24 Dez

Die Wahrheit des Nichtwissens

von Tim Kraft (Universität Regensburg)


Was ist Nichtwissen? Da das Wort „Nichtwissen“ ein Kompositum aus einem Negationspräfix, „nicht“, und einem Substantiv, „Wissen“, ist, liegt es nahe, Nichtwissen als Negation, Nichtvorliegen, Abwesenheit oder Fehlen von Wissen zu verstehen. Wenn das zutrifft, ist die Eingangsfrage schnell beantwortet: Alle begrifflichen Fragen über Nichtwissen können beantwortet werden, indem man sich klar macht, was Wissen ist: Nichtwissen liegt genau dann vor, wenn die Bedingungen für Wissen nicht erfüllt sind. In diesem Beitrag möchte ich eine Schwäche dieses Bilds aufzeigen und dabei illustrieren, dass sich bereits anhand der grundlegenden Frage, ob Nichtwissen die Negation von Wissen ist, eine Reihe von faszinierenden philosophischen Probleme diskutieren lassen. Besonders herausgreifen möchte ich die Frage, wie sich Nichtwissen und Wahrheit zueinander verhalten. Die – vielleicht überraschende – These dieses Beitrags wird sein, dass Nichtwissen ebenso faktiv ist wie Wissen: Wir können sowohl Wissen als auch Nichtwissen nur von Wahrheiten haben.

Nichtwissen als Negationsbegriff

Wir wollen also die These prüfen, ob Nichtwissen ein Negationsbegriff ist und sich daher mittels der sogenannten Negationsthese analysieren lässt.

Negationsthese

Eine Person S ist nichtwissend über einen Sachverhalt P, genau dann, wenn es nicht der Fall ist, dass S weiß, dass P.[1]

Eine Person S ist nichtwissend über einen Sachverhalt P, genau dann, wenn es nicht der Fall ist, dass S weiß, dass P.[1]

Die Negationsthese hat einen unübersehbaren Vorteil: Wenn wir wissen, was Wissen ist, wissen wir auch, was Nichtwissen ist. Wir können dann einfach die Begriffsanalyse von Wissen in die Negationsthese einsetzen und erhalten eine Begriffsanalyse von Nichtwissen. Zu Wissen gehört wohl mindestens Wahrheit, Glauben und Rechtfertigung, so dass Nichtwissen dann vorliegt, wenn wenigstens eine dieser drei Bedingungen für Wissen nicht erfüllt ist. Nichtwissen über P liegt dann vor, (a) wenn es falsch ist, dass P, (b) wenn man nicht glaubt, dass P, oder (c) wenn man keine Rechtfertigung dafür hat, dass P. An einem Beispiel: Nichtwissen, dass die Sonne scheint, hat man, (a) wenn es regnet, (b) wenn man nicht glaubt, dass die Sonne scheint, oder (c) wenn man vor dem Aufstehen und ohne einen Blick aus dem Fenster einfach so davon ausgeht, dass die Sonne scheint.

Die Negationsthese führt somit zu einer einfachen Analyse von Nichtwissen, die die sprachliche und logische (Oberflächen-)Struktur des Begriffs respektiert. Dennoch sprechen auch einige Überlegungen dafür, dass es sich bei der Negationsthese um eine logische Fiktion und Vereinfachung handelt, die den Phänomenen nicht gerecht wird.

Erste Zweifel an der Negationsthese

Ein erster Anlass, sich über die Negationsthese zu wundern, besteht in der Mehrdeutigkeit von „Abwesenheit“ und verwandter Ausdrücke wie „Fehlen“ oder „Mangel“: Etwas kann nur fehlen, wenn es eigentlich vorliegen sollte oder zu erwarten ist. Etwas kann nur abwesend sein, dessen Anwesenheit zumindest möglich wäre. So kann an meinem Hemd ein Knopf nur fehlen, wenn an der fraglichen Stelle auch einer vorgesehen ist, und Sherlock Holmes kann nur dann bei meiner Geburtstagsparty abwesend sein, wenn er eingeladen war oder er zumindest von meiner Party wusste. Erklärt man nun Nichtwissen als Abwesenheit von Wissen, erbt „Nichtwissen“ diese Mehrdeutigkeit: Wissen könnte dann nur da fehlen oder abwesend sein, wo Wissen möglich ist und erwartet werden kann. Insofern diese Überlegungen darauf hinweisen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Fehlen oder der Abwesenheit von Wissen und dem schlichten Nichtvorliegen von Wissen, treffen sie fraglos zu. Dass es einen Unterschied gibt zwischen Nichtwissen als Negation (Nichtvorliegen von Wissen) und Nichtwissen als Privation (Abwesenheit, Fehlen, Mangel von Wissen), ist nicht strittig. Auf diesen Unterschied hinzuweisen, zeigt allein aber nicht, dass Nichtwissen eigentlich eine Privation statt einer Negation ist. Nichtwissen kann genauso gut auch als Überbegriff für alle Formen der Abwesenheit, des Fehlens und des Nichtvorliegens von Wissen verstanden werden.

