11 Okt

Das Nichtwissen und die Philosophie – Rückblick auf den Themenschwerpunkt

von Tim Kraft (Regensburg)


Als wir hier auf Präfaktisch im Oktober 2019 den Themenschwerpunkt „Nichtwissen“ starteten, der mit diesem Beitrag zu einem Ende kommt, hatten wir viele Erwartungen, aber mit mehreren Dingen haben wir nicht gerechnet. Zuerst einmal haben wir nicht gewagt, damit zu rechnen, dass es – inkl. diesem Rückblick – 24 blog posts werden würden mit Beiträgen von begrifflichen Grundsatzfragen bis hin zu Anwendungen auf Geld, Liebe und Politik werden würden. Ebenso wenig haben wir erwartet, dass sich das Thema Nichtwissen als dermaßen aktuell und vielschichtig erweisen würde.

Vor diesem Hintergrund dient dieser Rückblick zwei Zwecken: Erstens nutze ich ihn, um aus der Rückschau über das Thema „Nichtwissen“ zu reflektieren und aus den Beiträgen zwei, drei Lektionen über den philosophischen Umgang mit Nichtwissen zu ziehen. Zweitens ist der Rückblick eine Gelegenheit, die erschienenen Beiträge zu sammeln und die in loser Folge erschienenen Beiträge thematisch miteinander zu vernetzen. Wer den Schwerpunkt in den vergangenen drei Jahren verfolgt hat, kann sich daher an die Beiträge und die von ihnen abgedeckte thematische Breite erinnern lassen, und wer ihn nicht verfolgen konnte, kann diesen Rückblick als Einstiegshilfe zu den erschienenen Beiträgen nutzen.

Nichtwissen als Thema der Philosophie

In den in diesem Themenschwerpunkt zwischen Oktober 2019 und März 2022 erschienenen Beiträgen werden May, Merkel und Trump erwähnt, während Truss, Scholz und Biden noch nicht vorkommen. Daraus zu schließen, dass Philosophie immer nur Kommentare zum politischen Geschehen im Nachhinein gibt, wäre jedoch ein falscher Eindruck: Die Klimakrise, Rassismus und white ignorance waren neben vielen anderen Anwendungsbereichen von Anfang Themen des Schwerpunkts, aber Pandemien, Kriege, Energiekrise und das Entstehen neuer Formen des Einsatzes gegen Nichtwissen, wie populäre Podcasts und vermehrte Talkshowauftritte von Wissenschaftler:innen, waren uns beim Schreiben der Einleitung nicht als Themen im Sinn. Wie die späteren Beiträge gezeigt haben, ist es unter anderem deshalb so reizvoll, über Nichtwissen nachzudenken, weil sich diese und andere tagesaktuelle Themen als Beispiele aufdrängen. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Themen und Rollen des Nichtwissens in den Vordergrund rücken! Das ist eine Lektion, die aus dem Schwerpunkt gezogen werden kann: Was wir wissen und nicht wissen und wie wir damit umgehen, dass wir manches wissen und anderes nicht wissen, ist ständig im Fluss und damit auch die philosophische Reflexion über Nichtwissen. Schon aus diesem Grund ist das Thema Nichtwissen spannend für Philosoph:innen, die in der Philosophie eine akademische Disziplin sehen, die (auch) in tagesaktuelle Debatten eingreift.

Es ist ein Gemeinplatz, dass Negationspartikel wie „nicht-“ und „un-“ nicht immer nur die Negation oder Abwesenheit von etwas anzeigen: Etwas ist zum Beispiel nicht schon dann unheimlich, wenn es nicht heimlich ist, und mein Fahrrad ist nicht schon deshalb ein Nichtwähler, weil es nicht an der letzten Wahl teilgenommen hat. Nichtwissen steht daher nicht alleine da mit der Eigenschaft, dass Nichtwissen nicht (nur) als Negation oder Abwesenheit von Wissen verstanden werden kann: Wenn Nichtwissen thematisiert wird, soll in der Regel etwas thematisiert werden, was man wissen kann, wissen soll oder wissen will, aber aus dem einen oder anderen Grund nicht weiß. Ähnliches gilt für andere „Nicht“-Themen der Philosophie: Nicht alle Fälle von Nichttun sind Fälle von Unterlassungen, es gibt verschiedene Formen des Nichtkönnen – Nichtkönnen, weil der Person die Fähigkeit fehlt oder weil die situativen Umstände es ihr unmöglich machen – und Nichtkommunizieren ist, da man bekanntlich nicht nicht kommunizieren könne, ein Paradox eigener Art. Ebenso sind Nichtmüssen und Nichtsollen, Nichtwollen, Nichtbefassen, Nichtinteresse, Nichtverstehen, Nichtbemerken, Nichterkennen, Nichtglauben, Nichtfühlen usw. nicht einfach die Abwesenheit von etwas, sondern eigenständige Phänomene. Dies ist eine zweite Lektion, die sich aus dem Themenschwerpunkt ziehen lässt: Wie andere „Nicht“-Themen der Philosophie wirft auch Nichtwissen einige begriffliche Grundlagenfragen auf, die kontrovers diskutiert werden.

