23 Aug

Verspielte Perspektive. Zum ethischen Potenzial von Games

Martin Henning (Tübingen) und Patricia Wolny (Passau)


Digitale Spiele sind längst kein Nischenprodukt mehr, sondern nehmen in der aktuellen Populärkultur eine zentrale Stellung ein. Dabei prägen sie auch unsere Vorstellungen, wie die Welt beschaffen ist und wie wir uns handelnd in dieser Welt verhalten können, wesentlich mit. Im Folgenden soll deshalb nach einem spezifischen ethischen Potenzial des Video- und Computerspiels gefragt werden.

Im wissenschaftlichen Forschungsbereich der Game Studies hat es in den letzten Jahren eine Vielzahl von Untersuchungen gegeben, die sich mit der zentralen gesellschaftlichen Rolle von Games und in diesem Rahmen etwa mit der Darstellung von Politik und Gesellschaft in digitalen Spielewelten oder der Rolle des Spiels für Erinnerungskulturen befassen. Auch die Philosophie und Ethik blickt differenziert auf die digitale Spielkultur. Dabei wird zwischen verschiedenen Dimensionen des Spielens unterschieden, die jeweils unterschiedliche ethische Fragestellungen bedingen, je nachdem ob man etwa spielerische Interaktionen zwischen realen Personen, die Rolle von Spielen in der Gesellschaft oder die Wertevermittlung durch digitale Spiele ­betrachtet.[1] Entsprechend lassen sich medial präsente Forschungsfelder wie Gewaltdarstellungen sowohl relativ konkret auf der Ebene der moralischen Zulässigkeit virtueller Handlungen, als auch abstrakter auf der Ebene der Repräsentation von Wertvorstellungen in digitalen Spielen als interaktiven Zeichensystemen behandeln. Beispielhaft zugespitzt werden soll dieses breite Forschungsspektrum im Folgenden auf die recht plakative Frage, was eigentlich ein ethisch ‚kluges‘ Spiel ausmacht.

Dabei gilt es einige Besonderheiten des Mediums zu beachten. Erstenssind Spielregeln in der Regel nicht aus sich selbst heraus normativ interpretierbar. Das Ausscheiden der eigenen oder einer gegnerischen Spielfigur beinhaltet erst einmal keine ethische Dimension, sondern entscheidet nur über Sieg oder Niederlage auf dem Spielfeld. Erst durch die Einbettung der Spielregeln in eine Erzählung (zum Beispiel: Fraktion x kämpft gegen Fraktion y) können diese zum Gegenstand einer moralischen Reflexion werden.

In Bezug auf ihre Verknüpfungen von Spielregeln und Narration weisen digitale Spiele allerdings noch weitere Besonderheiten auf. Dies zeigt sich schon im wichtigsten Element von Narrationen: den Figuren. Spielfiguren (bzw. Avatare) sind stets im Kontext konkreter Handlungsvollzüge zu betrachten. Sie fungieren primär als ‚Werkzeug‘ der Spieler:innen zur Interaktion mit der dargestellten Welt. Dabei sind digitale Spielewelten in der Regel auf eine Weise gestaltet, die Spieler:innen permanent ihre eigene Wirkmächtigkeit (Agency) vor Augen führt: Jeder Tastendruck führt zu einer Aktion der Spielfigur, die eine unmittelbare Reaktion innerhalb der Spielwelt auslöst, wobei Spieler:innen oft ganze Welten und Gesellschaftssysteme handelnd beeinflussen können.

