der internationalen Gerechtigkeit, also z.B. der Klimagerechtigkeit mit behandeln muss, ergibt es sich von selbst, dass diese normativen Herausforderungen nur transdisziplinär und vor allem international angemessen diskutiert werden können (vgl. dazu Michael Haspel: Die „Theorie des gerechten Friedens“ als normative Theorie internationaler Beziehungen? Möglichkeiten und Grenzen, in: Strub, Jean-Daniel; Grotefeld, Stefan (Hg.): Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007, 209-225).


Michael Haspel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt und zugleich außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Haspel forscht zur Theologie Martin Luther Kings und der Schwarzen Abolitionisten, Kirche und Gesellschaft in den USA und der ehemaligen DDR sowie zur Friedensethik und Sicherheitspolitik.

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