21 Apr

Liebe, Verliebtheit und Nichtwissen: Ortegas Kritik an Stendhals Kristallisationstheorie

von Michael Kühler (Münster/Twente)


Liebe, Verliebtheit und Nichtwissen: Ortegas Kritik an Stendhals Kristallisationstheorie

Wie gut kennen wir die Personen, die wir lieben? Einerseits wäre es sicher seltsam, wenn wir über sie nichts oder wenig wüssten. Praktisch alle Vorstellungen von Liebe umfassen auf die ein oder andere Weise die Idee, die geliebte Person möglichst gut zu kennen. Folgt man beispielsweise der Idee, dass es Gründe für die Liebe gibt,[1] so erlaubt erst eine (hinreichende) Kenntnis der geliebten Person, diese als angemessenes Objekt der Liebe ansehen und die Liebe dadurch rational begründen zu können – oder zumindest rational verstehbar zu machen.[2] Die Vorstellung wiederum, die Liebe sei eine spezielle Sorge um die geliebte Person verbunden mit dem Wunsch, ihr Wohlergehen zu befördern,[3] bedarf einer (hinreichenden) Kenntnis der geliebten Person, um zumindest zu wissen, wie man ihr Wohlergehen tatsächlich fördern kann. Wird Liebe schließlich so verstanden, dass sie in einem gemeinsamen Teilen des Lebens[4] oder gar in einer Vereinigung der Liebenden hin zu einer geteilten Wir-Identität[5] besteht, so lässt sich auch dies kaum ohne ein hinreichenden Wissen der Liebenden umeinander denken. So verstanden scheint für ein Nichtwissen in erfolgreicher Liebe kein Platz zu bleiben.

Andererseits erscheint ebenso klar, dass wir niemals vollständiges Wissen über die geliebte Person erlangen können. Und selbst wenn dies möglich wäre, ließe sich einwenden, dass es nicht erstrebenswert ist. Denn vollständiges Wissen würde es unmöglich machen, dass uns die geliebte Person noch mit gewissen Seiten ihrer Persönlichkeit überrascht. Die Liebe, so der Einwand, würde fahl, gäbe es ein solches Überraschungsmoment nicht mehr. Was gäbe es noch aneinander zu entdecken, wenn wir bereits alles voneinander wüssten? Angesichts der unvermeidlichen Begrenztheit des Wissens der Liebenden umeinander kann dieser Einwand freilich dahingestellt bleiben. Selbst ein hinreichendes Wissen umeinander in der Liebe lässt noch Raum für – zumindest gelegentliche – Überraschungen.

Weit größeren Raum nimmt ein Nichtwissen jedoch in der Phase der Verliebtheit ein, eine Phase, die typischerweise eben dadurch gekennzeichnet ist, dass die verliebte Person (noch) wenig über die andere Person weiß – weshalb sie diese ja näher kennenlernen möchte. Zwar ist es ohne Weiteres möglich, sich in eine Person zu verlieben, die man bereits lange und gut kennt. Häufiger aber dürfte der Fall sein, in dem man sich in eine Person verliebt, die man noch nicht näher kennt. Verliebtheit geht dann – zumindest zu Beginn – mit einem gehörigen Maß an Nichtwissen über die andere Person einher. Gleichwohl macht man sich als verliebte Person während dieser Phase des Nichtwissens ein gewisses und naheliegenderweise positives Bild der anderen Person.

Für ein in Salzburg ansässiges Blog bietet es sich an dieser Stelle an, auf Stendhals Metapher der Kristallisation zurückzugreifen, die dieser in seinem 1822 erschienenen Werk De l’amour wirkmächtig in unser Bild von der Liebe gerückt hat.

In den Salzburger Salzgruben wirft man in die Tiefe eines verlassenen Schachtes einen entblätterten Zweig; zwei oder drei Monate später zieht man ihn über und über mit funkelnden Kristallen bedeckt wieder heraus; selbst die kleinsten Zweiglein, nicht größer als die Krallen einer Meise, sind überzogen mit zahllosen schillernden, blitzenden Diamanten; man erkennt den einfältigen Zweig gar nicht wieder.

Ich bezeichne als Kristallisation die Tätigkeit des Geistes, in einem jeden Wesenszuge eines geliebten Menschen neue Vorzüge zu entdecken.[6]

Die Entdeckung neuer Vorzüge lässt sich Stendhal zufolge jedoch keineswegs immer als neues Wissen um den geliebten Menschen verstehen.

Solange man dem geliebten Wesen noch nicht nahegekommen ist, wirkt die Kristallisation im Bereiche der Phantasie. Nur die Einbildungskraft versichert uns, daß die geliebte Frau jene Vollkommenheit besitzt.[7]

Das aktuelle Nichtwissen um die besonderen Eigenschaften der Person, in die man sich verliebt hat, wird also keineswegs notwendig durch ein Wissen ersetzt, sondern vielmehr projizieren wir – teils von Beginn der Phase der Verliebtheit an – für uns attraktive Eigenschaften auf die Person. Selbst in der Phase des (gegenseitigen) Kennenlernens kann sich diese Kristallisation laut Stendhal noch eine gewisse Zeit fortsetzen.