Nichtwissen und Wahrheit

Ein zweiter Anlass, an der Negationsthese zu zweifeln, kommt auf, wenn man schaut, wie Zuschreibungen von Nichtwissen üblicherweise verstanden werden:

  • Keiner meiner Studierenden weiß, dass Kant die Phänomenologie des Geistes geschrieben hat.
  • Andrea weiß nicht, dass wir uns heute im Hirsehimmel treffen.
  • Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!

Eine angemessene Reaktion auf Äußerungen dieser Sätze ist „Hä? Die Phänomenologie ist doch von Hegel!“, „Huch! Ich wusste gar nicht, dass wir heute in den Hirsehimmel gehen!“ oder „Ha! Das Männchen hat verraten, wie es heißt!“. Diese Reaktionen setzen voraus, dass das, was nicht gewusst wird, wahr sein muss. Denn sonst wäre (1) trivial wahr und (2) und (3) ließen keinerlei Rückschluss über Treffpunkt oder Namen zu. Das Männchen könnte sonst (3) auch dann singen, wenn es Detlef hieße, und (2) träfe auch dann zu, wenn wir im Schwarzen Bären verabredet wären. Auf den ersten Blick mag das überraschen, aber diese sprachlichen Beobachtungen sprechen dafür, dass Nichtwissenszuschreibungen ebenso faktiv verwendet werden wie Wissenszuschreibungen: So wie man nur Wahrheiten wissen kann, kann man auch nur Wahrheiten nichtwissen.[2]

So eindeutig ist es jedoch leider nicht. Denn es gibt auch Beispiele von Zuschreibungen von Nichtwissen, in denen nicht vorausgesetzt wird, dass das, was nicht gewusst wird, wahr ist:

  • Niemand weiß, dass es Gott gibt.
  • Auch im Mittelalter wusste man nicht, dass die Sonne sich um die Erde dreht.
  • Hör bitte mit deinen haltlosen Anschuldigungen auf. Du weißt doch gar nicht, dass Ben das Geld aus der Spendendose gestohlen hat.

Typische Äußerungen dieser Sätze legen gerade nicht nahe, dass es Gott gibt, dass die Sonne sich um die Erde dreht oder Ben schuldig ist. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Warum gehen Zuschreibungen von Nichtwissen manchmal mit der Wahrheit des Nichtgewussten einher, manchmal jedoch nicht?

Eine solche Erklärung beruht auf der Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik: Auf der einen Seite, der Semantik, steht der wortwörtliche Gehalt einer Aussage, auf der anderen Seite, der Pragmatik, das, was mitgemeint oder nahegelegt wird. So wie „wir haben noch Brot zuhause“ lediglich nahelegt, dass das Brot noch essbar und nicht verschimmelt ist, so lege auch „Andrea weiß nicht, dass wir uns im Hirsehimmel treffen“ nur nahe, dass wir uns im Hirsehimmel treffen. Wortwörtlich, so also der Vorschlag, hat Nichtwissen nichts mit Wahrheit zu tun. Nimmt man an, dass die Wahrheit des Nichtgewussten nur mitgemeint oder nahegelegt wird, kann man leicht erklären, warum dies in manchen Kontexten so und in anderen Kontexten anders ist – denn die Pragmatik ist, anders als die Semantik, eine Sache des Gesprächskontexts.