Diese Fokussierung auf eine zentrale handelnde Figur bedingt, dass in digitalen Spielen nur selten aus verschiedenen Perspektiven auf die dargestellte Welt geblickt wird. So umfasst die globale Kampagne des Ego-Shooters Battlefield 1 (EA Digital Illusions CE/Electronic Arts, 2016) im erzählerischen Kontext des 1. Weltkrieges zwar die Kriegsgeschichten amerikanischer, britischer, italienischer und arabischer Protagonist:innen. Die Schicksale der spielbaren Figuren werden in der Kampagne jedoch ohne Ausnahme auf wenige gemeinsame Nenner gebracht. Das multiperspektivische Erzählen dient hier weder der Darstellung von Komplexität im Kontext globaler Konflikte noch der Thematisierung von abweichenden kulturellen Interpretationen der Kriegsereignisse. Im Vordergrund steht vielmehr die vereinheitlichende Darstellung von Soldat:innen an der Front, die handelnd zu Helden werden. Entsprechend beinhalten diese Heldengeschichten keine abweichende weltanschauliche Perspektive – nicht umsonst kämpfen alle sechs Hauptfiguren auf Seiten der Alliierten. Nun wären zwar auch unterschiedliche Wahrnehmungen des Konfliktes auf dieser Seite denkbar, allerdings ist anzunehmen, dass die Missionen der Figuren dann auch jenseits ihrer Ästhetik und Spielmechanik unterschiedlich ausfallen müssten, wenn etwa verschiedene Kommandoebenen des Krieges involviert und dabei neben zeitkritischen auch entscheidungskritische Handlungsformen gefordert wären. Insofern sich der Spielablauf jedoch nur oberflächlich voneinander unterscheidet, bleibt die Perspektivierung des Kriegsgeschehens konstant.

Allerdings gibt es durchaus Beispiele innerhalb der digitalen Spielkultur, die ein spezifisches ethisches Potenzial des Computer- und Videospiels andeuten, das gerade bei der Einnahme fremder Handlungsperspektiven liegt. Während Innovationen in diese Richtungen seit den 2010er Jahren vor allem durch einen sehr aktiven Markt von Independent-Games befeuert wurden, operieren mittlerweile auch große Blockbuster-Produktionen mit zum Teil drastischen Abweichungen von Spielkonventionen. Ein einschlägiges Beispiel dafür ist The Last of Us 2 (Naughty Dog/Sony Interactive Entertainment, 2020, im Folgenden kurz: TLOUII), das von der Fankultur entsprechend kontrovers aufgenommen wurde.

Die erzählte Geschichte von TLOUII spielt inmitten einer Zombieapokalypse. In derlei Zombie-Erzählungen agieren die Überlebenden konventionell in soziologischen Mustern, wobei individualistische und kommunitaristische Interessen aufeinandertreffen. Entsprechend werden im Spiel verschiedene Fraktionen innerhalb der Apokalypse eingeführt, wobei zu Beginn eine eindeutige Gut/Böse-Verteilung vorzuherrschen scheint.

Der erste Teil der Reihe, The Last of Us (2013),folgte dem Protagonistenduo Ellie und Joel, welche sukzessiv, nach dem Tod ihrer Familienangehörigen, eine Ersatzfamilie füreinander bilden. Dabei fungiert jedoch bis auf eine Ausnahme lediglich Joel als Avatar der Spielenden. Als Joel Ellie am Ende des Spiels in ein Krankenhaus in Sicherheit bringen kann, stellt sich heraus, dass Ellie die Grundlage eines möglichen Impfstoffs für die Pandemie in sich trägt, allerdings soll sie für die Extraktion des Mittels ihr Leben lassen. Als Joel davon erfährt, wird den Spieler:innen als Missionsziel vorgegeben, Ellie aus dem Krankenhaus zu befreien, wobei es nötig ist, den behandelnden Arzt in Notwehr zu töten. Im zweiten Teil wird Joel nun von den Konsequenzen dieser Tat eingeholt. Dort wird die menschliche Zivilisation innerhalb bestimmter Zonen und Gruppierungen neu begründet: Joel und Ellie haben zu Spielbeginn ein weitestgehend friedliches Leben in der Kleinstadt Jackson begonnen. Der Hobbes‘sche Naturzustand, der die Außenwelt prägt, ist innerhalb dieser Grenzen außer Kraft gesetzt und ‚leben‘ ist wieder möglich. Doch Abby, die Tochter des von Joel getöteten Arztes aus Teil 1, findet den Protagonisten und erschlägt ihn ohne Eingriffsmöglichkeit der Spielenden brutal vor den Augen von Ellie mit einem Golfschläger. Dass damit bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Fortsetzung die im ersten Teil zu verkörpernde Figur getötet wird, ist im Spielkontext vergleichsweise unerwartet, was sich ansatzweise an schockierten Reaktionen von Spieler:innen in Let’s Plays ablesen lässt. Damit ist auch der weitere Spielauftrag für Ellie vorgegeben: Rache an Abby und der sie unterstützenden Gruppierung nehmen.  

