06 Feb

Warum (schon lange) tote Philosophen lesen?

Von Achim Vesper (Frankfurt am Main)

Philosophie hat es mit Problemen zu tun, die wir mit unseren Zeitgenossen teilen. Was sollte dagegen sprechen, die Probleme in einer Sprache zu beschreiben und nach Standards zu untersuchen, mit denen auch unseren Zeitgenossen bekannt sind? Philosophiehistoriker mögen dagegen einwenden, dass die Grenzen der Zeitgenossenschaft in der Philosophie besonders weit gezogen sind, da die meisten Probleme, mit denen sich Philosophen beschäftigen, keine neuen, sondern alte Probleme sind – es sind die gleichen Probleme, mit denen sich Philosophen auch in der Vergangenheit beschäftigt haben.

Nicht anders als heute hat man in der Philosophie auch in der Vergangenheit versucht, Antworten auf die Fragen zu geben, was Wahrheit ist und wie sie erlangt werden kann, worin das Gute besteht und wie es in der menschlichen Lebensführung verwirklicht werden kann. Nach der Meinung von Philosophen wie Harman – mit dem legendären Aushang an seiner Bürotür in Princeton „History of Philosophy: Just Say No!“ (vgl. https://philosophy.princeton.edu/about/eighties-snapshot) – liegt aber ein tiefer Graben zwischen der Behandlung dieser Fragen in der Vergangenheit und der Gegenwart. Dieser Graben soll dadurch zustande gekommen sein, dass die Philosophie heute über bessere Methoden als die Philosophie in der Vergangenheit verfügt, wobei der wichtigste Methodenwechsel im Übergang zur Untersuchung der sprachlichen Verwendungsregeln von Sätzen und Ausdrücken besteht. Auch wenn mittlerweile kein Einverständnis mehr über die genauen Ziele und Mittel der analytischen Philosophie besteht, so erheben Philosophen in der analytischen Tradition in der Regel immer noch den Anspruch, auf ein Niveau an Klarheit zu gelangen, das in vergangenen Zeiten nicht erreicht wurde.

Dieses Bild erhält eine gewisse Bestätigung, betrachtet man die gegenwärtige Lage des Fachs. Vergegenwärtigt man sich den heutigen Stand der Philosophie, so kann man durchaus beeindruckt davon sein, in welcher Weise große Probleme in kleine zerlegt worden sind und Übersicht über komplexe Fragen gewonnen ist. Nüchtern betrachtet, erlebt die Philosophie gegenwärtig jedoch lediglich einen Spezialisierungsschub, den andere Wissenschaften – sowohl die Naturwissenschaften und die Mathematik als auch die meisten Sozialwissenschaften – schon vor längerer Zeit erfahren haben. Belege für einen Wandel innerhalb der Philosophie durch Spezialisierung lassen sich viele anführen: Während noch vor einiger Zeit der Forschungsstand des ganzen Fachs oder seiner wichtigsten Unterdisziplinen in Handbüchern zusammengefasst wurde, sind diese heute oft sehr viel engeren Themen gewidmet. Auch besitzen anerkannte Forscher heute eine Expertise auf immer enger werdenden Feldern und treten immer seltener auf unterschiedlichen Sachgebieten in Erscheinung.  Dabei ist es schwer, in dieser Entwicklung insgesamt etwas anderes als einen Fortschritt zu erkennen. Bedenkt man etwa, wie grob die Lagerbildung in der Metaethik in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts war, so kann man sich nicht anders als erfreut darüber sein, in welcher Differenziertheit heute die gleichen Intuitionen ausbuchstabiert werden und in welchem Umfang neue Ansätze hinzukommen. Damit scheint sich auch in der Philosophie zu bewahrheiten, dass ein arbeitsteiliges Vorgehen in gemeinschaftlichen Unternehmungen zu einem Produktivitätszuwachs führt. Man muss einem Philosophen wie Harmann wahrscheinlich recht darin geben, dass sich dieser Erkenntnisgewinn zu guten Teilen auch der Befreiung von historisch überkommenen Methoden und der Pflege von veralteter Terminologie verdankt. Diese Entwicklung dürfte auch eine historische Größe wie Kant mit Wohlwollen wahrnehmen, da ihm zufolge das Ziel der Philosophie in der eigenständigen Suche nach Wahrheit anstelle der ungeprüften Übernahme der Meinung anderer liegt (vgl. u.a. KrV A 835f./B 864f.).

Sollte diese Beschreibung zutreffen, so wird man über einen Bedeutungsverlust der Philosophiegeschichte kaum klagen können. Arbeitet man allerdings hauptsächlich in der Philosophiegeschichte, so kann es einen mit Unbehagen erfüllen, dass diese in einer ausschließlich an Sachfragen orientierten Disziplin überflüssig zu werden scheint. Doch der Eindruck trügt, am Ende fällt die Botschaft für die Philosophiegeschichte überraschenderweise nicht negativ aus. Meine These ist, dass die Spezialisierung in der Philosophie auch eine Kostenseite hat und die Philosophiegeschichte den negativen Folgen für die Disziplin entgegenzuwirken vermag. Allgemein gesagt, besteht das Problem der wissenschaftlichen Spezialisierung in ihrer Pfadabhängigkeit: Es hängt von vergangenen Weichenstellungen ab, welche Probleme und Lösungsmöglichkeiten in den Fokus der gegenwärtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung treten. Durch den Übergang von größeren zu engeren Fragestellungen und entsprechend speziellen Lösungsversuchen stellt sich unvermeidlich eine thematische Verengung ein. Glücklicherweise verfügt die Philosophie aber über ein hausinternes Mittel, um den Konsequenzen der Spezialisierung entgegenzuwirken – und dieses Mittel besteht nach meiner Auffassung in der Philosophiegeschichte.

