16 Apr

Legitime Sicherheitsinteressen Russlands? Eine Kritik an Klaus Dörre.

Von Konrad Ott (Kiel)


I

Klaus Dörre hat 2021 ein Buch zur „Utopie des Sozialismus“ publiziert. Dörres Konzeption von Sozialismus steht im Folgenden nicht zur Debatte. Zur Debatte stellen möchte ich aus aktuellem Anlass eine Passage, die sich im Kapitel „Übergänge: Nachhaltiger Sozialismus jetzt!“ auf S. 242 des Buches findet. Ich zitiere in voller Länge:

„Man muss nicht zu den Beschönigern expansiver Bestrebungen des autoritären Putin-Regimes gehören, um anzuerkennen, dass Russland nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges ein legitimes Interesse daran hat, seine Außengrenzen nicht mit konkurrierenden Militärbündnissen wie der NATO teilen zu müssen. Europa ist eben größer als die Europäische Union. Nachhaltige Entspannungspolitik schließt die Anerkennung basaler Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation zwingend ein.“

Damit vertritt Klaus Dörre, den man mit Stefan Lessenich und Hartmut Rosa als eine prominente Figur der jenenser Soziologie ansehen darf, ziemlich genau die Forderungen der russischen Führung zu sog. „Sicherheitsgarantien“. Diese Forderungen spielten an der Jahreswende 2021/2 eine Rolle bei der propagandistischen Vorbereitung des Überfalls auf die Ukraine. Wäre der Ukraine-Krieg nicht ausgebrochen, hätte man diese Passage als Nebengedanken eines neo-sozialistischen Theoretikers auf sich beruhen lassen können. Dies aber geht jetzt nicht mehr, denn Dörre bringt sie unter der Zwischenüberschrift „Eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur für die Welt“. Ich lasse die Analogie Dörres („in gewisser Weise ähnelt“)  zwischen der Gegenwart und der „Spätphase des klassischen Imperialismus“ beiseite (S. 241), da ich historistische Analogien, die in politischer Absicht vorgenommen werden, nicht sonderlich schätze. Ich möchte im Folgenden die zitierte Textpassage auf ihre Präsuppositionen (Voraussetzungen) und Implikationen (Konsequenzen) hin analysieren und einige Fragen stellen, die eine punktgenaue Debatte ermöglichen sollen.

Prinzipiell stehen Dörre folgende Optionen offen:

  1. Dörre kann seine Auffassung aufrechterhalten. Die Position gälte dann 2022 nach wie vor.
  2. Dörre kann modifizieren und dann kommt es auf die Hinsichten der Modifikation an.  
  3. Dörre kann seine Auffassung teilweise oder komplett revozieren (= zurückziehen) und Irrtümer oder Fehleinschätzungen einräumen. Bei vollständiger Revokation wäre die Angelegenheit erledigt.

Mit Blick auf diese Optionen erfolgt die Analyse.

II.

Ich setze voraus, dass sich Dörre selbst nicht zu den „Beschönigern expansiver Bestrebungen“ zählt. Er müsste also sagen, dass es in dieser Hinsicht nichts zu beschönigen gibt (etwa die Annexion der Krim). Wir müssen also für Dörre zweierlei zusammendenken: diese expansiven Bestrebungen und die legitimen Sicherheitsinteressen der russischen Föderation und ihrer politischen Führung. Unter Sicherheit verstehe ich ein Unternehmen auf Gegenseitigkeit: Alle betroffenen Staaten sollen gleichermaßen voreinander sicher sein. Also Sicherheit „vor“ und „für“ Russland.

Da die Ausdrücke „anerkennen“ und „Anerkennung“ zweimal in Verbindung mit „Interesse“ und „Sicherheitsinteresse“ auftauchen, nehme ich an, dass das Interesse Russlands, seine Außengrenzen nicht mit „konkurrierenden“ Militärbündnisse teilen zu müssen, in die offene Menge basaler Sicherheitsinteressen (SI) eingeschlossen wird. Dieses spezifische Interesse wäre somit ein Element dieser Menge. Ich lasse offen, ob es in der Menge basaler Sicherheitsinteressen (SI) auch solche gibt, die nicht legitim sind, oder ob (was ich für wahrscheinlicher halte) Dörre voraussetzt, alle basalen SI seien eo ipso auch legitim. Natürlich kann es der Möglichkeit nach auch nicht-basale und legitime SI geben. Aber ich vermute, der Sinn der Passage spricht für die Einschlussbeziehung.

