10 Mrz

Wir alle sind Teilnehmende des medialen Krieges

von Johannes Müller-Salo (Hannover)


Dieser Blogbeitrag kann auch als Podcast gehört und heruntergeladen werden:


Der Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine zerstörte über Nacht Gewissheiten, die vermutlich die meisten Menschen in Europa und in der westlichen Welt für unerschütterlich gehalten hatten. Für die Philosophie des Krieges und der Gewalt stellen sich nun sehr alte Fragen neu. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Rolle der sozialen Medien – und damit die Rolle von uns allen, die wir täglich mit, über und in diesen Medien kommunizieren. Es braucht die Entwicklung einer Ethik der medialen Kriegsteilnahme.

Im Zentrum des philosophischen Nachdenkens über den Krieg steht die Theorie des gerechten Krieges (bellum iustum). Sie gehört zu den ältesten Theoriestücken praktischer Philosophie. Ihre zentralen Kategorien wurden bereits im Hochmittelalter, etwa bei Thomas von Aquin, und in der spanischen Spätscholastik an der Wende zur Neuzeit entwickelt. Eine Theorie des bellum iustum sucht eine Antwort auf die Frage zu geben, unter welchen Bedingungen eine kriegerische Auseinandersetzung gerechtfertigt werden kann. Dabei wird selbstverständlich nicht bestritten, dass jeder Krieg Leid, Zerstörung und Gewalt mit sich bringt. Eben weil jeder Krieg mit schrecklichen Konsequenzen verbunden ist, müssen an seine Rechtfertigung höchste Ansprüche gestellt werden. Die Theorie des gerechten Krieges sollte daher in erster Linie als eine Kritik der Legitimation von Krieg gelesen werden.

Wie ungerechtfertigt die russische Invasion in der Ukraine ist, zeigt sich daran, dass sie keiner einzigen derjenigen Bedingungen genügt, die ein gerechtfertigter Angriffskrieg Theorien des gerechten Krieges zufolge erfüllen muss. Zumeist werden vier Bedingungen genannt:

  1. Legitime Autorität (auctoritas principis): Nicht erfüllt, denn Putin ist kein demokratisch im Amt bestätigter Präsident.
  2. Rechtfertigender Grund (causa iusta): Nicht erfüllt, denn die vom Kreml genannten Kriegsgründe sind entweder frei erfunden (Genozidvorwürfe) oder moralisch inakzeptabel – so etwa die Idee, ein Land besitze Einflusssphären und habe das Recht, einem anderen, demokratischen Staat außenpolitische Leitlinien vorzuschreiben.
  3. Richtige Absicht (intentio recta): Nicht erfüllt, da es kein moralisch richtiges Ziel gibt, welches Russland mit dem Krieg verfolgt.
  4. Alternativlosigkeit (ultima ratio): Nicht erfüllt, da Russland diplomatische Wege zur Konfliktlösung bewusst verlassen und Gesprächsangebote ausgeschlagen hat.

In den letzten Jahrzehnten wurde der traditionellen Theorie des gerechten Krieges relativ wenig Beachtung geschenkt. Die „neuen Kriege“, in denen nicht mehr ein Staat gegen einen anderen Krieg führt, sondern bewaffnete, teils überstaatlich vernetzte, teils nur lose miteinander verbundene Terrorgruppen staatliche Akteure durch Anschläge herausfordern, verlangten eine Neuausrichtung der Ethik von Krieg und Gewalt. Mit dem Angriff auf die Ukraine aber stellen sich die Fragen des bellum iustum neu. Die alten Kategorien sind wieder anwendbar geworden. Zugleich unterscheidet sich dieser Krieg von früheren Angriffskriegen in einer zentralen Hinsicht: Er wird auch und nicht zuletzt in den sozialen Medien geführt. Mir erscheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, von medialer Kriegsteilnahme zu sprechen. Teilnehmende sind wir alle, die wir soziale Medien nutzen. Medial ist diese Kriegsteilnahme, weil sie eben durch die sozialen Medien vollzogen wird, ohne die Existenz dieser Medien nicht denkbar ist. Um eine Kriegsteilnahme und nicht etwa nur um eine Kriegsbeobachtung handelt es sich, weil wir in den sozialen Medien nicht nur Empfänger von Bildern, Nachrichten und Botschaften sind, sondern durch digitales wie analoges Handeln selbst Einfluss auf das weitere Geschehen nehmen können.

