03 Dez

„Vermännlichung“ und „Androgyn-Werden“ – Zwei Ideale menschlicher Vortrefflichkeit in den neuplatonischen Schriften. Teil 1: Die Vermännlichung der Seele

Von Jana Schultz (Berlin)

Seit ungefähr drei Jahren arbeite ich an den Konzepten der „Frau“ und des „Weiblichen“ in den Schriften der neuplatonischen Philosophen. Mein Interesse ist philosophiehistorischer Natur. Ich frage nicht primär: „Wie verstehen wir die Konzepte „Männlich“ und Weiblich“, oder wie sollten wir diese verstehen? Kann uns der Neuplatonismus hier Hinweise liefern?“, Stattdessen stelle ich mir Fragen wie: „Wie konzeptualisiert der Philosoph Proklos das Weibliche in seinen metaphysischen Schriften? Ist sein Konzept innerhalb einer Schrift oder im Vergleich verschiedener Schriften konsistent oder finden Verschiebungen statt?“

Dennoch schwingen Fragen der ersten Art in meinen Untersuchungen mit. Hier sei zunächst nur gesagt, dass wir mit den Neuplatonikern eine wichtige Voraussetzung teilen: Ebenso wie die Neuplatoniker argumentieren wir – damit meine ich den Großteil unserer Zeitgenossen – dafür, dass Männer und Frauen das gleiche Potential zur Vortrefflichkeit und damit zur Teilhabe an Bildung, Wissenschaft und Politik haben. Und ebenso wie die Neuplatoniker müssen wir unsere Argumentation für diese Gleichheit innerhalb eines Systems von Begriffen und Konzepten entwickeln, die (zumeist) das Männliche bevorzugen. Assoziierungen des Männlichen mit Attributen wie Intelligenz, Stärke und Tatkraft und des Weiblichen mit Schönheit (Objekt des Blickes), Sanftheit (Schwäche) und Passivität (Warten und Erleiden) sind längst nicht überwunden. Ein Blick auf die Argumentationsstrategien der Neuplatoniker kann uns deshalb Denkanstöße für heutige Debatten um Gender und Gleichheit geben.

Der Neuplatonismus ist eine Schule, die den Frauen und dem Weiblichen als metaphysisches Prinzip eine vergleichsweise positive Rolle zuerkannt hat. Frauen waren in den neuplatonischen Schulen als Schülerinnen und Lehrerinnen präsent, besonders bekannte Namen sind Sosipatra von Ephesos (ca. 300-362) und Hypatia von Alexandria (ca. 355-415).  Die Neuplatoniker vertraten im Allgemeinen die Auffassung, dass Frauen und Männer dieselbe Tugend und damit auch dieselbe Befähigung zur Philosophie haben. So finden wir bei Proklos die folgende Aussage:

Die formale *** (an dieser Stelle ist der griechische Text nicht mehr lesbar) der Tugend überzeugte also Sokrates, die Erziehung gemeinsam zu machen. Aber er hat diese gefunden, indem er die Taten erfasste, nämlich dass einige Frauen die Tugenden der Männer leben. Und dies ist dem Timaios wohlbekannt und leicht ersichtlich, wenn er sich das Leben der pythagoreischen Frauen vor Augen führt, der Theano, der Timycha und der Diotima selbst. (Proklos, In Platonis Rempublicam Commentarii 1.248, 21-27; Übersetzung der Autorin)

Und in der neuplatonischen Metaphysik[1] und Naturphilosophie[2] wird das Weibliche nicht als Passiv-Erleidendes gedacht (wie etwa bei Aristoteles), sondern als ein aktiv hervorbringendes Prinzip.

Die Argumentation für das Potential der Frauen zur Tugend und zur Philosophie findet jedoch in einem Rahmen statt, in dem das Vorurteil der Überlegenheit des Männlichen gegenüber dem Weiblichen fest etabliert ist. Innerhalb der neuplatonischen Metaphysik ist das Männliche mit der Grenze und das Weibliche mit der Unbegrenztheit (Kraft) verbunden. Die Kraft ist ein notwendiges und aktiv hervorbringendes Prinzip, doch eines, was der Grenze, die Einheit und Bestimmung verleiht, untergeordnet ist, da sie aus sich heraus zum Chaos (und damit hin zum Nicht-Sein) tendiert.

Die hier skizzierte Spannung zwischen der Idee der Gleichheit der Tugend von Männern und Frauen und einem System, das dem Weiblichen prinzipiell einen untergeordneten Rang zuweise, möchte ich nun weiter ausloten, indem ich die Darstellung weiblicher Tugend in den neuplatonischen Schriften in den Blick nehme.

