30 Jul

Das Nichtwissen und das Unbewusste – psychoanalytisch-philosophische Betrachtungen

von Hilmar Schmiedl-Neuburg (Kiel)


1.      Das Nichtwissen und das Unbewusste in der Psychoanalyse

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“. So eröffnet Sokrates in seinen aporetischen Dialogen die Epoche der klassischen griechischen Philosophie und charakterisiert im Symposion Platons die gesamte Philosophie, schon von ihrem Namen her, als ein liebendes Suchen der Weisheit und damit auch als ein Wissen um das eigene Nichtwissen. Die Problematik des Nichtwissens ist insofern der Philosophie als Hauptfrage schon zu ihrem Beginn in ihren Namen gelegt und wurde von ihr in ihrer Geschichte stets von Neuem thematisiert.

    Aber nicht nur für die Philosophie bildet das Wissen um das Nichtwissen ein, wenn nicht sogar das Zentrum ihrer Selbstverständigung; ein Gleiches gilt für die Psychoanalyse, denn auch die freudsche Analyse zielt im Kern auf das Nichtgewusste und ist sich dabei ihres eigenen Nichtwissens hochbewusst. Im psychoanalytischen Kontext zeigt hierbei der Begriff des Nichtwissens neue konzeptuelle Facetten. Anders als in der phänomenologischen Philosophie (so bei Sartre oder Heidegger) und der phänomenologischen Psychotherapie (etwa bei Rogers, Perls oder Boss), welche Nichtwissen nur als ein Nichtwahrnehmen/Nichterscheinen verstehen und das Nichtgewusste als nicht im Gewahrsein Seiendes, als nicht Nichtwahrgenommenes/Nichterschienenes auslegen, expliziert die Psychoanalyse Nichtwissen bewusstseinsphilosophisch als Unbewusstheit oder Unbewusstes und meint damit nicht nur etwas dem wahrnehmenden Gewahrsein Entgehendes, sondern auch zwar Wahrgenommenes/Erschienenes und dem Bewusstsein zu einem früheren Zeitpunkt Zugängliches, aber dann in Latenz, also Verborgenheit, Verdrängtes.

    Das Problem des Nichtwissens in Form der Unbewusstheit oder des Unbewussten bildet den Kern der Psychoanalyse, sowohl als einer psychologischen Theorie wie als eines psychotherapeutischen Verfahrens, da zum einen Freud die Psychoanalyse explizit als Psychologie des Bewusstseins und des Unbewussten versteht und diesem zudem gegenüber dem Bewusstsein einen umfassenderen und grundlegenderen Status einräumt, und zum anderen die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren ihr Ziel eben in der heilend-ermächtigenden Bewusstwerdung des Unbewussten erblickt, um so durch dieses Wissen das Ich wieder zum Herrn im eigenen Hause werden zu lassen.

Eine erste Ausdifferenzierung fand der für die Psychoanalyse so zentrale Topos des Unbewussten schon in der Philosophie der Romantik, ein knappes Jahrhundert vor Freud. In der Philosophie, Lyrik und Poetik der Brüder Schlegel, Novalis‘ und Schellings wurde das Andere des Bewusstseins und der Vernunft, als Unbewusstes, Wider-, Anders-, Un- oder Übervernünftiges bzw. als Traum, Phantasie oder Märchen begrifflich und literarisch entfaltet. Auch die sich anschließende romantische Literatur, etwa die E.T.A. Hoffmanns, sowie die Schriften der Lebensphilosophie – man denke an Nietzsches Diktum vom Leib als der großen Vernunft – zeugen von einer Sensibilität gegenüber Phänomenen des Unbewussten in der Philosophie, der Literatur und der Kunst. Allerdings unterschieden sich die Auffassungen des Unbewussten in diesen Traditionen doch in wichtigen Hinsichten von denen der Psychoanalyse, denn diese Strömungen dachten das Unbewusste oft als ein (tierisches oder archaisches, vor-/unvernünftiges) Unterbewusstsein, ein (transzendentales) Hinterbewusstsein, ein (luziferisches) Widerbewusstsein einschließlich dessen Widervernunft, ein (träumerisches, phantastisches, schöpferisches) Andersbewusstsein oder ein (göttliches, übervernünftiges) Überbewusstsein, wohingegen das Unbewusste bei Freud eher die Konnotation des gänzlich Anderen, Fremden, Unbekannt-Entzogenen mit sich führt. Auch die dem Unbewussten in der Romantik of zugeschriebene Bildlichkeit und quellhafte Ursprünglichkeit, wie auch die Möglichkeit, mit ihm in Dialog zu treten, erscheinen der Phänomenologie des freudschen, psychoanalytischen Unbewussten eher fern. C.G. Jung hingegen führt in seiner analytischen Auffassung des Unbewussten all diese romantischen Fäden zusammen, was die Vermutung zulässt, dass der Bruch Freuds und Jungs auch Resultat ihrer unterschiedlichen Auffassungen des Unbewussten war (Freud 1975ff.; Jung 1995).

