Neutralität: Ein hartnäckiger Mythos (nicht nur) in der Philosophiegeschichtsschreibung

Von Martin Lenz (Groningen)

Neutralität gilt vielen als eine zentrale Tugend in den Wissenschaften. Obwohl die Idee, dass Wissenschaft völlig wertfrei sein könne, wiederholt und einschlägig kritisiert wurde, wird Neutralität gerade in den letzten Jahren immer wieder eingefordert. Während wissenschaftsfeindliche Populist*innen gerne behaupten, dass in den Wissenschaften „linksgrüne“ Parteilichkeit herrsche, gehen Vertreter*innen aus der Wissenschaft nicht selten in die Defensive, indem sie behaupten, diese habe „keine Agenda“. Eine vergleichbare Neutralitätsidee gibt es auch unter Philosophiehistoriker*innen. Sie findet sich vor allem in der Forderung, Historiker*innen müssten Anachronismen vermeiden. Die Idee ist folgende: Wenn Sie etwa ein Argument oder eine These von Spinoza rekonstruieren, müssen Sie darauf achten, Spinoza keine Annahmen zuzuschreiben, die er nicht auch selbst hätte akzeptieren können. Behaupten Sie zum Beispiel, Spinozas Annahmen über den Geist müssen sich an neurowissenschaftlichen Thesen messen lassen, so scheinen Sie sich schon schlicht deshalb des Anachronismus schuldig zu machen, weil es zu Spinozas Zeiten keine Neurowissenschaften gab. Nun ist diese Begründung natürlich trivial. Aber der Vorwurf ist nicht nur der, dass Sie die technologischen Entwicklungen ignorieren. Vielmehr geht es um die Wertmaßstäbe, die Sie bei der Evaluation von Argumenten anlegen. Die eigentliche Frage ist, ob neurowissenschaftliche Überlegungen einen angemessenen Kontext für die Rekonstruktion Spinozas bieten. Hier haben sich in den vergangenen Jahren zwei Lager herausgebildet: der Kontextualismus und der Appropriationismus bzw. der rationale Rekonstruktionismus. Während letzterer von gegenwärtigen Standards ausgeht und die Aneignung von historischen Argumenten betreibt, insistiert ersterer auf der Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten. Ausschlaggebend bei unseren Interpretationen soll nicht das sein, was wir für richtig halten, sondern die Bedingungen, die sich aus den relevanten Kontexten ermitteln lassen. Kürzlich hat Christia Mercer sogar behauptet, dass die Auseinandersetzung zugunsten des Kontextualismus entschieden sei, da inzwischen selbst Appropriationist*innen historische Wahrheiten nicht ignorieren wollten. Zwar erschöpft sich der Kontextualismus keineswegs in Annahmen über historische Neutralität oder Objektivität, doch kann Mercers Aufsatz über die „kontextualistische Revolution“ durchaus als Zurückweisung des anachronistischen Appropriationismus gelesen werden.* Im folgenden möchte ich zumindest andeuten, warum ich glaube, dass die hinter dem Kontextualismus liegende Idee von Neutralität auf einem Mythos beruht.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie erwarten Ihren alten Freund Fred zu Besuch. Als er in Ihr Wohnzimmer eingetreten ist und die Tür hinter sich geschlossen hat, zeigt er auf das gegenüberliegende Fenster und fragt Sie, ob Sie vielleicht die Tür schließen könnten. Fred ist älter geworden, denken Sie bei sich, aber doch nicht so alt, oder? Er wird einen simplen sprachlichen Fehler gemacht und versehentlich zwei Wörter verwechselt haben. Aber was, wenn es ein kognitiver Fehler war und mit Fred tatsächlich etwas nicht stimmt? – Wenn wir uns diese Situation genauer ansehen, lässt sich eine Reihe von Schlüssen ziehen:

(1) Für gewöhnlich unterstellen wir in solchen Fällen, dass eine rationale Person unsere Überzeugungen teilt. Dass heißt, wir erwarten, dass eine Person unter anderem die gleichen Wahrnehmungen hat und die gleichen Wahrnehmungsurteile fällt.  Bei solchen Abweichungen unterstellen wir daher, dass unserem Gegenüber schlicht ein sprachlicher Fehler unterlaufen ist.

