Was hat Wahrscheinlichkeit mit Zufall zu tun?

Rüdiger Stegen (Hochschule Weserbergland)


Beim Eingangsbild dieses Artikels werden sich wahrscheinlich viele an den Mathematikunterricht in der Schule erinnern, denn Würfeln ist das Paradebeispiel für den Einstieg in die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber was hat Wahrscheinlichkeit mit Zufall zu tun? Sucht man in diesem Blog das Wort „wahrscheinlich“, so findet man viele Fundstellen, bei denen es nicht um Zufall geht. Andererseits wird die Wahrscheinlichkeitsrechnung aber auch als „Mathematik des Zufalls“ bezeichnet.

Im Folgenden wird zunächst der Begriff Zufall kurz erläutert. Dann wird der Begriff Wahrscheinlichkeit analysiert und gezeigt, dass Wahrscheinlichkeit nur ein Sonderfall des übergeordneten Begriffs Bewertung ist. Schließlich wird der Zusammenhang zwischen Wahrscheinlichkeit und Zufall hergestellt.

Zufall

Laut Duden – Zufall ist der Zufall „etwas, was man nicht vorausgesehen hat, was nicht beabsichtigt war, was unerwartet geschah“.

Beim Münzwurf gibt es zwei mögliche Ergebnisse, aber der genaue Prozess, der zum Ergebnis führt, bleibt unklar, sodass man von einem zufälligen Ergebnis oder zufälligen Ereignis spricht.

Liegen hingegen vor einer Wahl zwei Parteien bei Umfragen annähernd gleichauf, so gibt es auch hier nur zwei mögliche Ergebnisse. Obwohl man das Ergebnis wie beim Münzwurf nicht voraussieht, wird nach dem Wahlsieg von Partei A dennoch nicht gesagt, dass die Partei A zufällig gewonnen hat, denn man unterstellt in der Regel einen zwangsläufigen Prozess.

Wahrscheinlichkeit allgemein

Um zu verstehen, was Wahrscheinlichkeit bedeutet, betrachten wir zunächst die allgemeine Bedeutung, ehe wir zum Sonderfall in der Stochastik kommen.

Im Begriff Wahrscheinlichkeit kommen die Worte „wahr“ und „Schein“ vor. In alten Büchern kann man daher bei der Erklärung des Begriffs Wahrscheinlichkeit oder bei der Übersetzung des lateinischen Wortes probabilitas die Formulierung „Schein der Wahrheit“ finden (siehe z. B. ‚wahrscheinlich‘ in: Deutsches Wörterbuch). Da das Adjektiv „wahr“ eine Eigenschaft von Aussagen beschreibt, beziehen sich auch Wahrscheinlichkeiten auf Aussagen. Eine Wahrscheinlichkeit drückt demnach aus, wie stark der Schein der Wahrheit einer Aussage ist.

Wahrscheinlichkeiten werden durch Begriffe wie hoch oder niedrig grob klassifiziert. Ist die Wahrscheinlichkeit einer Aussage hoch, so bedeutet dies, dass es starke oder viele Argumente für die Wahrheit der Aussage und nur schwache oder wenige Argumente dagegen gibt. Die Auswahl der Argumente und ihre Bewertung können subjektiv oder objektiv, rational oder emotional sein. So ist die Aufenthaltswahrscheinlichkeit in der Quantentheorie eine objektive Größe, während in Krimis der Kommissar manchmal seine Vermutung, dass A wahrscheinlich der Mörder ist, lediglich mit einem diffusen Bauchgefühl begründet.

Nun werden Wahrscheinlichkeiten oft nicht nur grob mit hoch oder niedrig, sondern auch mit konkreten Zahlen bewertet. Wir widmen uns daher zunächst allgemein quantitativen Bewertungen, ehe wir zum Sonderfall Wahrscheinlichkeit zurückkommen.

Quantitative Bewertungen

Es gibt (fast) nichts, was nicht mit konkreten Zahlen bewertet wird. Sei es das Glück von Menschen mit dem „World Happiness Index“, die Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Schulnoten, die Qualität von Waren bei den Tests der Stiftung Warentest oder die Produkte von Online-Händlern, die durch die Kunden bewertet werden. Der Sinn dieser Bewertungen ist, Rangordnungen zwischen gleichartigen Objekten zu ermitteln oder Entscheidungen z. B. für oder gegen den Kauf einer Ware zu unterstützen. Durch die Verwendung von Zahlen wird dabei eine Genauigkeit und Objektivität wie bei exakten Messungen suggeriert, was aber tatsächlich nicht gegeben ist.