Damit möchte ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es eine Reihe von Autoren gibt, die durch historische Positionen beeinflusst sind und auf dieser Grundlage neue systematische Möglichkeiten eröffnen. Es fällt leicht, eine lange und inhaltlich diverse Liste an Autoren zu bilden, die sich auf eigene philosophiegeschichtliche Forschung oder die philosophiegeschichtliche Forschung anderer stützen und daraus neue systematische Optionen entwickeln. Aktuell denke man an Autoren wie beispielsweise Andrew Chignell, dessen Arbeiten zu Kants Theorie des Glaubens als neue kantianische Erkenntnistheorie rezipiert werden, Paul Hoyningen-Huene, der vermittelt durch die Philosophiegeschichte eine neue Wissenschaftstheorie um den Begriff der Systematizität entwickelt, Christoph Halbig, der mit Aristoteles der Tugendethik zu neuem Gesicht verhilft, Axel Honneth, der aus seiner Beschäftigung mit Hegel heraus ein neues Bild der normativen Grundlagen der Moderne gewinnt, Christoph Menke, der sich von Nietzsche und Marx zu einer Kritik unseres Rechtssystems führen lässt, oder auch Martin Hägglund, der überraschenderweise von Heidegger ausgehend ein neues Argument für den Sozialismus vorlegt. Ungeachtet dessen, was man von diesen Ansätzen im einzelnen zu halten hat, ist deutlich, dass durch sie anhand der Philosophiegeschichte neue Türen in der Auseinandersetzung mit Sachproblemen aufgestoßen werden. Auch über die genannten besonders aktuellen Fälle kann man daran denken, dass die Rationalitätstheorie von Rescher in entscheidender Weise von Gedanken bei Leibniz und Kant inspiriert ist oder dass der moralische Konstitutivismus bei Korsgaard und die Gerechtigkeitskonzeption von Rawls ihre Quellen bei Kant haben. Der Rückgriff auf die Philosophiegeschichte gibt diesen Autoren und vielen anderen Autoren wie etwa O’Neill oder Brandom die Möglichkeit, enge Debattenzusammenhänge zu überschreiten und neue Optionen ins Spiel zu bringen. Eine lebendige Philosophiegeschichte kommt der Philosophie insgesamt zugute, weil sie das systematische Spektrum auf oft entscheidende Weise erweitert.

Die Philosophiegeschichte bietet jedoch nicht nur eine Inspirationsquelle, um das enge Korsett hochspezialisierter Auseinandersetzungen aufzubrechen und Probleme in eine neue Perspektive zu bringen. Ein weiterer Punkt besteht darin, dass die Philosophiegeschichte auch ein geeignetes Medium bilden kann, um den Zusammenhang von Fragestellungen auf verschiedenen Feldern deutlich werden zu lassen. Manche Leser von Habermas mögen eine Unzufriedenheit darüber empfinden, dass sein gerade erschienenes und vielleicht letztes großes Werk der Philosophiegeschichte gewidmet ist. Tatsächlich hat sich Habermas nach seinem langen philosophischen Leben noch einmal so exzessiv der Geschichte seines Fachs zugewendet, um die Spezialisierung von Fragestellungen zu unterlaufen und in der gegenwärtigen Diskussion überblendete Gemeinsamkeiten zwischen religiösem und wissenschaftlichem Diskurs aufzuzeigen. Rückläufig zur thematischen Spezialisierung werden hier einige Grundmotive für historisch überaus wirkungsreiche Unterscheidungen zu Bewusstsein gebracht.

Meine Antwort auf die Frage, weshalb der Philosophiegeschichte ein Wert zukommt, lautet also, dass eine lebendige Philosophiegeschichte auch dem Fach zu Lebendigkeit verhelfen kann. Es ist ein falsches Bild, dass eine intensive philosophiegeschichtliche Forschung nur neue philosophiegeschichtliche Erkenntnisse hervorbringt. Richtig ist dagegen, dass auf Philosophiegeschichte gestützte Forschung direkt oder indirekt oft auch einen systematischen Output hat. Klarerweise ist das ein lediglich pragmatisches Argument, nach dem sich der Wert der Philosophiegeschichte aus dem Nutzen für die gegenwärtige, an der Aufklärung von Sachfragen orientierte Philosophie bestimmt. Das macht das Argument jedoch nicht zu einem schlechten – vielmehr gibt es den philosophischen Instituten einen entscheidenden Grund, die Philosophiegeschichte zu fördern und nicht als Hilfswissenschaft für die Geschichtswissenschaft an den Rand zu drängen. Es mag andere Argumente dafür geben, dass der Philosophiegeschichte ein positiver Wert zukommt. Ich möchte an dieser Stelle lediglich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Philosophie durch die Philosophiegeschichte in einer besonders glücklichen Lage ist: Sie kann sich an den positiven Folgen der Verwissenschaftlichung und Spezialisierung erfreuen und verfügt zugleich auch über ein Mittel, um ihren negativen Folgen entgegenzuwirken. Man sollte schon lange tote Philosophen lesen und an philosophischen Einrichtungen die Philosophiegeschichte fördern, weil dies vor einer thematischen Verengung des Fachs schützt.

Achim Vesper ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Seine hauptsächlichen Arbeitsschwerpunkte: Kant und die Philosophie der deutschen Aufklärung sowie Theorie praktischer Normativität.

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