(2) Wir unterstellen also in der Regel nicht, dass ein kognitiver Fehler vorliegt, denn dass würde die Annahme erfordern, dass unser Gegenüber in seinen rationalen Fähigkeiten stark eingeschränkt ist oder aber deutlich von uns abweicht. Es hieße nichts anderes als dass Fred eine Tür nicht als solche erkennen oder von einem Fenster unterscheiden könnte.

Daraus lässt sich eine weitere These ableiten: (3) Wenn wir sprachliche Ausdrücke interpretieren, dann lassen wir uns davon leiten, was wir für wahr halten. Andernfalls hätten wir ja auch unterstellen können, dass der Ausdruck „Tür“ für Fred eine andere Bedeutung hat als für uns. Das tun wir aber zumindest im Normalfall nicht. Das heißt, wir fragen bei der Interpretation unseres Gegenübers nicht einfach nach der Bedeutung, sondern wir gehen von unseren Überzeugungen aus.

Diese Überlegungen schließen an einige eng mit einander verzahnte Thesen Donald Davidsons an. So kann These (1) als das principle of charity, (2) als Ausschluss des Relativismus und (3) als Priorität der Wahrheit gegenüber der Bedeutung gelesen werden. Ich will diese Thesen nun gar nicht im einzelnen diskutieren. Vielmehr lese ich sie hier schlicht als psychologische Einsichten. Mit Blick auf die Frage der Neutralität ist insbesondere These (3) einschlägig, die ich hier als Priorität des Fürwahrhaltens verstehen möchte. Damit meine ich, dass unsere Interpretationen sprachlicher Äußerungen normalerweise von dem abhängen, was wir für wahr halten. Wenn diese Priorität besteht, so können wir unsere Überzeugungen keineswegs einfach ignorieren, wenn wir ein Gegenüber interpretieren. Ich korrigiere Freds Äußerung stillschweigend, weil sich Freds Frage nur so in angemessene Erfüllungsbedingungen übersetzen lässt. Wenn die Tür bereits geschlossen ist, ergibt die Bitte, sie zu schließen, keinen Sinn. Zu den Erfüllungsbedingungen der Bitte um ein Schließen des Fensters hingegen gehört, dass die Aussage „Das Fenster ist nicht geschlossen“ jetzt wahr und nachher falsch ist. Wenn ich in Freds Äußerung also „Tür“ durch „Fenster“ ersetze und das Fenster schließe, kann die Bitte als erfüllt gelten. Mit anderen Worten, um Freds Äußerung sinnvoll interpretieren zu können, muss ich ihm einen sprachlichen Fehler unterstellen. Um diese Unterstellung aber leisten zu können, muss ich von dem ausgehen, was ich für wahr halte.

Wenn die Priorität des Fürwahrhaltens also gilt, dann können wir sprachlichen Ausdrücken in der Regel nicht unabhängig von unseren Überzeugungen Bedeutung zuschreiben. Wenn Sie in meinem Wohnzimmer stehen und behaupten, Sie seien gerade am Nordpol, so muss ich Ihre Aussage für falsch halten (wenn ich unterstelle, dass Sie aufrichtig und nicht ironisch sind). Ich könnte mich natürlich auch fragen, ob Ihre Überzeugungen und die Bedeutung Ihrer sprachlichen Äußerungen ganz anders sind, als ich annehme. Aber das sind recht komplizierte Überlegungen, die mich u.a. zwängen, Ihnen die Rationalität abzusprechen oder zu unterstellen, dass Sie über andere Begriffsschemata als ich verfügen. Meines Erachtens ist die Priorität des Fürwahrhaltens eine basale psychologische Gegebenheit, auf die wir gerade auch dann angewiesen sind, wenn wir historische Texte lesen. Auch wenn ein Text tausend Jahre alt ist, halten wir die Autorin oder den Autor zunächst für rational und gehen ganz selbstverständlich von dem aus, was wir für richtig halten. In diesem Sinne können wir nicht neutral sein. Das heißt, wir können dem Text nicht einfach Bedeutungen zuschreiben, die völlig unabhängig von dem sind, was wir glauben.