2.      Das freudsche Unbewusste und sein rabbinisches Erbe

Nun erscheint auch der freudschen Psychoanalyse das Unbewusste als das Andere oder Gegensätzliche und zugleich als Urgrund, Untergrund oder Hintergrund des Bewusstseins und der Vernunft. Doch das romantische Unbewusste bewahrte hierbei trotz seiner Andersartigkeit eine Zugänglichkeit und Wissbarkeit, gegenüber der sich das Unbewusste der freudschen Analyse, zumindest in einer seiner beiden Verständnisweisen verschließt. Der Begriff des Unbewussten oszilliert bei Freud nämlich zwischen zwei Auffassungen: Der Naturwissenschaftler Freud vertritt dabei ein Verständnis des Unbewussten als eines wissenschaftlich, positiv erklär- und analysierbaren Phänomens, das seine vollständige Aufklärung in seinen Theorien zur Triebdynamik, Psychosexualität und Verdrängung findet. Gleichzeitig schreibt der Psychotherapeut, Poet, Philosoph und säkulare Rabbiner Freud über das Unbewusste als das schlechthin Entzogene, Andere und Fremde, welches sich nur entstellt am Bewusstsein zeigt und dessen Spuren wir zwar folgen, dessen wir aber niemals ansichtig oder habhaft werden können.

Das freudsche Unbewusste in diesem zweiten Sinne ist nicht schlicht ein anders Bewusstes, sondern das gänzlich Andere des Bewusstseins, das diesem ganz Fremde, ein Geheimnis und Rätsel, das sich nur als Spur dem Bewusstsein zeigt. Das Unbewusste ist mithin immer latent, verborgen, nie greifbar, immer entzogen. Es zeigt sich nur indirekt in seinen Effekten, negativ als Entstellung oder Verfälschung am Bewusstsein bzw. an dessen Gehalten. Es hinterläßt verfälschte, entstellte, getarnte Spuren, in denen es nur als Absenz präsent ist und welche wir in einer Psychoanalyse zu entziffern versuchen, ohne des Unbewussten selbst jemals gänzlich oder unverstellt ansichtig zu werden oder es gar zu begreifen oder zu wissen.

    Die angemessene epistemische, ethische und therapeutische Haltung zum Unbewussten bzw. zur Unbewusstheit in diesem Sinne umschreibt Bion (1992a,b) als negative capability, als die psychoanalytische Fähigkeit des Nichtwissens und des emotionalen Ertragens dieses Nichtwissens, die sich etwa in seiner Mahnung an den Analytiker oder die Analytikerin zeigt, jede Analysestunde „without memory, desire or understanding“ zu beginnen. Nichts wissen, nichts wollen, nichts erinnern, nichts verstehen, nur einfach in gleichschwebender Aufmerksamkeit den Spuren des Unbewussten, die es als entstellend-verfälschende Verdichtungen und Verschiebungen, etwa im manifesten Traum, in der Übertragung oder in den Assoziationen des Analysanden hinterlassen hat, zu folgen, frustrationstolerant Irrwege in Kauf zu nehmen, und diese Spuren zu entziffern versuchen, erscheint Bion, wie Freud, als die einzig dem Rätsel und der Entzogenheit des Unbewussten angemessene psychoanalytische Haltung und Praxis. Dieser Umgang mit der Unbewusstheit, dem Nichtwissen, der sich in der negative capability ausdrückt, zeigt sich so als Kern der Psychoanalyse.

