08 Mai

Shin-Kan-Sen oder: Vom Geist des Journals

von Harald Schwaetzer (Cusanus Hochschule)


Ruhig und gleichmäßig rollt der Shinkansen Richtung Hiroshima. Ein eigentümlicher Ort, um über die Lage philosophischer Zeitschriften ein paar Gedanken aufs elektronische Papier zu bringen, schon gar als Mitherausgeber der „Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie“, die bekanntlich dem klassischen Druck auf Papier zugetan ist.

Im Gepäck ist ein Vortrag an der Universität Kobe über Günther Anders‘ Tagebuch von 1958 anlässlich seines Besuchs von Hiroshima. Im Gedächtnis ist die rezente Diskussion, die sich an Wolfram Eilenbergers Zeit-Beitrag zur „Wattierten Philosophie“ entzündet hat. Die These von Anders zum Atombombenabwurf, es handele sich um ein „überschwelliges“ Ereignis, weil es zu groß sei, um vom Bewusstsein erfasst zu werden, lässt sich auch als Mahnruf an die Philosophie heute verstehen. Wir sind auf einer Reise, an deren Ende möglicherweise ein neues Hiroshima steht, eines, das nicht nur mit der Atombombe, sondern mit allen Effekten zu tun hat, die im negativen Sinne das neue Zeitalter des Anthropozän ausmachen. Eines, dessen Charakter eine Überschwelligkeit der Überschwelligkeit selbst ist.

Wir fahren in einem Shinkansen. Shin-Kan-Sen, das ist: Neu-Haupt-Weg. Der perfekt rollende Zug, das ist unser neuer Leit-Zen. In der Tat möchte ich ihn nicht missen: die Perfektion, die Sicherheit, die Bequemlichkeit, die uns so viele Möglichkeiten zu kulturellem Austausch, menschlicher Begegnung und hilfreichen Wegen für Mensch und Erde verschafft, erfüllen mich mit tiefer Dankbarkeit. Und doch rollt dieser Neu-Haupt-Weg auf ein Hiroshima zu, und die ‚große Insel‘ ist nicht die der Unsterblichen – ebensowenig wie die andere Insel: Fukushima. Dieser Spannung hat eine Philosophie der Gegenwart Rechnung zu tragen. Eine „neue Aufklärung“, so hat Ernst Ulrich von Weizsäcker im neuen Club of Rome-Bericht angemahnt, sei zunächst eine philosophische Aufgabe. Philosophie verstanden als Disziplin und als Lebenshaltung. Philosophische Zeitschriften möchte ich von hierher denken.

Szenenwechsel. Vor einigen Wochen. Auf einer Konferenz. Diskussion im Nachgang eines Vortrags unter Geisteswissenschaftlern. Kollegin x fragt Kollegen y, ob er den Beitrag von Kollegen z, einem anwesenden renommierten Philosophen, in einem Journal mit Peer-Review etc. veröffentlichen würde. Kollege y antwortet ohne zu zögern mit einem Nein. Der Philosoph z bedankt sich freundlich mit der Bemerkung, er sei froh, von Kollege y wenigstens verstanden worden zu sein. Philosophie ist mehr als Wissenschaft, sie hat auch mit Bildung, Gespräch, Begegnung, Welt zu tun; es geht ihr auch um Entwicklung, Offen-Halten von Horizonten. Eine ‚reine‘, streng wissenschaftliche Philosophie als einziges – das wäre ein dünnes Erbe jüngerer Vergangenheit, ein Surrogat der Unfehlbarkeit kirchlicher Traditionen, angewiesen auf eine entsprechende Gläubigkeit, wie Feyerabend einmal bemerkte.

Blickwechsel. Vor geraumer Zeit war in „Forschung & Lehre“ zu lesen, dass der Wissenschaftsrat vorschlägt, bei Zeitschriften mit Peer Review eine „wild card“ oder auch ein gelegentliches Losverfahren einzuführen, um der Tatsache vorzubeugen, dass trotz aller vermeintlicher Objektivität doch nur Beiträge einer bestimmten Prägung zum Abdruck kämen. Nun, als Herausgeber einer Zeitschrift fühlt man sich nicht gerade geschmeichelt. Dass Herausgeber Möglichkeit und Fähigkeit hätten, eine offene Zeitschrift in Vielschichtigkeit zu betreuen – Fehlanzeige, so etwas kommt im metapraktischen Diskurs um vermeintlich objektive Wissenschaftskulturen nicht mehr vor. Im Gegenteil, lieber gleich, so der Vorschlag, die jungen Kolleginnen und Kollegen besser einüben in das gewohnte Verfahren. Dann hat man auch mehr GutachterInnen. Und kann mehr Lose werfen.