Von dem Augenblick an, da er liebt, sieht auch der klügste Mann kein Ding mehr, wie es wirklich ist.[8]

Und ganz analog:

Jedesmal, wenn sie ihrem Geliebten begegnet, entzündet sie sich, nicht an seinem eigentlichen Wert, sondern an jenem herrlichen Bild, das sie sich selbst schuf. Später, wenn sie von dem Geliebten und allen Männern enttäuscht ist, setzt die Erfahrung einer kläglichen Wirklichkeit ihr Kristallisationsvermögen herab; das Mißtrauen stutzt die Schwingen der Phantasie.[9]

Da für Stendhal die Kristallisation ein zentrales Merkmal der Liebe ist, stellt sich die Frage, wie sie zu einer Vorstellung von Liebe passt, die ein (hinreichendes) Wissen um die geliebte Person einschließt. Zwar kann die Entdeckung der „Vollkommenheiten“ oder, weniger anspruchsvoll formuliert: der attraktiven und liebenswerten Eigenschaften der geliebten Person durchaus zutreffend sein, sofern die geliebte Person diese Eigenschaften tatsächlich besitzt. Die „Entdeckung“ attraktiver Eigenschaften kann sich jedoch eben auch einer Projektion auf der Basis der eigenen Wunschvorstellungen verdanken.  Das bisherige Nichtwissen um die andere Person wird dann keineswegs durch ein Wissen ersetzt, sondern nur durch eine selbst kreierte Phantasievorstellung verdeckt. Was aber ist von einer Liebe zu halten, wenn sich das Liebesobjekt zum guten Teil der eigenen Phantasie verdankt?

Eine ausführliche und noch immer lesenswerte Kritik an Stendhals Kristallisationstheorie in dieser Hinsicht findet sich bei José Ortega y Gasset in seinen Betrachtungen über die Liebe (1941).[10] Auf den Punkt gebracht lautet sie:

Die Kristallisationstheorie beschäftigt sich eigentlich mehr damit, das Mißlingen der Liebe zu erklären, die Enttäuschung gescheiterter Begeisterungen; kurz, das Entlieben, nicht das Verlieben.[11]

Ortega legt sein Hauptaugenmerk auf die Projektion der „Vollkommenheiten“ in der Kristallisation:

Wir verlieben uns [nach Stendhal], wenn unsere Einbildungskraft in eine andere Person Vollkommenheiten hineinlegt, die sie nicht hat. Eines Tages zerrinnt das Blendwerk, und mit ihm stirbt die Liebe. Das ist schlimmer, als wenn man nach altem Brauch die Liebe für blind erklärt. Für Stendhal ist sie weniger als blind: sie halluziniert. Sie sieht nicht nur das Wirkliche nicht; sie verfälscht es.[12]

Verdankt sich unsere Auffassung über die liebenswerten Eigenschaften der geliebten Person durch die Kristallisation lediglich der eigenen Phantasie, so beruht die Liebe nach Ortega somit auf einer Täuschung, die, wenn sie durchschaut ist, zur Folge hat, dass die Liebe endet. Damit erklärt Stendhals Kristallisationstheorie folglich nicht das Verlieben, sondern vielmehr das Entlieben. Denn die Erkenntnis, dass die andere Person nicht dem phantasierten Liebesobjekt entspricht, bedeutet nichts anderes, als dass man sich in seiner Liebe zu dieser Person geirrt haben muss. Die Liebe zu dieser Person war von Beginn an illusionär. Schließlich war die andere Person niemals mit dem Liebesobjekt identisch. Entsprechend charakterisiert Ortega Stendhals Theorie insgesamt folgendermaßen:

Wenn man Stendhals Theorie zerlegt und aufdröselt, sieht man klar, daß sie von hinten her gedacht ist; das heißt, daß für Stendhal das Hauptstück der Liebe ihr Ende ist. Wie soll man es aber erklären, daß die Liebe endet, wenn der geliebte Gegenstand derselbe bleibt? Ist man da nicht […] zu der Annahme genötigt, daß unsere erotischen Regungen sich nicht durch den Gegenstand bestimmen, auf den sie gehen, sondern daß sich umgekehrt unsere entflammte Phantasie den Gegenstand hinbildet? Die Liebe stirbt, weil ihre Geburt ein Irrtum war.[13]