Doch woraus speist sich diese freudsche Auffassung des Unbewussten, außer dass sie zumindest aspektweise an die romantische Tradition anschließt? Mir scheint, dass die freudsche Psychoanalyse in ihrem Verständnis des Unbewussten mannigfaltige Einsichten der rabbinischen Tradition in säkularer Form in sich aufgehoben hat. Denn nicht nur die sokratischen Dialoge der griechischen Philosophie wissen um das Ineinander von Vernunft und Nichtwissen, auch die rabbinischen Lehrgespräche im jüdischen Talmud, der Niederschrift der mündlichen Lehre und ihrer Kommentare, kreisen oft um diese Themen, wertschätzen die menschliche Vernunft und erinnern gleichzeitig an ihre Vorläufigkeit, ihre Begrenztheit, ihr Nichtwissen.

    Die freudsche Auffassung des Unbewussten als eines ganz Anderen, welches, wie die Traumdeutung Freuds zeigt, nicht bildlich ist, sondern sich vielmehr in Bildern verbirgt und dem nur durch die analytische Zerstörung der verstellenden (Traum-)Bilder – eine Verbindung zum Bilderverbot in der Thora – und durch die (unendliche) Suche der Spuren des Unbewussten auf dem Wege freier Assoziation und deutender Analyse nachgegangen werden kann, verweisen auf die rabbinischen assoziativ-analytischen Deutungspraktiken im Talmud. Auch das hiermit verwobene zeichenhafte Verständnis der Spuren des Unbewussten, ebenso wie die Sprach- und Sprechorientierung der Psychoanalyse, die stets versucht, das Unbewusste in die Sprache und das Sprechen zu bringen und so das Nichtwissen in Wissen zu überführen, speisen sich aus der besonderen Schriftorientierung der rabbinischen Tradition. Das psychische Zusammenspiel von unbewusstem Primärprozess und bewusstem Sekundärprozess sowie die Interaktion von freier Assoziation und durchdachter Deutung in der Psychoanalyse hingegen erinnern beide nicht zufällig an das Zusammenspiel von Chokmah und Binah, dem spontanen Geistesblitz und dem ihn ausarbeitenden Durchdenken, den beiden geistigen Sephiroth der Kabbalah, also den Emanationen des Göttlichen, welche sich auch als Aspekte unseres Menschseins zeigen. Und auch in der Form hebt die Psychoanalyse etwas aus der rabbinischen Tradition auf, denn wie in den talmudischen Streitgesprächen eine Wahrheit nur auf den Wegen der Vernunft und nur im Dialog und nur vorläufig für hier und jetzt und stets unter dem Vorbehalt der Änderung gefunden wird, so gilt ein Gleiches für die Deutungswahrheiten im analytischen Dialog, welche ebenfalls im Moment der Deutung Verstehen ermöglichen, ohne Anspruch auf Ewigkeit oder Makellosigkeit. Schließlich gleicht die Entzogenheit des Göttlichen, welche sich schon in der Unaussprechlichkeit des Gottesnamens JHWH zeigt, der Entzogenheit des Unbewussten und die rabbinische Rede von den Interpretationen der Thora als ihren Schleiern, welche die Wahrheit der Thora stets zugleich enthüllen wie verhüllen und damit die Wahrheit nur in notwendig auch konfligierender interpretatorischer Vielheilt zugänglich werden lassen, entspricht genau der Rolle der Deutungen des Unbewussten und des Wissens in der freudschen Psychoanalyse. Denn im rabbinischen Judentum wie in der freudschen Psychoanalyse gilt: Nicht die eine offenbar(t)e Wahrheit und das gewisse, unumstößliche Wissen macht uns frei, sondern die vielen vorläufigen, oft fehlenden und konfligierenden und stets unzureichenden, vom Nichtwissen gezeichneten Einsichten.

3.      Formen des Unbewussten/Nichtwissens in der Psychoanalyse

Erweist sich so das freudsche Unbewusste im Grundsatz als das gänzlich Fremde, als Rätsel und Geheimnis, welches immer nur als verfälschte Spur an einem ihm Anderen erscheint, lassen sich gleichwohl in diesem Rahmen verschiedene Formen oder psychoanalytische Verständnisweisen dieses Unbewussten bzw. dieser Unbewusstheit oder dieses Nichtwissens unterscheiden.