Ein in den neuplatonischen Schriften wiederkehrendes Ideal ist das der Vermännlichung der Seele durch die richtigen Tätigkeiten. Dieser Gedanke findet sich schon in Platons Timaios, in dem dieser darlegt, dass Menschen, die sich zu wenig um Tugend und Wissen bemühen, seelisch verweiblichen und im nächsten Leben mit einer Wiedergeburt als Frau bestraft werden:

Gelangten sie [sc. die Seelen] nun zur Herrschaft über diese [sc. die nicht-rationalen Regungen], werde ihr Leben ein gerechtes, unterlägen sie ihnen, ein ungerechtes. Wer aber die ihm zukommende Zeit wohl verlebte, der werde wieder nach dem Wohnsitze des ihm verwandten Sternes zurückwandern und ein glückseliges, seinem früheren entsprechendes Leben führen, verfehle er das aber, dann werde er bei seiner zweiten Geburt in die Natur des Weibes übergehen. Lasse er jedoch auch dann von seiner Schlechtigkeit noch nicht ab, dann werde er, der Verschlechterung seiner Sinnesart gemäß und der ihn ihm erzeugten schlechten Gesinnung entsprechend, stets die ähnlich beschaffene tierische Natur annehmen. (Platon, Timaios 42b-c; Übersetzung Schleiermacher)

Innerhalb der neuplatonischen Schriften finden wir eine bekannte Warnung vor der Verweiblichung der Seele im Brief des Philosophen Porphyrios an seine Frau und Schülerin Marcella:

Weder wenn Du nun ein Mann bist, noch wenn Frau, kümmere Dich zu viel um Deinen Leib, und erblicke in Dir nicht eine Frau, wenn doch auch ich dir nicht als solcher Aufmerksamkeit zugewendet habe. Fliehe alles, was dich seelisch verweiblicht, wie wenn du einen männlichen Leib an dir hättest. (Porphyrios, Ad Marcellam 33, 8-11; Übersetzung Pötscher)

Als männlich werden im seelischen Bereich die Kontemplation des Göttlichen und der intelligiblen Ideen verstanden, als weiblich hingegen alle Tätigkeiten, die sich auf das Wahrnehmbare beziehen. Darunter fallen nicht nur Tätigkeiten, die auf die Lust bezogen sind, wie Essen, Trinken und Sex, sondern auch Tätigkeiten, die wir heute unter den Begriff „Fürsorge“ (einschließlich der Sorge um den eigenen Körper) fassen würden. Dies zeigt sich eindrucksvoll in Proklos’ Kommentar zu Platons Timaios:[3]

Aber dies muss man von Beginn an untersuchen, warum dies geschieht, dass die Seele in die Körper herabsteigt. Es geschieht, weil sie die Vorsehung der Götter imitieren möchte, und deshalb steigt sie ins Werden herab, wobei sie die Kontemplation verlässt. Denn, gegeben dass die göttliche Vollkommenheit zweifach ist, die eine intellektive, die andere aber vorhersehend, und die eine sich in der Ruhe, die andere in der Bewegung befindet, so drückt sich das Einheitliche, das Intellektive und das Beständige der Götter durch die Kontemplation [der Seele] aus, die Vorsehung aber und die Bewegung durch ihr auf das Werden bezogene Leben. (Proklos, In Platonis Timaeum Commentaria 3.324, 4-12, Übersetzung der Autorin)

Hier zeigt sich bereits ein Problem: Während die männlich konnotierten Aktivitäten einheitlich und ausnahmslos gut sind, decken die weiblich konnotierten Tätigkeiten ein breites Spektrum ab und erhalten sowohl Tätigkeiten, die gut und notwendig sind und die Göttinnen und Götter imitieren als auch Tätigkeiten, die die Seele – aus neuplatonischer Sicht – schlecht machen, wie beispielsweise der Sex oder das Essen um der Lust willen.

Die Idee der Vermännlichung und Verweiblichung durch die Wahl der entsprechenden Aktivitäten gründet auf der Idee einer Seele, die an sich geschlechtsneutral ist, sich jedoch im Laufe des Lebens auf eine Weise formt, welche sie Geschlechtsmerkmale annehmen lässt, die vom Geschlecht des Körpers unabhängig sein können: Eine Frau, die kontempliert, vermännlicht sich und ein Mann, der sich dem Wahrnehmbaren widmet, verweiblicht sich.[4] Eine Ausnahme ist Proklos, der davon ausgeht, dass die Seelen bereits vor jeder Tätigkeit essentiell in männlich und weiblich geschieden sind, wobei die männlichen Seelen eine stärkere Veranlagung zur Kontemplation und die weiblichen Seelen eine stärkere Veranlagung für Tätigkeiten haben, die auf das Wahrnehmbare bezogen sind.[5] Doch auch für Proklos determinieren diese Veranlagungen die Seelen nicht vollständig. Die Möglichkeit der Ausrichtung auf das Intelligible oder das Wahrnehmbare bleibt für jede menschliche Seele bestehen.[6]

Das eine Ideal der tugendhaften Frau ist somit das Ideal der Frau, die sich den Tätigkeiten hingibt, die – aus Sicht der Neuplatoniker – männliche Aktivitäten sind und ihrer Seele so eine männliche Form gibt, so dass sie quasi zu einer Art „psychologischen Mann“ wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Aufforderung zur „Vermännlichung“ keineswegs nur an Frauen gerichtet ist. Alle Menschen sind der Versuchung ausgesetzt, sich den Reizen der wahrnehmbaren Welt hinzugeben und sich so zu verweiblichen. Alle Menschen sind daher aufgefordert, sich auf die Schau des Göttlichen und Intelligiblen zu konzentrieren und sich dadurch zu vermännlichen.