Ich möchte dennoch die Faktivität von Nichtwissen verteidigen. Zu diesem Zweck lohnt es sich, einen kurzen Blick auf zwei andere Phänomene zu werfen, bei denen ebenfalls über die vermeintliche oder echte Faktivität diskutiert wird. Da wäre erstens die Debatte um objektive und subjektive Konzeptionen des Lügens. Ein Beispiel: Ich werde gefragt, wo ich am Abend des 13. September 2019 war. Ich denke, dass es sich dabei um letzten Samstag handelt, und glaube deshalb, dass ich am 13. September im Hirsehimmel war. Da ich dies nicht verraten will, behaupte ich, ich sei den ganzen Abend zuhause gewesen. Tatsächlich war ich am 13. September, einem Freitag, den ganzen Abend zuhause. Habe ich gelogen? Nach der subjektiven Konzeption lautet die Antwort Ja: Worauf es beim Lügen ankomme, ist nicht die tatsächliche Falschheit der Behauptung, sondern meine Unwahrhaftigkeit und Täuschungsabsicht. Nach der objektiven Auffassung des Lügens dagegen ist meine Aussage keine Lüge, weil ich nichts Falsches gesagt habe. Ich habe zwar versucht zu lügen, war aber erfolglos, da ich entgegen meiner Absicht eine wahre Auskunft gegeben habe. Statt:

  • Ich habe gelogen, wo ich am Abend des 13. September gewesen bin.

müsse es also korrekt heißen:

  • Ich habe versucht darüber zu lügen, wo ich am Abend des 13. September gewesen bin, jedoch aus Versehen die Wahrheit verraten.

Eine weitere Faktivitätsdebatte ergibt sich zweitens aus der Frage, ob man etwas bedauern kann, das nicht geschehen ist. Kann Ben bedauern, seine Eltern mit seiner Entscheidung, sie an Weihnachten nicht zu besuchen, enttäuscht zu haben, wenn sie gar nicht enttäuscht waren? Wer diese Frage bejaht, vertritt eine nicht-faktive Auffassung des Bedauerns, so dass man auch etwas bedauern kann, das gar nicht geschehen ist. Es komme auf die Haltung der Person ein, nicht auf das tatsächliche Geschehen. Wer die Frage verneint, vertritt eine faktive Auffassung des Bedauerns, so dass es korrekt statt:

  • Ben bedauert, dass er mit seiner Entscheidung seine Eltern enttäuscht hat.

heißen müsse:

  • Ben bedauert seine Entscheidung, weil er denkt, dass er damit seine Eltern enttäuscht habe.

Was für und gegen die jeweiligen Auffassungen des Lügens und Bedauerns spricht, soll hier nicht weiter erörtert werden. Wichtig ist, dass die Debatte um Nichtwissen und Wahrheit keine isolierte ist. Wie bei der Frage, ob Nichtwissen Wahrheit impliziert, sind auch die Fragen, ob Lügen Falschheit impliziert oder Bedauern Wahrheit, strittig, oder genauer: man ist sich uneinig, wie man diese Fragen überhaupt angehen kann.

Eines können wir jedoch aus diesen Debatten übernehmen, nämlich die Strategie mit der diejenigen, die an der objektiven Konzeption des Lügens oder der Faktivität des Bedauerns festhalten, vermeintliche Gegenbeispiele wegerklären. Wenn ein „Lügner“ etwas Wahres sagt oder jemand etwas „bedauert“, das gar nicht geschehen ist, dann, so die Erklärung, sagen wir aus Bequemlichkeit etwas, das genau genommen falsch ist. Die eigentlich korrekten Sätze (8) und (10) sind jedoch länger und komplexer und so ist es nicht verwunderlich, dass wir stattdessen lieber die eigentlich falschen Aussagen (7) und (9) machen. Wir sparen uns den Aufwand, solange klar ist, wie es gemeint ist.

Wollen wir diese Strategie auf das Nichtwissen anwenden, müssen wir prüfen, ob es statt der Sätze (4) bis (6) alternative Formulierungen gibt, die uns erstens richtiger vorkommen und mit deren Hilfe zweitens erklärt werden kann, warum wir (4) bis (6) sagen, obwohl sie streng genommen falsch sind. Hier sind Vorschläge für alternative Formulierungen:

  • Wenn es Gott geben sollte, weiß dies niemand.
  • Auch im Mittelalter konnte man nicht wissen, dass die Sonne sich um die Erde dreht.
  • Hör bitte auf mit deinen haltlosen Anschuldigungen. Du weißt doch gar nicht, ob Ben das Geld aus der Spendendose gestohlen hat.

Wenn es um Genauigkeit geht, scheinen (11) bis (13) gegenüber (4) bis (6) besser abzuschneiden. Wenn das stimmt, ist Nichtwissen faktiv, auch wenn wir manchmal „nicht wissen“ anders verwenden.

