29 Okt

Das Nichtwissen über die Verfasstheit unseres Geldes

von Simon Derpmann (Münster)


Henry Ford wird ein Bonmot zugeschrieben, gemäß dem wir angesichts des Nichtwissens über die Verfasstheit unseres Geldes erleichtert sein sollten, bzw. darüber dass die meisten Menschen die Funktionsweise des Geldwesens nicht thematisieren oder nur unvollständig begreifen: „it is well enough that people of the nation do not understand our banking and monetary system, for if they did, I believe there would be a revolution before tomorrow morning.“ Es mag zwar bezweifelt werden, ob eine breite Einsicht in die Grundmechanismen des Banken- und Geldwesen eine Revolution auslösen könnte, geschweige denn über Nacht. Gleichwohl ist es angesichts der zentralen gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes in der Tat bemerkenswert, wie wenig wir die fundamentalen Mechanismen des Geldsystems durchdringen, von dem wir doch ausnahmslos abhängen. Die Institution Geld ist maßgebend für die Zuschreibung ökonomischer Vermögensmacht, denn das Geldsystem stellt gewissermaßen eine dezentrale gesellschaftliche Bilanz dar, in der Guthaben und Verbindlichkeiten eines jeden Wirtschaftssubjekts, und damit Ansprüche an den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, verbucht werden. Insofern schiene es naheliegend anzunehmen, dass der Mechanismus der Geldschöpfung und -verteilung zum allgemein geteilten Wissensbestand gehörte. Wer würde sich nicht über eine Kartenspielrunde wundern, deren Teilnehmerinnen zwar um echte Einsätze spielen, aber nur vage oder falsche Vorstellungen davon haben, nach welchen Regeln der Spielstand notiert wird? 

Es ist nicht leicht zu sagen, ob das geringe gesellschaftliche Bewusstsein für die grundlegenden Mechanismen der Entstehung von Geld in dieser Form auf eine Verschwörung zurückzuführen ist. Allerdings schleicht sich der bereits von Ford aufgeworfene Verdacht ein, dass das Nichtwissen über die Funktionsweise des Geldes Voraussetzung der Aufrechterhaltung seiner gegenwärtigen Verfasstheit ist. Zwar ist die Herkunft von Bargeld in Form von Scheinen und Münzen kein Mysterium. Allerdings decken sich die Alltagsvorstellungen über die Entstehung der verschiedenen Formen von Buchgeld, von dem ein Vielfaches des Bargeldes in Umlauf ist, nicht mit dessen institutioneller Realität. Wer sich etwa in der einschlägigen Literatur umsieht, wird schnell feststellen, dass es sich hierbei eigentlich nicht um ein gut gehütetes Geheimnis handelt. Sowohl Zentralbanken als auch zahlreiche wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Publikationsorgane dokumentieren die Mechanismen der Geldschöpfung ausführlich und in variierenden Komplexitätsgraden. Gleichzeitig handelt es sich bei der Entstehung und Verteilung des Geldes aber um eine komplizierte Angelegenheit, die nicht deshalb einfacher wird, weil sie wichtig ist. Wenn ein zwingender Zusammenhang zwischen Bedeutung und gesellschaftlichem Bewusstsein bestünde, müssten wir alle auch mehr von Unternehmensbesteuerung, Überhangmandaten, Datensicherheit oder Insektensterben verstehen.