Dieses SI wird als „legitim“ qualifiziert. Mit „legitim“ muss Dörre mehr meinen als „legitim aus der Perspektive Russlands“. Er muss „legitim“ im Sinne von „generell, also auch für uns berechtigt und anerkennenswert“ verstehen. Ich setze im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs „legitim“ mit „berechtigt“ gleich. Auch Bürger*innen westlicher und osteuropäischer Staaten sollten dieses Interesse als „legitim“ anerkennen und entsprechende politische Forderungen und Maßnahmen billigen und unterstützen. Ein „legitimes Interesse an x“ ist semantisch äquivalent zu „ein Anrecht auf x“. Wenn A ein Anrecht auf x hat, haben B, C….N Verpflichtungen in Ansehung dessen. Sie müssen etwas tun oder unterlassen.

Als Begründung der Legitimität lese ich die Worte „nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges“. Ich interpretiere (der Absicht nach benevolent) wie folgt: Weil die UdSSR von Nazi-Deutschland 1941 militärisch überfallen wurde und in einem fast vierjährigen Krieg mehr als 20 Millionen Russen getötet wurden, (und weil der sog. „Große Vaterländische Krieg“ im kollektiven Gedächtnis Russlands tief verwurzelt ist), besteht ein Anrecht Russlands darauf, das kein Staat, dessen Territorium an Russland grenzt (= „Anrainerstaat“), (jemals) einem konkurrierenden Militärbündnis angehören darf. Diese Interpretation impliziert pragmatisch, dass solche Mitgliedschaften für Russland prinzipiell als Bedrohung und in Analogie zur Nazi-Wehrmacht aufgefasst werden dürfen. Die räumliche Nähe zu Russland ist gleichbedeutend mit der Drohung eines Überfalls auf Russland. Zumindest darf die politische Führung Russlands das so sehen. Dies gilt unabhängig von dem faktischen militärischen und politischen Verhalten dieser Staaten gegenüber Russland und es gilt trotz und ungeachtet möglicher expansiver Bestrebungen Russlands. Die Tatsache, einmal grausam überfallen worden zu sein, ist also unabhängig von allem gegenwärtigen Verhalten Russlands und seiner Anrainerstaaten „Grund genug“ für besagtes Anrecht. Also darf Russland die NATO in Analogie zur Nazi-Wehrmacht als Bedrohung der Sicherheit ansehen, egal wie die NATO sich verhält. Dass die NATO sich selbst als Verteidigungsbündnis definiert, wäre irrelevant. Dass es keinerlei Indizien für den Verdacht gibt, die NATO wolle Russland überfallen, wäre wohl auch irrelevant.

Das Anrecht auf x spezifiziert sich folgendermaßen: Anrainerstaaten Russlands dürfen eigentlich (= prinzipiell) keinem konkurrierenden Militärbündnis angehören. Dieses Anrecht impliziert eine Einschränkung ihrer politischen Souveränität. Die kontingente Tatsache einer gemeinsamen Grenze verpflichtete alle Anrainerstaaten zur Nicht-Mitgliedschaft in konkurrierenden Militärbündnissen. In dieser außenpolitischen Hinsicht wären Anrainerstaaten also nicht souverän. Für sie gilt gemäß Dörres Argument ein Beitrittsverbot. Dieses Beitrittsverbot soll einer nachhaltigen Entspannungspolitik dienen. Aber geht das?  

Ich stimme Dörres Aussage zu, dass Russland eine expansive Politik verfolgt. Dann aber gibt es wohl noch andere legitime SI als die der russischen Föderation. Expansion bedeutet Ausdehnung im Raum. Expansion im Raum bedeutet, Grenzen auch gegen den Willen von Anrainerstaaten zu überschreiten. Demnach argumentiert Dörre höchst einseitig, da die SI von Anrainerstaaten nicht erwähnt werden. Wer einmal in einem baltischen Staat war, der weiß, wie sehr die Menschen dort hoffen und bangen, dass Putin die „rote Linie“ der NATO-Mitgliedschaft respektiert.  