Fassen wir zusammen: Ob man Nichtwissen nur von Wahrheiten haben kann, lässt sich alleine auf der Basis einzelner sprachlicher Beispiele nur schwierig beantworten. Das liegt daran, dass wir zwei Erklärungsmodelle dafür haben, wie mit den Phänomenen umzugehen ist. Die eine Erklärung behauptet, dass Nichtwissen nicht faktiv ist, aber oft so verwendet wird: Faktiv wird Nichtwissen dadurch, dass die Wahrheit des Nichtgewussten im Gesprächskontext pragmatisch nahegelegt wird. Die andere Erklärung behauptet, dass Nichtwissen faktiv ist, aber manchmal nicht-faktiv verwendet wird: Nicht-faktiv wird Nichtwissen dadurch, dass uns die eigentlich korrekten Formulierungen zu unbequem sind. Aufgrund ihrer Symmetrie können die beiden Erklärungen sehr viele sprachliche Einzelbeispiele gleichermaßen einfangen, obwohl sie zur Faktivität des Nichtwissens gegensätzliche Positionen einnehmen.

Rollen des Nichtwissens

Wenn eine Debatte festgefahren ist, ist es oft hilfreich, sich auf die Rolle und Funktion der zentralen Begriffe und Unterscheidungen zurückzubesinnen. Wozu benötigen wir überhaupt die Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen? Der Begriff des Nichtwissens ist ein typischer Taschenmesserbegriff, dessen Rolle und Funktion sich nicht auf einen einzigen Zweck reduzieren lässt. Drei Funktionen des Nichtwissens möchte ich daher herausgreifen, denen gemeinsam ist, dass es nur um Nichtwissen von Wahrheiten geht: Nichtwissen als Entschuldigung, Nichtwissen als Voraussetzung für Objektivität und Fairness und die Unterscheidung zwischen bekanntem und unbekanntem Nichtwissen. In allen drei Fällen, so meine Überlegung, wird das Substantiv „Nichtwissen“ verwendet, um darüber zu sprechen, dass relevante Tatsachen unbekannt sind und welche Konsequenzen daraus resultieren.

Nichtwissen („ich wusste nicht, dass du laktoseintolerant bist!“) ist eine der klassischen Entschuldigungen für eine Handlung. Zwar entschuldigt nicht jedes Nichtwissen – so entschuldigt etwa Nichtwissen von Moral und Gesetz nur in Ausnahmefällen –, aber entschuldigendes Nichtwissen ist immer Nichtwissen einer Tatsache. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Angenommen Andrea nimmt nach dem Abend im Hirsehimmel einen Regenschirm mit, der ihr nicht gehört. Sie glaubt es sei ihrer, doch in Wirklichkeit ist es Bens Regenschirm. Wenn die Negationsthese stimmt, dann gibt es mindestens zwei Kandidaten für entschuldigendes Nichtwissen: Andrea weiß nicht, dass es Bens Regenschirm ist. Andrea weiß aber auch nicht, dass es Claras oder Davids Regenschirm ist. Auch letzteres weiß sie laut Negationsthese nicht, und zwar schon deshalb, weil es falsch ist. Nichtwissen von Falschheiten kann jedoch nicht entschuldigen: Andrea ist entschuldigt, weil sie nicht wusste, dass es Bens Regenschirm ist, nicht deshalb, weil sie nicht wusste, dass es Claras Regenschirm ist. Denn sonst könnte jeder Dieb einen Entschuldigungsgrund der Form „ich wusste nicht, dass der Gegenstand NN gehört“ anführen.

Nichtwissen ist oft eine Voraussetzung für Objektivität und Fairness. Das gilt für die medizinische Forschung, peer review genauso wie für Rawls‘ Schleier des Nichtwissens. Hier dient Nichtwissen dazu, Voreingenommenheiten und Verzerrungen verschiedener Art auszuschließen. Wer nicht weiß, welche Patienten den Wirkstoff und welche das Placebo bekommen, beurteilt ihren Gesundheitszustand unvoreingenommen. Wer hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht weiß, welche Position sie in der Gesellschaft innehaben wird, spricht sich für faire Gerechtigkeitsgrundsätze aus. Auch hier kommt es darauf an, dass die relevanten Tatsachen abgeschirmt werden. Schon Rawls‘ treffende Metapher des Schleiers weist auf diesen Umstand hin.