Die Methode einer quantitativen Bewertung besteht darin, einzelne Komponenten oder Einflussfaktoren zu bewerten oder zu messen und dann zu einem einzigen Wert zu verdichten. Dazu wird z. B. bei den Tests der Stiftung Warentest das gewichtete arithmetische Mittel der Einzelwerte berechnet, während bei vielen Bewertungen im Internet einfach die Bewertungen von vielen Personen zu einem Mittelwert zusammengefasst werden.

Wahrscheinlichkeit als Bewertung

Ein Sonderfall ist die Bewertung von Aussagen bezüglich des Scheins der Wahrheit, kurz: die Wahrscheinlichkeit. Die Methode ist wie bei den Indices oder bei Stiftung Warentest: Man notiert alle Einflussfaktoren für oder gegen die Wahrheit der Aussage, bewertet oder misst sie und bildet daraus einen verdichteten Wert. Bei diesem Prozess spielen objektive oder subjektive Faktoren eine Rolle. Um eine Wahrscheinlichkeit korrekt interpretieren zu können, sollte daher stets das genaue Verfahren zur Berechnung dargestellt werden.

Aus philosophischer Sicht ist dazu der Artikel Warum sollte ich’s besser wissen als andere? in diesem Blog sehr lesenswert.

Beispiele für zahlenmäßige Wahrscheinlichkeiten sind:

  • Die SCHUFA führt ein Bonitäts-Scoring durch, bei dem es um die Frage geht, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person ihren Zahlungen nachkommt.
  • In der Astronomie wurden Wahrscheinlichkeiten, dass der Asteroid Bennu in einem bestimmten Zeitraum auf der Erde einschlägt, berechnet.
  • Laut dem UN-Report United in Science 2022 ist die Wahrscheinlichkeit 93%, dass mindestens ein Jahr in den nächsten fünf Jahren das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen wird.
  • Im Mathematikunterricht werden Wahrscheinlichkeiten bei Glücksspielen wie Würfeln, Kartenspiele oder Roulette, berechnet.

Wir hatten oben gesehen, dass sich Wahrscheinlichkeiten auf die Wahrheit von Aussagen beziehen, also im Allgemeinen nichts mit Zufall zu tun haben. Diesen Fall gibt es auch in der Mathematik. So kann man nur sagen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass es nur 5 Fermat-Primzahlen gibt, aber einen exakten Beweis gibt es nicht. Andererseits zeigen die Beispiele aus der Schule, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung sinnvoll bei Zufallsprozessen genutzt werden kann. Wahrscheinlichkeit hat also manchmal einen Bezug zum Zufall und manchmal nicht.

Manchmal wird Wahrscheinlichkeit auch als Grad der Gewissheit interpretiert, wie z. B. bei der Vermutung „wahrscheinlich wird Partei A die Wahl gewinnen“. Das Problem dabei ist, dass Gewissheit anders quantifiziert wird als Wahrscheinlichkeit: eine Wahrscheinlichkeit von 100% entspricht einer 100%igen Gewissheit, dass die Aussage wahr ist, eine Wahrscheinlichkeit von 0% entspricht einer 100%igen Gewissheit, dass die Aussage falsch ist und eine Wahrscheinlichkeit von 50% entspricht einer 0%igen Gewissheit (also einer absoluten Ungewissheit), ob die Aussage wahr ist.

Die Kolmogoroff‘schen Axiome

Jede Wissenschaft hat ihre Fachsprache und benutzt dabei auch Begriffe aus der Umgangssprache – aber in einer anderen Bedeutung. „Flavours“ in der Quantentheorie haben nichts mit Geschmack zu tun, sondern bezeichnen die verschiedenen Arten von Quarks. Und wer die Worte „integrieren“ und „differenzieren“ aus der Umgangssprache kennt, versteht trotzdem nicht automatisch, was sie in der Mathematik bedeuten (und umgekehrt).

So ist es auch in der Mathematik bei den Kolmogoroff‘schen Axiomen, die die Grundlage der Wahrscheinlichkeitstheorie bilden. Kolmogoroff hat dabei die Begriffe „Wahrscheinlichkeit“ und „zufälliges Ereignis“ mathematisch definiert, obwohl sie im Allgemeinen nichts mit den konkreten Begriffen „Wahrscheinlichkeit“ und „zufällig“ zu tun haben, wie Kolmogoroff selbst anmerkte.