Die verblüffende Angelegenheit ist, dass auch unter Expertinnen, also etwa innerhalb der universitären Wirtschaftstheorie, darüber gestritten wird, welcher Mechanismus der Geldentstehung zu lehren sei. Die weitverbreitete Auffassung, dass es sich bei Geld um „loanable funds” handelt, also um eine feste Menge von Zentralbankreserven oder davon direkt abhängigen gegebenen Mitteln, die von Finanzinstituten nach Marktprinzipien angehäuft und verschoben werden, entspricht nachweislich nicht der Realität. Denn anders als bei orthopädischen Schuhen entsteht eine Einlage bei der Bank nicht zwingend dadurch, dass jemand etwas in sie hineingibt. Zwar ist die Einzahlung von Bargeld auf ein Konto eine Weise, auf die Buchgeld erzeugt werden kann. Aber dieses Geld hat nicht einfach nur den Ort gewechselt, so dass es nun ‚Geld auf der Bank‘ ist. Vielmehr findet sich Geld nun in zwei Vorkommnissen. Einerseits ist das eingezahlte Bargeld nun Geld der Bank, andererseits lässt sich das im Gegenzug eingeräumte Guthaben ebenfalls als Geld begreifen. Der weitaus interessantere und relevantere Fall ist der, in dem die Bank selbst Buchgeld schöpft, indem sie Kredite vergibt, die sie wiederum nicht aus einem irgendwie gearteten Geldbestand abzweigt, sondern ‚out of thin air‘ erzeugt. Denn für die Einräumung eines Guthabens braucht die Bank nicht eine konkrete Menge basaleren Geldes in ihren Kellern oder Tresoren. Sie erzeugt Kredite, und damit Geld, per Federstrich oder auf Knopfdruck. Das Modell, nach dem Banken bloße Intermediäre verleihbarer Mittel sind, die gewissermaßen die Ersparnisse der einen Subjekte in Kredite gegen andere Wirtschaftssubjekte verwandeln, ist demnach womöglich intuitiv zugänglich, verstößt aber gegen die unter anderem Albert Einstein zugeschriebene Regel, dass man die Dinge so einfach wie möglich machen sollte, aber eben nicht einfacher. Aufgrund der Wahrnehmung dieses weit verbreiteten Irrtums über die Geldentstehung sehen sich wohl etwa die Bank of England und die Bundesbank dazu veranlasst, zu verdeutlichen, dass die Geldschöpfung in modernen Ökonomien anders abläuft als es in vielen Lehrbüchern und -veranstaltungen im ersten Zugang vermittelt wird. Nebenbei bemerkt handelt es sich hier um keine Neuigkeit. Das ‚Intermediation of Loanable Funds‘ Modell ist nicht erst deshalb inadäquat, weil das Bank- und Kreditwesen in den vergangenen Jahrzehnten grundlegende Veränderungen erfahren hat. Vielmehr war das Modell schon zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts problematisch, wie man beispielsweise bereits bei Macleod, Schumpeter oder Commons nachlesen kann.

Unter Rückgriff auf diese Theorien der immer zusammen gedachten Geld- und Krediterzeugung lässt sich Geld als hierarchisch angeordnetes System von Zahlungsversprechen begreifen. An der Spitze dieses Systems, das oftmals als Pyramide begriffen wird, findet sich in gegenwärtigen Gesellschaften Zentralbankgeld, das Banken gegen Sicherheiten erhalten, und mit dem gewöhnliche Wirtschaftssubjekte in Form von Münzen oder Banknoten in Kontakt kommen. Darüber hinaus finden sich aber auch auf solches Geld lautende Zahlungsversprechen und Versprechen auf solche Versprechen, die wie Geld – oder besser gesagt: als Geld – zu gebrauchen sind. Schumpeter erfasst dieses grundlegende Phänomen der Alchemie des Kreditwesens wie folgt: „Während ich auf einer Forderung auf ein Pferd nicht reiten kann, so kann ich mit einer Forderung auf Geld unter Umständen ganz dasselbe tun wie mit diesem Geld selbst, nämlich kaufen.“ Das Versprechen einer Bank, Geld zu zahlen, ist Geld. Die Geldmenge ist demnach weder von außen gegeben, noch direkt durch Zentralbanken gesetzt. Sie ist vielmehr davon abhängig, welche Zahlungsversprechen hinreichendes Vertrauen genießen, um weiterhin als Geld zirkulieren können. Die erneuten Sorgen um die Stabilität des Finanzsystems angesichts des sich anbahnenden wirtschaftlichen Fallouts der gegenwärtigen Pandemie sind nicht zuletzt wegen dieser Abhängigkeit berechtigt. Wenn das Vertrauen in Zahlungsversprechen von Banken nicht mehr gegeben ist, dann kann Geld nicht nur nicht mehr aus bloßer Luft geschaffen werden, sondern sich ebenso in Luft auflösen.