Menschen sind in Kriegszeiten schon immer zum Adressaten von Information und Propaganda geworden, wie zum Beispiel die Flugschriften des Dreißigjährigen Krieges anschaulich vor Augen führen. Derartige Kriegskommunikation war zumeist asymmetrisch strukturiert. Den Empfängern von Flugblättern oder Radiobotschaften standen begrenzte Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Natürlich konnten sie über den Krieg diskutieren oder lokale Proteste organisieren. Doch derartige Reaktionen bedienten sich sehr begrenzter Medien, der mündlichen Kommunikation, des öffentlichen Raumes, vielleicht der Bittschrift an den Herrscher.

In den sozialen Medien verteilt sich Kommunikationsmacht anders: Technisch und somit prinzipiell ist es jedem möglich, jeden anderen zu erreichen, der dasselbe Medium nutzt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass faktisch auch in sozialen Medien Kommunikationshierarchien bestehen, die etwa auf der Anzahl von Followern und der Kreativität der Mediennutzung beruhen. Soziale Medien werden von politisch Verantwortlichen rezipiert. Dadurch können online wahrgenommene Stimmungen politische Entscheidungen beeinflussen. Inhalte einzelner Posts oder Tweets können nicht nur einzeln geliked oder retweeted, sondern von Leitmedien aus Print, Funk und Fernsehen aufgegriffen werden. Sie können dadurch eine Wirkung entfalten, die im Moment des Schreibens oder Posten des Beitrags oft nicht absehbar ist.

Weil wir also alle durch unser digitales Handeln Einfluss nehmen können und weil dieser Einfluss zugleich schwer zu durchschauen ist, von Zufällen und noch mehr von Algorithmen abhängt, sollten wir uns Gedanken über eine Individualethik der medialen Kriegsteilnahme machen. Der erste und wichtigste Schritt scheint mir dabei zu sein, dass wir uns dieser medialen Teilnahme selbst bewusstwerden: Die Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind auch direkt an uns adressiert, ebenso die Mitteilungen der russischen Regierung zur Alarmbereitschaft ihrer Atomstreitkräfte. Sie fordern uns zum Handeln auf, im digitalen wie im analogen Raum, zum Kommentieren und Retweeten, zum Organisieren und Demonstrieren, zur Einflussnahme auf unser persönliches wie politisches Umfeld.

Eine Ethik medialer Kriegsteilnahme schließt an die Theorie des gerechten Krieges an, weswegen in diesem Beitrag auch mit dem bellum iustum begonnen wurde. Erst wenn geklärt ist, wie ein Konflikt insgesamt moralisch zu bewerten ist, können einzelne Handlungen der medialen Kriegsteilnahme als geboten, zulässig oder verboten bewertet werden.

Im Zentrum einer Ethik der medialen Kriegsteilnahme sollten die Prinzipien der Nichtschädigung und der Nothilfe stehen. Das Prinzip der Nichtschädigung verlangt in einer Standardinterpretation, die berechtigten Ansprüche, Rechte und Interessen anderer nicht zu verletzen. Aus dem Prinzip folgt unmittelbar die Forderung, den Angriffskrieg nicht durch eigenes digitales Handeln zu unterstützen, sei es durch Applaus für Putins Taten, sei es durch die undurchdachte Wieder- und Weitergabe von Propaganda in Schrift und Bild.