Eine erste Verständnisweise des Unbewussten bzw. des Nichtwissens akzentuiert den negativen Charakter des Unbewussten, also, dass von diesem, wie es schon der Begriff des Unbewussten selbst ausspricht, nur gesagt werden kann, was es nicht ist. In dieser Perspektive erscheint das Unbewusste als das, was bleibt, wenn alles verneint wurde, was es nicht ist. Das Unbewusste wirkt so wie ein Nichts, eine Dunkelheit und Leere, aller Bestimmung entzogen. Es zeigt sich nur als Negativität oder Absenz am Positiven, Manifesten, etwa als Entstellung oder als Spur und Fährte, in der es nur in seiner Wirkung präsent ist und ansonsten gänzlich verborgen, latent bleibt.

    Dabei kann dieses Nichts, diese Negativität, diese Leere auf zweifache Weise erfahren werden. Zum einen kann sie als zu füllender Mangel (an Wissen) erscheinen und einen korrespondierenden Willen zum Wissen, ein Begehren entfachen, das Unbewusste bewusst werden zu lassen. Dieses Verständnis wird in Freuds Forderung, das Unbewusste bewusst werden zu lassen, deutlich und erinnert sogleich an den wissensdurstigen Eros des Sokrates im platonischen Symposion. Insoweit das Unbewusste aber als Kern oder Grund unseres Selbst gilt und zugleich als eine solche Negativität, als ein Nichts oder auch als Mangel und Begehren erfahren wird, verweist es auch auf die Selbstbewusstseinskonzeptionen Hegels und Sartres, welche das Selbstbewusstsein, als Kern unseres Selbst, eben als ein solches Nichts, einen solchen Mangel und Begehren auffassen. Bei Freud wird diese grundlegende Negativität allerdings noch radikalisiert, da sie nun auch dem Selbstbewusstsein entzogen ist bzw. als Unbewusstes das Bewusstsein sogar fundiert.

    Zum anderen ist das Unbewusste als Nichts und Leere aber auch ein Ort der Freiheit, da unbegrenzt durch positive Bestimmungen – auch hier eine Parallele zu Sartres Bewusstseinsphilosophie –, in der das Nichts unseres Bewusstseins sich als Freiheit des Menschen manifestiert. Als ein Ort solch radikaler Freiheit erscheint das Unbewusste so als Ort der Kreativität, der Schöpferkraft und Produktivität, als Quell des Neuen. Diese Dimension des Unbewussten wird von Freud allerdings nur selten thematisiert, während sie für die Humanistische Psychologie das Hauptverständnis des Unbewussten darstellt. So läßt sich das Unbewusste phänomenologisch und gestaltpsychologisch, etwa in der Gestalttherapie Perls‘, als fruchtbarer Grund, als schöpferische Indifferenz verstehen, aus/auf dem sich neue Gestalten (z.B. Wünsche oder Gefühle) als Phänomen abheben können. Für Freud ist dieser fruchtbare Grund hingegen, eingedenk seiner Auffassung des Unbewussten als des Verdrängten, eher ein Sumpf oder Morast, ein Fäkalien- und Unterweltsstrom, dem Acheron gleich, wie als Motto von Freud zu Beginn der Traumdeutung zitiert, welcher zwar fruchtbar ist, als seine Abkömmlinge aber eher neurotische oder gar psychotische Nachtmahre gebiert.

Eine weitere, an die Auffassung des Unbewussten als Ort der Kreativität anschließende Verständnisweise faßt das Unbewusste und dessen Nichtwissen als Paradoxie, als Widerspruch. Hier zeigt sich das Unbewusste nicht als reine Negativität, sondern als Konflikt, Widerspruch und Bruch zwischen Positivitäten. Wenn etwa Freud in Das Unbewusste selbiges als negationslos, widerspruchslos, zeitlos und in Verdichtungen und Verschiebungen fließend charakterisiert, erscheint dieses weniger als Leere oder Nichts, sondern als Überfülle, in welcher Konflikte, Widersprüche und Brüche logischer oder auch temporaler Art unvermittelt und paradoxerweise friedfertig neben- und ineinander bestehen.