Für den hier verfolgten Zweck ist entscheidend, dass sich die gesamte Problematik einem (vorläufigen) Nichtwissen um die andere Person verdankt. Erst die mangelnde Kenntnis der anderen Person und ihrer Eigenschaften – die bei neuen Bekanntschaften freilich unausweichlich ist und einen auch allererst neugierig auf sie macht – führt dazu, dass man, sofern Stendhal hier ein treffendes Phänomen im Blick hat, im Falle der Verliebtheit attraktive und liebenswerte Eigenschaften an ihr nicht nur entdeckt, sondern vielmehr entdecken möchte und ihr gegebenenfalls auch andichtet. Ortegas Kritik an Stendhals Theorie weist dann völlig zu Recht auf die Gefahr einer illusionären Liebe hin, wenn wir der eigenen Kristallisation nicht zugleich zumindest kritisch gegenüberstehen und uns fragen, ob die andere Person mit ihren tatsächlichen Eigenschaften dem von uns vorgestellten Liebesobjekt wirklich entspricht. Damit wiederum macht Ortegas Kritik letztlich nur ein weiteres Mal deutlich, wie wichtig ein Wissen – oder zumindest die wechselseitige Ausrichtung auf ein Wissen – um die geliebte Person für eine erfolgreiche, d.h. nicht-illusionäre, Liebe ist, und zwar bereits in der Phase der Verliebtheit.[14]


Literatur

Fisher, Mark. 1990. Personal Love. London: Duckworth.

Frankfurt, Harry G. 1999. „On Caring“. In Necessity, Volition, and Love, von Harry G. Frankfurt, 155–80. Cambridge: Cambridge University Press.

———. 2004. The Reasons of Love. Princeton: Princeton University Press.

Helm, Bennett W. 2010. Love, Friendship, & the Self. Intimacy, Identification, & the Social Nature of Persons. Oxford: Oxford University Press.

Hurka, Thomas. 2016. „Love and Reasons: The Many Relationships“. In Love, Reason and Morality, herausgegeben von Esther Engels Kroeker und Katrien Schaubroeck, 163–80. Routledge Studies in Ethics and Moral Theory. New York: Routledge.

Krebs, Angelika. 2015. Zwischen Ich und Du: Eine dialogische Philosophie der Liebe. Berlin: Suhrkamp.

Nozick, Robert. 1990. „Love’s Bond“. In The Examined Life. Philosophical Meditations, von Robert Nozick, 68–86. New York: Simon & Schuster.

Ortega y Gasset, José. 1941. „Betrachtungen über die Liebe“. In Gesammelte Werke, übersetzt von Helma Flessa, Karl August Horst, Ulrich Weber, und Helene Weyl, IV:262–339. Augsburg: Bechtermünz, 1978.

Schaubroek, Katrien. 2014. „Loving the Lovable“. In Love and Its Objects. What Can We Care For?, herausgegeben von Christian Maurer, Tony Milligan, und Kamila Pacovská, 108–24. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

Solomon, Robert C. 1994. About Love. Reinventing Romance for Our Times. Indianapolis: Hackett Pub. Co., Reprint 2006.

Stendhal. 1822. Über die Liebe. Frankfurt am Main: Insel, 2007.


Michael Kühler ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Münster und aktuell als Assistant Professor am Department of Philosophy der Universität Twente in den Niederlanden beschäftigt. Er arbeitet zu verschiedenen Themen in den Bereichen Ethik, Metaethik, Angewandte Ethik, Politische Philosophie und Philosophie der Liebe.


[1] Zum Verhältnis zwischen Liebe und Gründen, siehe bspw. (Schaubroek 2014; Hurka 2016).

[2] Dies gilt zumindest, solange man als erfolgreiche Begründung nicht bereits bloße – und möglicherweise falsche – Meinungen über die geliebte Person akzeptiert.

[3] Vgl. etwa (Frankfurt 1999; 2004).

[4] Vgl. etwa (Helm 2010; Krebs 2015).

[5] Vgl. etwa (Nozick 1990; Fisher 1990; Solomon 1994).

[6] (Stendhal 1822, 45)

[7] (Stendhal 1822, 53). Dieser Punkt gilt auch Stendhal selbst zufolge geschlechterunabhängig.

[8] (Stendhal 1822, 67).

[9] (Stendhal 1822, 58). Es sei angemerkt, dass Stendhal diese Beobachtung als Einwand einer „geistreichen Frau“ gegen eine seiner Behauptungen zitiert.

[10] (Ortega y Gasset 1941).

[11] (Ortega y Gasset 1941, 278).

[12] (Ortega y Gasset 1941, 271).

[13] (Ortega y Gasset 1941, 273f.).

[14] Eine spezielle Herausforderung ergibt sich im Zuge der Frage, ob eine Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem Roboter bzw. Android möglich erscheint, insbesondere wenn wir nicht wissen, dass es sich um einen Roboter bzw. Android handelt, der die Bedingungen von Personalität nicht erfüllt. Siehe hierzu meinen demnächst erscheinenden praefaktisch-Beitrag: „Was, wenn wir nicht wissen, dass wir einen Android lieben?“

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