Man muss keinen Verschwörungstheorien anhängen, um die Frage interessant zu finden, warum die gegenwärtige wirtschaftswissenschaftliche Lehre hinsichtlich des basalen Ursprungs des Geldes auf einem Auge blind ist oder es verschließt. Die Studierendenverbände „Rethinking Economics“ und das deutsche „Netzwerk Plurale Ökonomik“ fordern in offenen Briefen die Verantwortlichen in der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre dazu auf, die verzerrende Darstellung des Modells der ‚intermediation of loanable funds‘ aufzugeben oder zumindest mit Kontextwissen zu garnieren. Auch wenn manche diesen Streit als Scheindebatte verstehen, deutet das Vorliegen der Kontroverse auf ein unzureichendes Verständnis des Geldwesens hin, und auf ein mangelndes Bedürfnis hier mehr Klarheit zu schaffen. Jedem Argument oder Modell, das nicht voraussetzt, dass Geld allein durch die Bereitschaft entstehen kann, einen Kredit einzuräumen, den dritte zur Zahlung annehmen, sollten wir reflexartig mit der Rückfrage begegnen, warum es dies nicht tut. Die Frage, welche Akteure unter welchen Bedingungen buchstäblich Geld produzieren, scheint keine Marginalie zu sein, die selbst innerhalb der Ökonomie nur Spezialistinnen zu interessieren hat. Denn diese Leerstelle bleibt nicht ohne Folgen. Nur eine Gesellschaft, die hier eine geldtheoretische Fiktion unhinterfragt hinnimmt, kann Theresa May ihr „there is no magic money tree“ durchgehen lassen. Denn natürlich gibt es, metaphorisch gesprochen, einen magischen Geldbaum, auch wenn dessen Funktionsweise den meisten Parlamentsabgeordneten schleierhaft ist. Man kann sich darüber streiten, wie dieser Baum zu pflegen ist und nach welchen Regeln seine Früchte zu ernten sind, wie es etwa in der jüngeren Debatte um die Möglichkeiten der Finanzierung einer expansiven Fiskalpolitik über eine expansive Geldpolitik innerhalb der ‚Modern Money Theory‘ auch getan wird. Und obwohl es von größter Wichtigkeit ist, behutsam mit der Erzeugung staatlicher oder zentralbanklicher Verbindlichkeiten umzugehen, wird die implizite Unterstellung einer extern beschränkten Geldmenge oftmals vorgeschoben, um eine mit Karl Marx gesprochen ‚naturwüchsige‘ Begründung für ausbleibende öffentliche Leistungen und Investitionen vorweisen zu können. Die Beschaffenheit des Geldes stützt diese Argumentation jedoch nicht, denn sie orientiert sich weniger am Energieerhaltungssatz der Physik als an der Logik der doppelten Buchführung. Das Zurückfallen in die Vorstellung von Geld als einer äußerlich gegebenen Ressource — nach der auch solche Komplementärwährungen modelliert sind, in denen Geldvorkommnisse wie Edelmetallvorkommnisse im Prozess des ‚mining‘ gefördert werden — verdankt sich vermutlich nicht zuletzt der in der Ökonomie beliebten hypothetischen Geschichte des Geldes, in der Gold als Geldware den Warentausch vermittele, und erst im letzten Schritt gesellschaftlicher Entwicklungen durch Kreditbeziehungen hypostasiert werde. Diese Erzählung ist einerseits faktisch inadäquat, insofern die geschichtlichen Ursprünge verschiedenster Gelder in der Vermittlung von Kreditbeziehungen liegen. Andererseits ist diese Fiktion gefährlich, zumindest gemäß Karl Polanyis Auffassung, für den die Gleichsetzung von Geld und Gold einen zentralen Beitrag zur Zersetzung gesellschaftlicher Institutionen vor und zwischen den Weltkriegen geleistet hat. Der Irrtum über die Verfasstheit modernen Geldes, der sich mangelndem Wissen über den deontischen Ursprung des Geldes in Kreditbeziehungen verdankt, hat also soziale und politische Konsequenzen.

Welcher Erklärung auch immer sich der Umstand verdanken mag, dass fundamentale Aspekte der Beschaffenheit des Geldes sowohl im Alltagsverständnis als auch unter Expertinnen und Spezialistinnen missverstanden, ausgeblendet oder vernachlässigt werden, ist nicht leicht zu beantworten. In vielen Fällen, in denen aber tatsächlich ein mangelndes Verständnis oder blankes Unwissen vorliegt, können wir bei Upton Sinclair nach einer Erklärung suchen: „It is difficult to get a man to understand something, when his salary depends upon his not understanding it!“


Simon Derpmann  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Seminar der WWU Münster. Er interessiert sich für Sozial- und Moralphilosophie und für deren Berührungspunkte mit der Wirtschaftstheorie. Gegenwärtig befasst er sich mit möglichen Grund- und Widerlegungen des Geldeigentums.

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