    In dieser Auffassung des Unbewussten als Paradoxon, d.h. als unvermittelter Konflikt oder Widerspruch als auch in seiner Kennzeichnung als Negativität eröffnet sich nun eine nächste Verständnisweise des Unbewussten, nämlich das Unbewusste als Bruch, Differenz, Barriere oder Diskontinuität. Philosophisch erinnert diese Auffassung an den Riß oder Schied Heideggers wie an die différance Derridas und beschreibt die Erfahrung des Unbewussten als die eines Bruches oder Schnittes, einer (negativen) Kluft zwischen Positivitäten. So spricht etwa die lacansche Psychoanalyse vom Unbewussten als konstituiert von Differenzen, als differentielles Nicht (sprachlicher) Zeichen zueinander, als Kluft oder Schnitt bzw. als Balken/Barriere im Subjekt, welches daher sich immer (partiell) fremd bleiben muß.

An dieses Verständnis des Unbewussten als Bruchs schließt sich die konzeptuell vergleichsweise einfachere Auffassung des Unbewussten bzw. der Unbewusstheit oder des Nichtwissens als Gespaltenheit und Unverknüpftheit an. Diese Facette des Unbewussten zeigt sich vornehmlich in der kleinianischen Psychoanalyse. Bei Klein (2015) und Bion (1992a, b) wird das Unbewusste in seiner archaischen Form als Fragmentierung verstanden. In den ersten Lebensmonaten des Babys gibt es in ihm kein Bewusstsein oder Wissen, sondern nur psychische Fragmentierung und Gespaltenheit in Form von sogenannten β-Elementen, d.i. ungedachten Protogedanken und Impulsen, Sinneseindrücken und Proto-Affekten. Erst durch die verdauende Verknüpfung dieser β-Elemente durch die Wissens- und Denkfunktion (α-Funktion) der Mutter zu α-Elementen, d.i. träum-, denk- und sprachfähigen Gedanken, konstituiert sich im Baby im Kontakt mit der Mutter dessen eigene Wissens- und Denkfunktion, und damit auch sein Bewusstsein, und transformiert sich sein archaisches Unbewusstes zu einem reifen.

In all diesen Formen erscheint das Nichtwissen bzw. das Unbewusste als ein Fehlen von Wissen, ein Nichtwissen von etwas, z.B. als Mangel von Wissen, als unaufgelöste Widersprüchlichkeit oder als Unverknüpftheit. Doch im Unbewussten als (freier/fruchtbarer) Negativität, als Paradoxon oder als differentieller Kluft/Barriere macht auch eine Erfahrung des Unbewussten als ein der Sprache grundsätzlich entzogenes Phänomen auf sich aufmerksam, in welchem das Unbewusste als Seinsgrund selbst erlebt und die von Bion als Erfahrung O gekennzeichnet wird. O ist die Erfahrung eines transzendentalen und fundierenden ‚Nichts‘, welches zwar erfahren und erlebt, aber nicht im positiven Sinne ‚gewusst‘ oder ausgesprochen werden kann.

    In diesen Überlegungen wird so abschließend deutlich, wie aus psychoanalytischer Sicht das Unbewusste bzw. das Nichtwissen sich oft der Überführung in Sprache entzieht, da es sich bei ihm häufig nicht um schlicht Ungewusstes, aber unproblematisch in Begriff und Sprache Ausdrückbares handelt, sondern um entweder grundsätzlich nicht oder nur höchst fehlend begrifflich und sprachlich Faßbares oder um sich der begrifflich-sprachlichen Erfassung aktiv Entziehendes, was uns zum Verhältnis von Nichtwissen, Unbewusstem, Affektivität und Begehren führt.

4.      Nichtwissen, Unbewusstes und das Begehren

Denn eine weitere Dimension des Nichtwissens und des Unbewussten in der Psychoanalyse ist deren inniger Zusammenhang mit Begehren, Wille und Affektivität. Schon für die Romantik und die Lebensphilosophie ist das Unbewusste Ausdruck des Lebens und des Leibes als (a-rationaler oder irrationaler) Ur- und Untergründe, Tiefen- und Hintergründe des Bewusstseins und der Vernunft. Unbändige Vitalität und Lebendigkeit, unbewusster Wille und Trieb, dionysisch-transgressive Affektivität kennzeichnen bereits hier das Unbewusste und machen seinen aktiven Charakter deutlich.

