#MeToo und die Kunst – oder: Darf man eigentlich noch Filme mit Kevin Spacey gucken?
von Andrea Klonschinski (Kiel)
Kevin Spacey und die Philosophische Filmreihe
Wie im Rahmen des Themas „populäre Philosophie“ auf diesem Blog bereits kundgetan, organisiere ich derzeit in Kiel die philosophische Filmreihe „Filmisches Philosophieren“. Dabei zeigt das Kino in der Pumpe in Kiel einen Film, danach hebt ein Referent oder eine Referentin die aus ihrer Sicht philosophisch interessanten Aspekte des jeweiligen Films hervor und diskutiert schließlich mit dem Publikum. Ende Januar traf meine Begeisterung für populäres Philosophieren dann auf ein anderes Thema, zu dem ich mich auf diesem Blog bereits geäußert hatte, und zwar die #Metoo-Debatte. Grund: auf dem Programm stand der Film Margin Call und in einer der Hauptrollen agiert Kevin Spacey.
Spacey werden mehrere Fälle sexueller Belästigung und Nötigung vorgeworfen. So soll er etwa im Jahr 1986 im Alter von 26 Jahren in betrunkenem Zustand den damals 14-jährigen Schauspieler Anthony Rapp auf sein Bett gehoben und sich auf ihn gelegt haben und dem Sohn des Schauspielers Harry Dreyfuss in den Schritt gefasst haben, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ein Schauspieler aus Spaceys Zeit als künstlerischer Direktor am Londoner Old Vic Theater wird zitiert mit der Aussage „Es brauchte wohl nur einen jungen Mann unter 30, und Herr Spacey fühlte sich frei, uns anzufassen“. Unmittelbar nach Bekanntwerden der ersten Anschuldigungen im Oktober 2017, im Zuge derer Spacey sich zudem zu seiner Homosexualität bekannte, wurde er aus dem bereits fertig abgedrehten Film All the Money in the World herausgeschnitten und auch seine Rolle als Frank Underwood wurde kurzerhand aus den weiteren Staffeln der erfolgreichen Serie House of Cards gestrichen. Spacey steht derzeit vor Gericht, ist aber noch nicht verurteilt worden.
Ehrlich gesagt wäre ich überhaupt nicht darauf gekommen, dass die Vorwürfe gegen Spacey etwas mit dem Zeigen und Diskutieren des Films im Rahmen einer Philosophischen Filmreihe in Kiel zu tun haben könnten. Erst mein Kollege Alexander Lorch, der sich bereit erklärt hatte, anhand von Margin Call das Thema „Moral in Organisationen“ zu problematisieren, wies mich darauf hin, dass Spaceys Präsenz in dem Film ein Problem darstellen könnten. Um es gleich vorweg zu nehmen: es gab keinen Eklat, die Veranstaltung war gut besucht und das Thema Spacey kam in der Publikumsdiskussion nicht zur Sprache – nachdem ich bei der Begrüßung allerdings auch darauf hingewiesen hatte, dass wir uns der potenziellen Problematik bewusst seien, sie aber an diesem Abend nicht im Vordergrund der Debatte stehen solle.
Nichtsdestotrotz habe ich mir in diesem Zusammenhang Gedanken zu der Frage gemacht, ob es wirklich so unproblematisch ist, Filme mit Kevin Spacey nicht nur anzusehen, sondern in einem öffentlichen Rahmen wie der Filmreihe gegen Eintrittsgeld zu zeigen, wie es meine anfängliche Intuition nahelegt. Darf man also noch Filme mit Kevin Spacey schauen? Während sich die folgenden Überlegungen spezifisch auf Spacey und Margin Call beziehen, bieten sie zugleich Anlass für einige wichtige Differenzierungen und liefern Einsichten in das Thema „#MeToo und Kunst/Kultur“ im Allgemeinen.
Ein ästhetisches Argument…
Am einfachsten nähert man sich hier einer Antwort, indem man die Gegenfrage stellt: warum sollte man Filme mit Kevin Spacey nicht mehr zeigen und ansehen dürfen? In Anlehnung an Hanno Rauterberg (2018: 73f.) lassen sich in diesem Kontext zwei Arten von Argumenten anführen, ein ästhetisches und ein moralisches. Das erste, ästhetische, behauptet, dass unser Wissen über das Fehlverhalten des Künstlers, in diesem Fall des Schauspielers Spacey, einen unvoreingenommenen Blick auf das Werk, in diesem Fall seine Schauspielkunst im Speziellen und damit den Film Margin Call im Allgemeinen, verunmögliche und damit den ästhetischen Wert des Kunstwerks mindere.