Unter Dörres Prämissen wird die prinzipielle Dimension des Ukraine-Krieges sichtbar. Eine Doktrin eingeschränkter staatlicher Souveränität konkurriert mit dem Recht souveräner Staaten, nach eigenen Interessen und Einschätzungen politischen und militärischen Bündnissen beitreten zu dürfen. Die russische Position nimmt die kontingente Tatsache der Verortung staatlicher Territorien im Raum als hinreichenden Grund, dieses Recht einzuschränken. Kleine Staaten, die das Pech haben, an Hegemonialmächte zu grenzen, haben kein Recht, eigene Wege zu gehen; sie verbleiben geopolitisch in dem politischen Gravitationsgebiet ihrer großen Nachbarn. Somit kollidiert das westlich geprägte Völkerrecht der Nachkriegszeit mit alten und neuen geopolitischen Auffassungen, denen sich Dörre implizit anschließt.  Dass ein führender „linker“ Sozialtheoretiker dies tut, ist keine Quisquilie. Was diese implizite geopolitische Position für die außenpolitische Zugehörigkeit eines nachhaltigen und sozialistischen Deutschlands mit sich bringen würde, wie Dörre es avisiert, wäre dringend zu diskutieren. Wie gesagt, die Passage findet sich unter den Überschriften „Nachhaltiger Sozialismus jetzt!“ und „Eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur für die Welt“.

III

Es bleiben folgende Fragen: Wo verlaufen die Außengrenzen Russlands? Was ist mit Anrainerstaaten, die faktisch NATO-Mitgliedstaaten sind? Was ist mit Finnland? Wozu mag Russland berechtigt sein, wenn Anrainerstaaten gegen dieses präsumtive legitime Anrecht agieren? 

Die Außengrenzen Russlands können die Exklave des Oblast Kaliningrad einschließen oder nicht. Völkerrechtlich gehört die Enklave eindeutig zur russischen Föderation. Also zählte auch Polen zu den Anrainerstaaten der russischen Föderation. Dies würde implizieren, dass Polen kein Anrecht hat, der NATO anzugehören, weil Nazi-Deutschland die UdSSR überfallen hat. Diese Konsequenz erscheint mir kontraintuitiv. Wenn Dörre ihr ausweichen möchte, müsste er die Exklave Kaliningrad als territoriale Anomalie beurteilen, was gerade in Russland auf Widerspruch stoßen dürfte.  

Das Beitrittsverbot gälte auch und gerade für die baltischen Staaten, die der NATO angehören. Deshalb hat die russische Führung Ende 2021 gefordert, in Polen und den baltischen Staaten dürften dauerhaft keine NATO-Truppen stationiert sein. Dies implizierte, dass diese Staaten zwar noch politisch der NATO zugehörten, aber nicht mehr Teil eines Militärbündnisses wäre. Es implizierte weiterhin, dass Russland über die Militärpolitik seiner Anrainerstaaten (mit) zu entscheiden befugt ist. Die Forderungen nach Sicherheitsgarantien umfassten einen militärischen Abzug aus den Gebieten des ehemaligen Warschauer Paktes, ein Verbot militärischer Aktivitäten rund um die Russische Föderation und ein Verbot der Aufnahme der Ukraine und Georgien in die NATO. Putin drohte mit „militärisch-technischen“ Gegenmaßnahmen.

Das Beitrittsverbot gälte im Prinzip auch für das neutrale Finnland, das eine 1400 km lange Grenze mit Russland teilt und seit Kurzem über einen NATO-Beitritt debattiert. Dörre müsste erläutern, ob Finn*innen das Anrecht Russland respektieren und sich gegen den Beitritt aussprechen sollten. Aber wenn Finnland der NATO beitreten darf, warum nicht Georgien?