    Bei Freud wird diese Facette des Unbewussten noch auffälliger. Das Unbewusste ist für Freud eng mit dem Leiblichen verbunden, denn es existiert an der Schwelle zwischen Leib und Bewusstsein, und die leiblichen Triebe der Sexualität und der Aggression sind in Form der das Unbewusste bestimmenden Triebrepräsentanzen (etwa als unbewusster triebhaft-wunschhaft-dynamischer Phantasien) in diesem vertreten. Das Unbewusste Freuds ist ein leiblich-lebendig-triebhaftes Unbewusstes, voller Wunsch, Wille und lustvollem Begehren, aktiv, bewegt und unbewusst bewegend. Als ein solches wirkt das Unbewusste in das bewusste Leben des Menschen hinein und steuert dieses unbemerkt.

    Sogar in der Formierung von Erkenntnis schlechthin zeigen sich dabei die Wirkungen des psychosexuellen Unbewussten, wenn Freud in der Erkenntnis der Geschlechterdifferenz, d.h. der Präsenz oder Kastration/Absenz des Penis, die Grundlage für die Erkenntnis von Differenz und Negativität schlechthin als Basis aller Begriffsbildung verortet und Klein in der Präsenz oder, nach dem Biß des Babys in die Brust, der zeitweiligen Absenz und Negativität der Brust im Stillvorgang, die Vorlage für den Biß in die Frucht vom Baum der Erkenntnis erblickt.

    Schließlich kann sich das Unbewusste als aktives Begehren, Trieb und Wunsch vor diesem Hintergrund auch als ein bedeutsames Nichtwissen äußern, das der Philosophie in der Tendenz eher unvertraut ist. Denn die Philosophie kennt zwar das Nichtwissen in Form des (ggfls. noch) Nichtwissenkönnens, die Psychoanalyse aber ergänzt dieses um die therapeutisch so zentrale Form des zwar nicht notwendig, aber doch meist malignen Nichtwissenwollens (z.B. der freudsche Widerstand), d.h. der aktiven, durch spaltende unbewusste Affekte, wie Neid, Haß oder Wut, gespeisten, wunsch- und begehrensinduzierten Abwehr der Erkenntnis oder sogar der unbewusst angestrebten Zerstörung von Erkenntnis und Wissensverknüpfungen. Lediglich in der Ethik, etwa bei Kants Überlegungen zur selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen oder unserem alltäglichen ethischen Ausblenden des Leidens in der Welt, thematisiert die Philosophie verwandte Formen des Nichtwissenwollens.

Das Nichtwissen in Form des Unbewussten zeigt sich so mithin in der Psychoanalyse in vielfältigen Gestalten, welche die der Philosophie bekannten Formen des Nichtwissens, um unterschiedlichste Aspekte zu bereichern wissen.


Hilmar Schmiedl-Neuburg ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Lecturer am Philosophy Department der University of Massachusetts Boston, Dozent am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Kiel, und Lehrbeauftragter im Studiengang Klinische Psychologie und Psychotherapie der MSH Medical School Hamburg.


Literatur

Der Babylonische Talmud (2002), 12 Bände, Hg. Lazarus Goldschmidt, Jüdischer Verlag im Suhrkamp.

Bion, Wilfred (1992a): Elemente der Psychoanalyse, Suhrkamp.

Bion, Wilfred (1992b): Lernen durch Erfahrung, Suhrkamp.

Klein, Melanie (2015): Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse, Klett-Cotta.

Freud, Sigmund (2016): Das Unbewusste, Reclam.

Freud, Sigmund (1975ff.): Die Traumdeutung und Psychologie des Unbewussten. in: ders. Studienausgabe, 10 Bände, Band 2 und 3, Fischer.

Jung, Carl Gustav (1995): Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten (1928) sowie: Über die Psychologie des Unbewussten (1943). Beide in: Gesammelte Werke, Band 7: Zwei Schriften über Analytische Psychologie, Walter.

Platon (2004): Sämtliche Werke, Bände 1–3, Hg. Ursula Wolf, Rowohlt.

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