Dagegen lassen sich vier Einwände formulieren: erstens halte ich dieses auf die individuelle ästhetische Erfahrung der Rezipient*innen abstellende Argument nicht für relevant für meine Fragestellung. Denn solange wir nicht eine Pflicht zur maximal unvoreingenommenen ästhetischen Rezeption von Kunstwerken postulieren wollen, zeigt das Argument nicht, warum es falsch sein sollte, einen Film mit Spacey zu zeigen bzw. anzusehen. Das Argument weist zweitens eine paternalistische Stoßrichtung auf, indem es den Rezipient*innen die Mündigkeit abspricht, selbst zu entscheiden, welche Werke sie – ob nun unvoreingenommen oder nicht – rezipieren möchten bzw. können. Das Argument scheint mir zudem, drittens, im Hinblick auf Schauspieler*innen und Sänger*innen, die als Interpreten der Werke Anderer auftreten, nicht besonders überzeugend. Für durchschlagender halte ich es in der Anwendung auf diejenigen Kunstwerke, deren Inhalt geeignet ist, die moralisch oder politisch fragwürdigen Positionen der kunstschaffenden Person zu transportieren. Das Bild eines nackt badenden Kindes beispielsweise dürfte anders und womöglich verkürzt wahrgenommen werden, nachdem sich herausstellt, dass der Maler pädophile Neigungen hatte. Auch in diesem Fall heißt das meines Erachtens nicht, dass das entsprechende Bild nicht mehr gezeigt werden darf, aber die Rezeption wird sich vermutlich verändern. Warum muss ein derartig veränderter Blick auf das Kunstwerk aber, viertens, unbedingt etwas Negatives sein? Das Wissen um das Fehlverhalten der Künstlerperson könnte den Betrachter*innen schließlich auch eine neue Facette des Werks und ihrer individuellen Reaktion darauf eröffnen.
…und ein moralisches
Das zweite Argument ist moralischer Natur und betrachtet den Boykott von Kunstwerken als eine „erzieherische“ Maßnahme. Der Grundgedanke ist dabei, dass eine Person, die sich unmoralisch oder gesetzwidrig verhält, nicht auch noch von diesem Verhalten profitieren soll, sondern ökonomische und/oder sozial sanktioniert werden müsse. Wer von derartigem Fehlverhalten wisse und den Boykott dennoch nicht unterstütze, mache sich der Komplizenschaft schuldig.
Boykott zwecks Erziehung?
Diese Bedenken scheinen schwerer zu wiegen als das ästhetische Argument. Obwohl Spacey wohl, anders als ein Unternehmen, nicht i. e. S. von seinem Fehlverhalten profitiert, leuchtet der Gedanke ein, dass auch ein Oscarpreisträger nicht einfach ungeschoren davonkommen sollte. Aber inwiefern hilft hier ein Boykott? Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, sich einmal zu vergegenwärtigen, was ein Boykott eigentlich ist. Die zugrundeliegende Idee scheint grundsätzlich konsequentialistischer Natur zu sein: man will etwas Bestimmtes erreichen, z. B., dass Amazon seine Mitarbeiter*innen besser behandelt, und ruft zu diesem Zweck zu einer kollektiven Handlung auf, etwa, keine Produkte mehr über Amazon zu beziehen (zu Amazon siehe hier). Damit der entsprechende Druck auf das Unternehmen – oder auch den Staat oder andere Personengruppen – überhaupt entstehen kann, setzt ein effektiver Boykott die Mobilisierung einer hinreichend großen Menge an potenziellen Teilnehmer*innen voraus. Die rein private, weder organisierte noch öffentlich kommunizierte Entscheidung, keine Filme mit Spacey mehr anzusehen, kann demnach allenfalls in einem metaphorischen Sinne als „Boykott“ bezeichnet werden und erfüllt nicht die konsequentialistische und pragmatische Stoßrichtung organisierter Boykott-Maßnahmen. Der Rekurs auf „potenzielle“ Teilnehmer*innen eines Boykotts ist hier relevant, da Aufrufe, bestimmte Produkte nicht mehr zu kaufen, um dem Unternehmen finanziell zu schaden, heute wesentlich seltener sind als die mediale Androhung von Boykotten, die auf einen Imageschaden des Unternehmens abstellen (vgl. Friedman 2001).