Zeitwechsel: Um 1800 gab es viele Zeitschriftenprojekte, auch viele gescheiterte. Muss man darüber überhaupt noch nachdenken? Ich verweise auf eines der gescheitertsten und gescheitesten: „Iduna“ von Friedrich Hölderlin. In einem Brief an den Verleger umreißt Hölderlin, worum es geht: „Als Vereinigung und Versöhnung der Wissenschaft mit dem Leben, der Kunst und des Geschmaks mit dem Genie, des Herzens mit dem Verstande, des Wirklichen mit dem Idealischen, des Gebildeten (im weitesten Sinne des Wortes) mit der Natur – diß wird der allgemeinste Karakter, der Geist des Journals seyn.“[1]

Eine philosophische Zeitschrift der Gegenwart – auch sie sollte einen Geist des Journals bilden, pflegen und hegen (Geister pflegen lebendig zu sein). Vereinigung und Versöhnung der Wissenschaft mit dem Leben, von Herz und Verstand, diese geradezu existentialistisch-idealisch anmutenden Gedanken hätten auch ein Shin-kan-sen der Gegenwart werden können. Sie sind es nicht, und Gedanken dieser Art sind inzwischen eher überschwellig, und doch bilden sie den Keim für eine neue Aufklärung. Erkenntnis der Geister ist vielleicht keine obsolete Paulinische Aufforderung.

Positionswechsel: Für philosophische Zeitschriften ist es meiner Ansicht nach nicht nur wichtig, dass sie Gegenwartsprobleme behandeln, sondern wie sie das tun. Rein diskursiv, ungeschichtlich -rein historisch, spekulativ etc., die Bandbreiten der lebendigen Form, wenn sie denn lebendig ist, sind erheblich. Beziehen wir also Stellung: Die Auswahl von Beiträgen sollte die Autoren und Herausgeber in Prozess und Gespräch einschließen und nicht in vermeintlicher Objektivität ausschließen. Profitieren wir nicht ungeheuer von Freunden und Kolleginnen, die unsere Beiträge lesen und verbessern? Weder sie noch das Verfahren sind blind. Es darf in einem Beitrag um „existentielle Erkenntnis“ (Heinrich Barth) gehen. Und sie darf Breite, Tiefe und Höhe haben. Die Breite des Einbezugs anderer Kolleginnen aus anderen Wissenschafts- oder Kulturräumen, die Tiefe des historischen Zugriffs, die allein eine Aktualität zu verbürgen vermag, die Höhe eines Ringens um Geist in der Anerkenntnis dessen, dass wir, wie es in Anders Tagebuch heißt, zwar nicht mehr den gleichen Boden, aber die gleiche Bodenlosigkeit eines Abgrundes teilen. Von hierher wünsche ich mir beherzte Journale der Philosophie – wohlgemerkt, ich halte meine Vorschläge nicht für allein seligmachend, aber für eine wichtige und unverzichtbare Stimme im Konzert philosophischer Musik.

Eine neue Aufklärung ist kein Shin-Kan-Sen, jedoch ein neuer Weg, der auch die spirituelle Weite der Philosophie nicht ausschließt, sondern einschließt, der sich nicht polemisch gegen eine rationale Diskursivität abgrenzt, sondern ihr ebenso einen Ort gibt.

Ich fahre noch immer im Shinkansen nach Hiroshima, und ich bin froh, dass er sicher fährt. Hiroshima, die große Insel, hat Günther Anders von diesem Satz her gedacht: „Die Verwandlung des Menschen wird eine Verwandlung seiner Moral sein müssen.“ Versuchen wir, dieses in seiner Überschwelligkeit leicht zu vergessende, verdrängende, verspottende Ideal mit Entschiedenheit aufzunehmen, so wird es unseren Umgang mit Zeitschriften, mit uns untereinander und mit unseren Beiträgen verändern. Als Herausgeber darfst Du Dich täglich ändern, und Du kannst täglich ändern. Der Geist des Journals als Zug der Philosophie.

[1] BA 7, 118.


Harald Schwaetzer ist Professor für Philosophie an der Cusanus Hochschule und Gastprofessor an der Universität Hildesheim.

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