Aus heutiger Perspektive könnte man sagen, dass das Ideal der Vermännlichung in gewissem Sinne emanzipatorisch ist, da es die Vortrefflichkeit und die damit verbundene gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen unabhängig von ihrer Geburt als Mann oder Frau in Aussicht stellt. Problematisch ist jedoch, dass diese Aussicht mit einer Negierung des Weiblichen in der Seele einhergeht, dass ja – wie wir gesehen haben – auch aus Sicht der Neuplatoniker nicht nur Negatives enthält, wie das Streben nach körperlicher Lust, sondern auch Gutes und Notwendiges, wie die Fürsorge.

Im zweiten Teil meines Blogbeitrags, der hier in Kürze veröffentlicht wird, möchte ich daher zeigen, dass neben dem Ideal der Vermännlichung im Neuplatonismus auch ein Ideal des Androgyn-Werdens existiert, d.h. das Ideal der Ausbalancierung der männlichen und weiblichen Aspekte der Seele statt einer einseitigen Bevorzugung der männlichen Aspekte.


Dieser Blogbeitrag beruht zum Teil auf meinem Aufsatz „Die proklische Diotima – Philosophie, Religion und das Weibliche“, in Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 22 (2019). Das Jahrbuch erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2020.

Jana Schultz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Philosophie der Antike und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin.


[1] Die Rede von „der neuplatonischen Metaphysik“ ist vereinfacht, da sie Unterschiede zwischen den neuplatonischen Philosophen beiseitelässt. Eine Untersuchung dieser Unterschiede würde den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengen. Es sei jedoch kurz darauf hingewiesen, dass Plotin, der als Begründer der neuplatonischen Philosophie gilt, metaphysische Prinzipien nicht mit Hilfe der Kategorien „männlich“ und „weiblich“ beschreibt (eine Ausnahme ist seine Abhandlung Über den Eros, in der der Intellekt  als männlich und die Seele als weiblich charakterisiert wird). Und die Metaphysik der christlichen Neuplatoniker weicht von der Metaphysik der hier besprochenen paganen Neuplatoniker ohnehin in vielen Aspekten ab. Statt einem Zusammenwirken von männlichen und weiblichen Prinzipien in der Hervorbringung der wahrnehmbaren Welt haben wir dort beispielsweise ein Zusammenwirken der verschiedenen Personen der Trinität.

[2] Zur Rolle der Mutter in der Embryologie der Neuplatoniker siehe James Wilberding, Forms, Souls and Embryos. Neoplatonists on Human Reproduction (London/New York 2017).

[3] Die Verbindung des Weiblichen mit der Fürsorge bei Proklos demonstrierte auch Dirk Baltzly eindrücklich in seinem Vortrag mit dem Titel „The Myth of Er and Female Gurardians in Proclus’ Republic Commentary“, den er auf der Konferenz „Philosophers, Goddesses and Principles – Women and the Female in Neoplatonism“ an der Ruhr-Universität Bochum am 27. September 2019 hielt. Er zeigte, dass bei Proklos die Göttinnen innerhalb der Administration des Kosmos Funktionen einnehmen, die zumindest in einigen Aspekten dem ähneln, was wir unter „care“ oder „ethics of care“ fassen würden. Eine Veröffentlichung der Konferenzbeiträge ist in Arbeit.

[4] Allerdings ist – wie wir oben im Timaios-Zitat bereits gesehen haben – die Art der Wiedergeburt durch die „Vermännlichung“ oder „Verweiblichung“ der Seele mitbestimmt. Fest steht jedoch, dass sich für die Neuplatoniker am Körper nicht ablesen lässt, ob die Seele gegenwärtig eher männlich oder eher weiblich ist. Allenfalls zeigt der Körper an, ob sich die Seele im vorigen Leben vermännlicht oder verweiblicht hat.

[5] Seine Theorie der essentiell männlich und weiblich bestimmten Seelen legt Proklos im Kommentar zu Platons Timaios 3.283, 12-17 dar. Für eine Analyse siehe Dirk Baltzly, „Proclus and Theodore of Asine on Female Philosopher-Rulers: Patriarchy, Metempyschosis, and Women in the Neoplatonic Commentary Tradition“, Ancient Philosophy 33,2 (2013), 403-424, hier 411-412; und meinen Aufsatz “Conceptualizing the Female Soul – A Study in Plato and Proclus”, British Journal for the History of Philosophy, online veröffentlicht vor Erscheinen der Druckversion: https://doi.org/10.1080/09608788.2018.1551779

[6] Zur Möglichkeit der menschlichen Seele, die Ausrichtung auf das Göttliche bzw. Intelligible oder das Wahrnehmbare wählen zu können, siehe auch Radek Chlup, „Proclus’ Theory of Evil: An Ethical Perspective“, The International Journal of the Platonic Tradition 3 (2009), 26-57, hier 44-45.