Was das Nichtwissen von diesen (potentiellen) „Nicht“-Themen der Philosophie unterscheidet, ist vor allem folgendes: Nichtwissen ist nicht nur begrifflich schwer zu fassen, sondern schillert auch zwischen zwei normativen Grundintuitionen. Einerseits ist Wissen ein Ideal par excellence und Nichtwissen damit ein Scheitern an diesem Ideal. Die Überwindung des Nichtwissens ist Antrieb für wissenschaftliche Unternehmungen und Voraussetzung für rationales und moralisches Handeln. Andererseits hat Nichtwissen viele positive Funktionen. So ist Nichtwissen Voraussetzung für Objektivität (z.B. Schleier des Nichtwissens, randomisierte kontrollierte Studien), schützt Nichtwissen Privatheit und ist die Einsicht in das eigene Nichtwissen(können) etwas sehr Menschliches. Es sind diese vielen Rollen, die das Nichtwissen einnimmt, die Nichtwissen zu einem Querschnittsthema der Philosophie machen. Das ist eine dritte Lektion, die eine (Re-)Lektüre der Beiträge nahelegt: Wenn es um Nichtwissen geht, sollte es nicht nur um die großen, allgemeinen Fragen um Nichtwissen – was können wir wissen, was wollen wir wissen? – gehen. Stattdessen erhält Nichtwissen als philosophisches Thema seine Konturen und Brisanz aus den vielen Lebens- und Alltagskontexten, in denen Nichtwissen eine zentrale Rolle spielt.

Die Beiträge im Überblick

Die Beiträge des Themenschwerpunkt lassen sich systematisch in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe behandelt begriffliche und erkenntnistheoretische Fragen, die zweite Gruppe normative Fragen und die dritte Gruppe Nichtwissen als Querschnittsthema. All dies kann nun im Zusammenhang nachgelesen werden in den Beiträgen des Themenschwerpunkts:

A Begriffliche und erkenntnistheoretische Aspekte des Nichtwissens

  1. Die Wahrheit des Nichtwissens von Tim Kraft
  2. „Nicht wissen“ und „Nicht-Wissen“. Begriffsanalytische und sprachpragmatische Betrachtungen von Wolfgang Lenzen
  3. Unwissenheit als Unvermögen von Hannes Worthmann
  4. „Das wüsste ich aber!“ – Zur Ehrenrettung des argumentum ad ignorantiam von Hans Rott
  5. „Warum sollte ich’s besser wissen als andere?“ Meinungsverschiedenheiten als Quelle des Nichtwissens von Marc Andree Weber
  6. Die Grenzen unseres Wissens vom Guten von Falk Hamann
  7. „Know nothing“ als Resultat des Philosophie- und Ethikunterrichts? von Clemens Sander

B Ethische Aspekte des Nichtwissens

C Nichtwissen als Querschnittsthema

  1. Nicht mehr wissen, wer man ist? Formen des Nicht-Wissens im Kontext der Demenz von Martina Schmidhuber
  2. Risikogruppenstatusleugnung und Normalgruppenstatusbekräftigung während der COVID-19-Pandemie von Tim Kraft
  3. Das Nichtwissen über die Verfasstheit unseres Geldes von Simon Derpmann
  4. Wahlrecht nur für Wissende? von Jonas Carstens
  5. Liebe, Verliebtheit und Nichtwissen von Michael Kühler
  6. Was, wenn wir nicht wissen, dass wir einen Android lieben? von Michael Kühler
  7. „Chaos in Ordnung bringen“ – Zum Umgang mit Unsicherheit
    und Ungewissheit im Recht
    von Ino Augsberg
  8. Das Nichtwissen und das Unbewusste – Psychoanalytisch-philosophische Betrachtungen von Hilmar Schmiedl-Neuburg

Zum Abschluss bleibt mir nur noch, einen großen, herzlichen Dank an meine Ko-Herausgeberin, Andrea Klonschinski, den Herausgeber:innen von präfaktisch, insbesondere Gottfried Schweiger, und vor allem an alle Beiträger:innen auszusprechen: Danke!


Tim Kraft ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie an der Universität Regensburg. Er forscht und lehrt vor allem zu Themen aus der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie.

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