Die Axiome sind praktisch gesehen einfach Regeln aus der Prozentrechnung:

Man hat ein Ganzes und Teile davon. Dann hat ein relativer (prozentualer) Anteil vom Ganzen folgende Eigenschaften:

  1. Relative Anteile sind nicht negativ.
  2. Der relative Anteil des Ganzen ist 100%.
  3. Wenn sich die Teile nicht überlappen, dann ist der Gesamtanteil die Summe der einzelnen Anteile.

Bei den Kolmogoroff‘schen Axiomen werden die Begriffe „Wahrscheinlichkeit“ statt „relativer Anteil“ und „zufälliges Ereignis“ statt „Teil“ benutzt, ansonsten sind die Regeln gleich.

Beispiel: Das Ganze sei die Menge der 20 Bücher in einem Regal. Aufgrund ihres interessanten Titels entnimmt Person A zwei Bücher und Person B drei andere Bücher. Dann gelten bezüglich der relativen Anzahl der Bücher offenbar die drei Regeln:

  1. Der prozentuale Anteil irgendwelcher entnommener Bücher ist nicht negativ.
  2. Entnimmt man alle Bücher, so hat man 100% der Bücher entnommen.
  3. A hat 10% der Bücher entnommen, B hat 15% der Bücher entnommen, zusammen haben sie 10% + 15% = 25% der Bücher entnommen.

Auf Basis der Kolmogoroff‘schen Axiome müsste man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit der Bücher, die A entnommen hat, 10% beträgt, und dass die Menge dieser Bücher ein zufälliges Ereignis sei. Praktisch gesehen ist das natürlich Unsinn. Das Beispiel hat nichts mit den konkreten Begriffen Wahrscheinlichkeit und Zufall zu tun, obwohl die drei Regeln in den Kolmogoroff‘schen Axiomen formal erfüllt sind. In diesem Sinne sind die Begriffe „Wahrscheinlichkeit“ und „zufällig“ in den Kolmogoroff’schen Axiomen irreführend.

Wie beim Beispiel mit dem Bücherregal geht man im Allgemeinen bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten in Zufallsprozessen so vor, dass man ganz deterministisch einen relativen Anteil berechnet (das ist Mathematik) und dann diesen relativen Anteil unter gewissen, im Allgemein schwer nachzuweisenden Annahmen als Wahrscheinlichkeit interpretiert (das ist keine Mathematik).

Es soll z. B. die Wahrscheinlichkeit berechnet werden, mit zwei Würfeln die Augensumme 4 zu würfeln. Für die Aussage „es wird die Augensumme 4 gewürfelt“ sprechen 3 Argumente, nämlich erstes Argument: „Es kann mit dem einen Würfel eine 1 und mit dem anderen Würfel eine 3 gewürfelt werden“; zweites Argument: … 2 …2 …; drittes Argument: …3 … 1 … . Gegen die Aussage sprechen 33 Argumente, nämlich alle anderen Kombinationen. Da genau 3 von insgesamt 36 Argumenten für die Wahrheit der Aussage sprechen, kann man die gesuchte Wahrscheinlichkeit mit 3/36=1/12 bewerten, wenn man die einzelnen Argumente gleich gewichtet.

In der Stochastik formuliert man kürzer: 3/36=1/12 der möglichen 36 Ergebnisse haben die Eigenschaft, dass die Summe der Augenzahlen gleich 4 ist – das ist ein relativer Anteil ohne Zufall. Dieses Ergebnis wird dann in einem zweiten Schritt unter der Annahme, dass kein Würfelergebnis bevorzugt auftreten kann („ideales Würfeln“), als Wahrscheinlichkeit im Zufallsprozess Würfeln interpretiert.

Resümee

Wahrscheinlichkeiten haben im Allgemeinen nichts mit Zufall zu tun. Aber bei Zufallsprozessen kann es sinnvoll sein, Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen (genauer: von Mengen von möglichen Ergebnissen) zu bestimmen. Dabei werden häufig relative Anteile deterministisch berechnet (das ist Mathematik), die dann in einem zweiten Schritt unter bestimmten Annahmen als Wahrscheinlichkeiten interpretiert werden (das ist keine Mathematik).

Weiterführende Darstellungen finden sich in meinen Büchern:


Rüdiger Stegen hat an der TU Braunschweig in Mathematik promoviert und war dann in der Energiewirtschaft und bei einer Versicherung tätig. Seit 2012 ist er an der Hochschule Weserbergland in Hameln Dozent für verschiedene Gebiete der Mathematik, davon fünf Jahre für Statistik. 2019 gewann er bei einem Science Slam mit einem Beitrag zur Bedeutung von Wahrscheinlichkeit. ruediger.stegen@t-online.de