Ridley Scott, der Regisseur von All the Money in the World, hielt einen tatsächlichen Boykott des Films an den Kinokassen offenbar für so wahrscheinlich, dass er Spacey kurzerhand für sechs Millionen Dollar aus dem Film herausschneiden und entsprechende Szenen mit einem anderen Schauspieler nachdrehen ließ. Seine Überlegungen waren also keineswegs moralischer, sondern rein finanzieller Natur. Diese Tatsache deutet auf einen heiklen Aspekt von Boykott-Maßnahmen hin: sie treffen häufig auch Personen, die nicht unmittelbares Ziel des Boykotts und in relevanter Hinsicht unschuldig sind. Den unmittelbaren finanziellen Schaden tragen hier die Produzent*innen; für Spacey selbst ist zunächst ein erheblicher Imageschaden eingetreten und erst mittelfristig ein finanzieller, insofern er wohl auf absehbare Zeit keine Rollen, Werbeverträge usw. mehr bekommen wird. Dies ist jedoch unabhängig von der Tatsache, ob wir bereits abgedrehte Filme, wie Margin Call, ansehen oder nicht.
Als „erzieherische“ Maßnahme kann dieser Effekt jedoch kaum gelten. Anders als bei strategischen Boykotten, zielt der Boykott von Filmen mit Spacey nämlich nicht auf eine Verhaltensänderung, sondern allein auf Bestrafung ab. Wir haben es hier somit nicht mit einem strategischen Boykott, der ein klares Ziel und somit ein definiertes Ende hat, zu tun, sondern mit einem prinzipiell unendlichen „shunning boycott“ (Friedman 2001). Eine erzieherische Maßnahme sollte aber, erstens, auf die Besserung des Subjekts abstellen und nicht auf dessen endlose Bestrafung sowie, zweitens, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Fehlverhalten und Sanktion wahren. Dies scheint mir bei Spacey angesichts der ihm vorgeworfenen Taten nicht der Fall zu sein.
Komplizenschaft und Machtstrukturen
Schließlich ist die moralische Empörung und die damit verbundene Forderung nach einem Boykott von Filmen mit Kevin Spacey – oder von Woody Allen, Roman Polanski etc. – in relevanter Hinsicht verkürzt und läuft somit Gefahr, von einem grundlegenderen Problem abzulenken. Denn auch wenn die Vorwürfe gegenüber Spacey zutreffen und er sich somit unangemessen und übergriffig verhalten hat, so darf der Fokus auf diesen Einzelfall nicht dazu führen, die zugrundeliegenden hierarchischen Strukturen aus dem Blick zu verlieren, die einen solchen Machtmissbrauch sowie dessen jahrzehntelange stillschweigende Duldung (wie im Falle Harvey Weinstein) überhaupt erst ermöglichen und befördern. Spätestens seit dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegenüber Weinstein sowie der in diesem Zuge ins Leben gerufenen #MeToo-Debatte dürfte allgemein bekannt sein, wie endemisch Machtmissbrauch in der Filmbranche ist. Seither sind nicht nur sexualisierte Gewalt, sondern auch systematische Ungleichheiten wie etwa die der unterschiedlichen Bezahlung männlicher und weiblicher Schauspieler*innen intensiv diskutiert worden. Das Problem der Komplizenschaft stellt sich somit auf einer ganz anderen Ebene und die relevante Frage lautet nicht mehr „Darf man noch Filme mit Kevin Spacey gucken?“, sondern „Darf man überhaupt noch irgendeinen Hollywood-Film schauen?“ Und machen wir uns nicht ebenso zu Komplizen unmoralischen Verhaltens, wenn wir in ein Theaterstück gehen? Theater sind schließlich bekannt für die prekären Anstellungs- und Abhängigkeitsverhältnisse. Und was ist mit Hip-Hop Konzerten? Hip-Hop ist männerdominiert wie kaum ein anderes Genre und sowohl die visuelle als auch inhaltliche Darstellung von Frauen und Minderheiten ist oft zutiefst verachtend, wie kürzlich der Eklat um antisemitische Textzeilen bei Kollegah und Farid Bang mal wieder offenbarte. Aber nicht nur in der Welt der Prominenz finden sich sexistische, rassistische und homophobe Strukturen; diese ziehen sich vielmehr durch den gewöhnlichen Alltag, wie sich nicht nur am Erstarken von Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums, sondern auch anhand verschiedener Studien immer wieder zeigt. Für meinen und den Alltag vieler Leser*innen dieses Blogs ist hier insbesondere auch auf die Universitäten zu verweisen, insofern gerade die akademische Philosophie besonders weiß und männlich geprägt ist.