Ein zweiter Punkt betrifft unsere Sprache und Begrifflichkeit. Es ist nicht „die“ russische Gesellschaft und schon gar nicht „der Russe“, der in der Ukraine einen brutalen Krieg führt. Derartige Pauschalurteile wie auch Hass gegen in Deutschland lebende russische Staatsangehörige erfreuen nur den Kreml. Aus solchen Stimmungen können langfristig wirksame Negativklischees oder gar Vorstellungen von „natürlicher Gegnerschaft“ oder „Erbfeindschaft“ resultieren. Sie schädigen alle beteiligten Gesellschaften, da sie Bemühungen um dauerhaften Frieden langfristig belasten können. Das Prinzip der Nichtschädigung verlangt, dass wir unsere Worte in den sozialen Medien mit Bedacht wählen.

Ein dritter Punkt betrifft den Umgang mit Emotionen, vor allem mit der Angst. Es ist eine Sache, noch dazu eine mehr als verständliche, Angst zu haben. Es ist eine andere Sache, Gefühlsäußerungen in die sozialen Medien zu entlassen. Dabei sollte immer bedacht werden: Mit unserer Angst, etwa vor einem nuklearen Krieg, wird aktiv Politik betrieben. Die russische Staatsführung setzt nicht zuletzt auf unsere in den sozialen Medien geäußerte Angst, die westliche Regierungen beeindrucken und zu einer vorsichtigeren Politik veranlassen soll. In vielen Fällen wird Angst ohnehin im persönlichen Gespräch oder in der Privatnachricht besser aufgehoben sein.

Wie steht es um das Prinzip der Nothilfe? Nothilfe wird oftmals an das Kriterium der Wirksamkeit gebunden: Zur Hilfe in der Not ist nur verpflichtet, wer auch wirklich helfen kann. Zuerst ist hier an konkrete, über die sozialen Medien organisierte Nothilfe zu denken: Ich sehe einen Tweet, in der jemand für eine Geflüchtete nach einer Unterkunft in meiner Stadt oder in einem Ort sucht, in dem ich viele Leute kenne. Mein Handeln, sei es die Bereitstellung der Unterkunft, sei es die Weiterleitung der Nachricht, macht konkret einen Unterschied und kann daher auch unter Berufung auf das Prinzip der Nothilfe eingefordert werden.

Was aber ist mit den zahllosen Solidaritätsbekundungen für die Ukraine, den blau-gelben Flaggen in den Profilfotos, die in diesen Tagen die sozialen Medien prägen? Es lässt sich argumentieren, dass diese digitalen Handlungen wichtig sind, weil sie als veröffentlichte Meinung auf politisch Verantwortliche wirken, sie etwa in ihren Versuchen bestärken, die Ukraine zu unterstützen oder Chancen für neue Friedensgespräche auszuloten. Sie können dann als Hilfe zur Nothilfe angesehen werden, jeder Tweet ist außerdem ein Tweet mehr gegen diesen Krieg und seine Propagandisten. Es lässt sich aber auch argumentieren, dass eine solche Handlung zu unbedeutend und auch für die Handelnden mit zu wenig Anstrengung verbunden ist, als dass hier schon sinnvoll von einem Beitrag zur Hilfe in der Not gesprochen werden könnte. Ich halte beide Perspektiven für bedenkenswert und möchte mich hier nicht festlegen. Es gibt, so viel steht fest, einige offene Fragen, die von einer Ethik der medialen Kriegsteilnahme beantwortet werden müssen.


Johannes Müller-Salo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Leibniz Universtät Hannover. Er beschäftigt sich mit Fragen der praktischen Philosophie, unter anderem auch mit der Philosophie von Krieges und Gewalt. 2018 erschien im Reclam Verlag die von ihm herausgegebene und kommentierte Anthologie Gewalt – Texte von der Antike bis in die Gegenwart. https://twitter.com/Mueller_Salo

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