Die letzte Frage ist die heikelste. Nach Dörres Prämissen darf Russland einen intendierten NATO-Beitritt von Anrainerstaaten als absichtlichen Verstoß gegen basale legitime SI interpretieren (und sich entsprechend bedroht fühlen). Die Ukraine hat seit dem Euromaidan 2014 einen Kurs in Richtung EU- und NATO-Mitgliedschaft eingeschlagen. Dazu war sie nach Dörres Argument nicht legitimiert. Was also darf, wenn man in der Logik des Arguments bleibt, Russland tun, um die Ukraine von ihrem illegitimen Kurs abzubringen? Unter Dörres Prämissen gerät man womöglich sogar in die gefährliche Nähe zu der Position, den Überfall auf die Ukraine als einen Präventivkrieg zu rechtfertigen, was allerdings dem Ziel einer nachhaltigen Entspannungspolitik eklatant zuwiderliefe. Oder man sagt, die Nicht-Erfüllung der russischen Forderungen sei für die russische Führung ein nicht völlig unberechtigter Kriegsgrund gewesen. Aber will man das wirklich sagen müssen?

Die russische Führung hat nicht versucht, ihren Einmarsch als Präventivkrieg zu rechtfertigen. Setzen wir weiterhin voraus, dass die Scharmützel im Donbass nachweislich kein „Genozid“ (im vertretbaren völkerrechtlichen Sinn) waren und sind, so bleiben als mögliche rechtfertigende Kriegsgründe nur a) die Nichterfüllung der russischen Forderungen und/oder b) die historistisch begründete Aberkennung des Rechts auf eine eigene ukrainische Staatlichkeit, wobei b) einen Expansionismus mit eindeutiger Eroberungsabsicht darstellt. Einen solchen wird Dörre nicht verteidigen wollen, da man dies ohne Beschönigung nicht tun könnte. Wenn jedoch im Sinne von a) eine Partei Forderungen stellt, von denen sie weiß, dass die andere Partei sie nur um der Preisgabe oder die Gefährdung ihres Kernanliegens erfüllen könnte (die NATO-Beistandsgarantie für alle Mitgliedstaaten), so schafft sie einen Vorwand. Vorwände für Angriffskriege zu unterstützen, sollte sich kritische Sozialwissenschaft zu schade sein.      

IV

Wir haben uns im Frühjahr alle zu korrigieren. Persönlich habe ich selbst nach 2014 noch an eine verlässliche Partnerschaft mit Russland und, um Egon Bahr zu zitieren an Wandel durch Annäherung geglaubt und die Aussöhnung mit Russland war mir ein moralisches Anliegen.[1] Liest man William Zimmerman: „Russland regieren“ (2015), vor allem S. 235-291, so zeigt sich, dass Analysten noch zwischen 2004 und 2008 glaubten, Putin fühle sich westlich-liberalen Werten verbunden und sei ein Modernisierer. Bundespräsident Steinmeier hat bedauert, zu lange an einer ähnlichen Einschätzung festgehalten zu haben. Wir sind bitter ent-täuscht worden.  

Es wäre wohl die einfachste und beste Lösung für Dörre, diese Textpassage komplett zu revozieren. Die Passage scheint durch Modifikationen nicht zu retten zu sein. Sie ist unhaltbar. Sie wird auch nicht dadurch besser, dass Dörre eine Buchseite später das Aggressionspotential in wachsender sozialer Ungleichheit und ökologischen Gefährdungen verortet. Die russischen Zustände kann er nicht meinen. Der extreme Reichtum russischer Oligarchen und das durch Klimawandel bedingte Auftauen der Permafrostböden Russlands sind für den Ukrainekrieg nicht verantwortlich. Den hohen Einkommens-GINI-Koeffizienten Russlands (vom Vermögens-GINI nicht zu reden) wird Dörre nicht für die Aggressivität der russischen Führung verantwortlich machen wollen. Ich rate also dem Autor, sich von der Passage zu distanzieren. Als Element der Übergänge zu einem nachhaltigen Sozialismus ist sie definitiv unbrauchbar.


Konrad Ott wirkte von 1997 bis 2012 als Professor für Umweltethik an der Universität Greifswald und ist seitdem als Professor für Philosophie und Ethik der Umwelt an der Universität Kiel tätig.


[1] Ich werde nie vergessen, wie an einem Sommerabend des Jahres 1980 an einem Bahnhof der transsibirischen Eisenbahn ein älterer russischer Mann, der mich als jungen Deutschen erkannte, sein Hemd aufknöpfte und mir die große Narbe zeigte, die quer über seinen Bauch lief. Er sagte: „Nemez, bumbum“ und ich stammelte „Mir i druschba“. Dann stiegen wir in verschiedene Wagons und der Zug fuhr weiter in Richtung Wladiwostock. 

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