Vor diesem Hintergrund betrachtet lässt sich die auf Spacey gerichtete Empörung als eine Verkürzung und Vereinfachung des Problems deuten: es ist schlicht einfacher und bequemer, einzelne Filme zu boykottieren, als sich mit hierarchischen und sexistischen Strukturen der gesamten Filmindustrie auseinander zu setzen und entsprechenden Protest zu artikulieren und es ist wesentlich angenehmer, den Blick auf ferne Hollywood-Größen zu lenken und deren Fehlverhalten anzuprangern, als sich kritisch und reflektiert mit dem alltäglichen Sexismus und Rassismus vor der eigenen Haustür zu befassen.
Die Ächtung Spaceys innerhalb der eigenen Branche stellt im Übrigen selbst in gewisser Hinsicht ein Mittel zur Reproduktion hierarchischer Machtverhältnisse als deren Sanktionierung dar: „Sexuell übergriffig und auch noch homosexuell – da muss schnell der moralische Vorhang drüber geworfen werden“. In diesem Kontext darf nicht unerwähnt bleiben, dass andere Künstler weit schwerwiegenderer Vergehen angeklagt und strafrechtlich verurteilt worden sind, ohne dass dies ihrem Ansehen irgendeinen Schaden zugefügt hätte. Dem Image der Red Hot Chili Peppers beispielsweise hat ihr respektloser und zum Teil krimineller Umgang mit Frauen jedenfalls scheinbar eher genutzt als geschadet. Diese Beobachtung wirft schließlich die Frage auf, nach welchen Kriterien sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf das moralische Verhalten spezifischer Künstler*innen richtet beziehungsweise, ob sie überhaupt irgendwelchen Kriterien folgt.
Fazit
Insgesamt stützen diese Überlegungen meine anfängliche Intuition, dass es moralisch erlaubt ist, weiterhin Filme mit Kevin Spacey anzusehen. Wer feststellt, dass ihm oder ihr der ästhetische Genuss dieser Filme nicht mehr möglich ist, dem oder der steht es frei, sie nicht mehr anzusehen. Ebenso steht es jedem frei, Spacey privat zu „boykottieren“. Als soziale Sanktion unmoralischen Verhaltens ist ein organisierter oder angedrohter Boykott an der Kinokasse wirksam, insofern er Spacey einen erheblichen Imageschaden zugefügt und finanzielle Gewinne auf absehbare Zeit verunmöglicht hat. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Unschuldige betroffen sind und ein unendlicher Boykott, der der reinen Bestrafung und nicht der Änderung eines bestimmten Verhaltens dient, im Falle von Kevin Spacey als unverhältnismäßig zu bezeichnen ist. Von unserem Ansehen eines bereits abgedrehten Films, wie Margin Call, profitiert Spacey ohnehin nicht mehr. Schließlich habe ich darauf hingewiesen, dass die auf Spacey gerichtete Empörung geeignet ist, das grundlegende Problem hierarchischer Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse sowohl in Hollywood als auch vor der eigenen Haustür zu verschleiern. Einen Film mit Spacey nicht gesehen zu haben, löst dieses Problem nicht im Ansatz; aber einen Film mit Spacey anzusehen und dadurch zum Nachdenken über diese Problematik animiert zu werden, ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Literatur
Friedman, Monroe (2001): Ethical dilemmas associated with consumer boycotts. Journal of Social Philosophy 32(2): 232-240.
Rautenberg, Hanno (2018): Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Berlin: Suhrkamp.