Wie verträgt sich diese Annahme nun mit dem Kontextualismus? Wenn meine Überlegungen zutreffen, so heißt dies, dass ich jede Aussage, die ich in einem historischen Text lese, zunächst auf der Grundlage meiner Überzeugungen interpretiere. Ich kann nicht einfach neutral fragen, was die Autorin gemeint haben mag, und dann feststellen, dass sie eine bestimmte Weltsicht hatte, die von meiner abweicht. Vielmehr werde ich Abweichungen als Irrtümer interpretieren. Wenn ich zum Beispiel die Behauptung lese, dass es Engel gebe, dann halte ich die Aussage erst mal für falsch. Würde ich nun sogleich festhalten, dass die Autorin dieser Behauptung im Kontext einer anderen Weltsicht zu lesen sei, so würde ich ihr – nach meinen Maßstäben –Rationalität absprechen. In diesem Sinne unterwerfe ich den Text zunächst, ganz appropriationistisch, meinen eigenen modernen Maßstäben. Zu sagen, die Autorin sei einfach irrational, würde ihren Text dann doch schlicht in eine antiquarische Rumpelkammer verbannen. Vielmehr würde ich also nach Wegen suchen, die Aussage so zu interpretieren, dass sie mit meinen Überzeugungen vereinbar ist.

Das heißt nun aber nicht, dass der Kontextualismus einfach eine schlechte methodologische Option ist, die befremdliche Texte als irrational stehen lässt. Vielmehr glaube ich, dass der Kontextualismus dann zum tragen kommt, wenn wir Grund haben anzunehmen, dass unsere eigenen Überzeugungen problematisch sind. Freilich nicht in dem Sinne, dass wir nun an Engel zu glauben beginnen sollten. Vielmehr geht es dabei um Überzeugungen, die unseren Umgang mit dem Textmaterial selbst betreffen. Wenn wir mit unseren gewöhnlichen Überzeugungen nicht weiterkommen, müssen wir Fragen wie die folgenden aufwerfen: Handelt es sich wirklich um aufrichtigen Sprachgebrauch? Gibt es Wörter, die wir systematisch missverstehen? Haben wir das Genre richtig eingeordnet? Usw.

So betrachtet ist der Kontextualismus nicht in Opposition zum Appropriationismus zu sehen, sondern als Strategie, die dann zu wählen ist, wenn unsere Möglichkeiten rationaler Rekonstruktion erschöpft sind. Anders als Christia Mercer denke ich daher nicht, dass wir rationale Rekonstruktionen zugunsten historisch-kontextueller aufgeben sollten. Vielmehr ergänzen historische Rekonstruktionen unsere Möglichkeiten des Verstehens. Aber dieses Verstehen bleibt unser Verstehen. In diesem Sinne halte ich auch Neutralität für unmöglich. Die Neutralitätsidee lebt von der Illusion, dass die größtmögliche Nähe zum Original etwas bewahren könnte, das durch unsere rationalen Rekonstruktionen und Aneignungen verfälscht würde. Aber wenn die Priorität des Fürwahrhaltens gilt, dann ist Verfälschung erst auf dem Boden unserer Überzeugungen denkbar.


* Christia Mercers Text wurde auf Daily Nous bereits dokumentiert und v.a. von Charlie Huenemann, Eric Schliesser und mir selbst kritisch diskutiert: http://dailynous.com/2019/08/02/current-state-early-modern-philosophy/


Martin Lenz ist Professor für Philosophie und Leiter des Departments für Philosophiegeschichte an der Universität Groningen (NL). Zu seinen Schwerpunkten zählen die Philosophie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sowie die Philosophie der Geschichte. Bevor er 2012 nach Groningen berufen wurde, studierte er Philosophie, Linguistik und Deutsche Literatur in Bochum, Budapest und Hull (MA 1996; Dr. phil. 2001 in Bochum). Seine Postdoktoranden-Zeit verbrachte er in Cambridge, Tübingen und Berlin (Habilitation 2009). Seit etwas über einem Jahr betreibt er einen Blog „Handling Ideas“, in dem es unter anderem um Philosophiegeschichte geht: http://handlingideas.blog/. Man findet ihn auch unter http://twitter.com/Going_Loopy und http://www.facebook.com/martin.lenz.1829.