Schließlich ist es eine wichtige Einsicht, dass uns bei vielen Dingen, die wir nicht wissen, auch unbekannt ist, dass wir sie nicht wissen. Die Unterscheidung ist wichtig, um so verschiedene Dinge wie epistemische Selbstüberschätzung oder wissenschaftlichen Fortschritt zu beschreiben. Problematisch an epistemischer Selbstüberschätzung ist – im Unterschied zu bloßem Nichtwissen –, dass die Betroffenen nicht wissen, was sie nicht wissen. Wenn ich weiß, dass ich nicht weiß, was in der Phänomenologie steht, werde ich mich darum bemühen, sie zu verstehen oder zumindest keine falschen Behauptungen über ihren Inhalt verbreiten. Wenn ich an epistemischer Selbstüberschätzung leide, weiß ich nicht, was ich nicht weiß, und werde nicht nur unwissend bleiben, sondern auf meinem Unwissen auch noch beharren. Wissenschaftlicher Fortschritt wiederum verläuft nicht so, dass wir auflisten, was wir alles nicht wissen, und uns an die Beantwortung dieser Fragen machen. Denn wir müssen schon sehr viel wissen, um überhaupt die richtigen Fragen formulieren zu können. Das erklärt, warum es zu einem geflügelten Wort geworden ist, dass mit Wissen auch Nichtwissen wachse. Das stimmt natürlich nicht: Wer mehr weiß, hat kein Nichtwissen erschaffen, sondern weiß nur sehr oft mehr über sein Nichtwissen. Auch bei der Unterscheidung zwischen bekanntem und unbekanntem Nichtwissen geht es nur um das Nichtwissen von Wahrheiten. Wenn die Negationsthese stimmt, haben wir sehr viel unbekanntes Nichtwissen, das aber auch ruhig unbekannt bleiben kann. Jedenfalls leidet niemand an epistemischer Selbstüberschätzung, der sich sein Nichtwissen von Falschheiten nicht bewusst macht. Schließlich gibt es sehr viele Falschheiten, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen, sei es, weil sie uns bisher noch nicht in den Sinn gekommen sind (z.B. mein Nichtwissen darüber, dass mein Impfpass von Ameisen fortgetragen wurde) oder weil wir sie noch nicht einmal verstehen (z.B. mein Nichtwissen, dass es brillig war und die schleimdigen Toven in Waben kirrten und kimmbelten). Die Hinweise und Warnungen rund um unbekanntes Nichtwissen beziehen sich nicht auf derartige Fälle.

Ausblick

In diesem Beitrag habe ich argumentiert, dass Nichtwissen in einer Hinsicht nicht einfach die Negation von Wissen ist: Nichtwissen ist genauso faktiv wie Wissen; Nichtwissen gibt es nur von Wahrheiten. Mal angenommen, das stimmt. Ergeben sich daraus spannende Konsequenzen? In einer Hinsicht nicht: Wie in jeder begrifflichen Debatte steht uns offen, einen Kunstbegriff – z.B. Nichtwissen* – einzuführen, für den die Negationsthese per Definition gilt. Gerade in der epistemischen Logik ist es sehr sinnvoll, über diesen Begriff zu verfügen. In einer anderen Hinsicht schon: Die Zurückweisung der Negationsthese macht den Weg frei für eine eigenständige Theorie des Nichtwissens. Dies ist eine Theorie der Wissenshindernisse, also eine Theorie darüber, welche Tatsachen uns warum unzugänglich sind. Eine solche Theorie der Wissenshindernisse ist dann nicht mehr einfach ein Nebenprodukt einer Theorie des Wissens.


Literatur

  • Hintikka, Jaakko (1962): Knowledge and Belief. An Introduction to the Logic of the Two Notions. Cornell: CUP.
  • Rott, Hans (2009): „Der Negationsbegriff des Nichtwissens“, in: Erwägen, Wissen, Ethik 20: 147–148.
  • Peels, Rik (2010): „What is ignorance?“, in: Philosophia 38: 57–67.

[1] Wer vertritt diese Auffassung von Nichtwissen? Einerseits scheint sie die Standardauffassung von Nichtwissen zu sein, andererseits wird sie selten explizit formuliert, siehe aber Rott 2009 und den Beitrag von Wolfgang Lenzen in diesem Themenschwerpunkt.

[2] Die erste mir bekannte Diskussion der Faktivität von Nichtwissen ist Hintikka 1962: 12–15. Ein aktueller Vertreter ist z.B. Peels 2010.

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