Diese Racheaktion bildet grob die erste Hälfte des Spieles. Ellie bzw. die Spieler:innen überschreiten moralische Grenzen, die von Tag zu Tag schwerwiegender werden. Sie foltern und töten Mitglieder von Abbys Gruppierung, bis es ausgelöst durch diese Taten zur erneuten Konfrontation von Ellie und Abby kommt. Ellie ergibt sich vorerst und die Narration erfährt eine Zäsur. Dabei erlebt nicht nur die Spieler:innen-Perspektive einen Bruch, sondern auch die bislang lineare Chronologie, da die bereits geschilderten Ereignisse nun erneut thematisiert werden – nun allerdings aus der Perspektive von Abby. Dies erzeugt eine Irritation bei den Spieler:innen und sie verfolgen (wenn auch möglicherweise widerstrebend) das Gameplay sowie die Narration für mehrere Stunden, mutmaßlich mit der Hoffnung, Ellie wieder spielen zu dürfen, da sie die eigentliche ‚Heldin‘ des Spiels ist. Durch die alternierende Narrationsstrategie treffen sie dabei wiederholt auf Charaktere, die sie vorher in der Perspektive von Ellie ermordet haben, aber nun als Freunde von Abby wahrnehmen. Denn Abby wird ebenfalls in ihrem sozialen und ‚zivilisierten‘ Raum eingeführt, der sich vom Naturzustand maßgeblich unterscheidet.

Als es im letzten Spieldrittel zum erneuten Aufeinandertreffen mit Ellie kommt, bleiben die Spieler:innen nun weiter unerwartet in der Spielperspektive von Abby. Es wird ein brutaler ‚Bosskampf‘ bestritten und in einer vorgegeben Filmsequenz verschont Abby Ellie schlussendlich. Es erfolgt wieder ein Zeitsprung. Ellie und ihre Freundin Dina leben mit ihrem gemeinsamen Sohn auf einer Farm, bis Ellie durch ihr Trauma ausgelöst erneut nach Rache sinnt. Es kommt zum zweiten Finale und zum erneuten Bosskampf, diesmal jedoch in der ‚richtigen‘ Spielperspektive von Ellie. Anstatt Abby zu töten, lässt auch Ellie sie mit dem Leben davonkommen.

Dieser Handlungsverlauf führte nun zu teils kontroversen Reaktionen der Spieler:innen: So bekam Schauspielerin Laura Bailey, die Darstellerin von Abby, Morddrohungen über ihr Twitterprofil. Sie veröffentlichte die Nachrichten, in welchen sie als Abby betitelt wird, um einen Realitätsverlust der Spieler:innen deutlich zu machen. Auch Neil Druckman, der Lead-Designer des Spiels, wurde über soziale Netzwerke von den Spieler:innen angefeindet. Diese starken Reaktionen sind allein deswegen überraschend, weil Ellie und Abby im Spiel prinzipiell das gleiche Handlungsziel verfolgen: In beiden Fällen geht es um Rache aufgrund des Todes von Vaterfiguren. Der Grund für die Irritationen scheint tiefer zu liegen. Im Spiel wird die im Medium konventionell eindeutige ideologische Positionierung der Spieler:innen hinterfragt, indem die von ihnen begangenen Mordtaten aufgrund der einseitigen, dehumanisierenden Darstellung der Gegner:innen zuerst legitimiert erscheinen, sich diese moralische Entlastung jedoch im Zuge des Perspektivwechsels als grundsätzlich falsch erweist.

Diese Inszenierungsstrategie setzt sich bis in einzelne Spielszenen fort. So gibt es Interaktionsmomente, bei denen Spieler:innen zum Drücken einer Taste aufgefordert werden, wobei das Spiel nicht fortgeführt werden kann, wenn die Taste nicht betätigt wird. In einer dieser Szenen befinden sich die Spieler:innen in der Rolle von Ellie und müssen Nora (Teil der Mordgruppe an Joel) zum Reden bringen, um den Aufenthaltsort von Abby zu erfahren. Bei jedem Tastendruck wird von Ellie ein Schlag mit einem Stahlrohr ausgeführt. Dabei ist nicht dargestellt, was mit Nora passiert, stattdessen wird das Gesicht von Ellie aus untersichtiger Perspektive gezeigt. Spieler:innen befinden sich in der Szene folglich in der Handlungsperpektive von Ellie, jedoch wird bildlich simultan die Wahrnehmungsperspektive des Opfers Nora simuliert.

Diese Inszenierung ist wiederum dazu geeignet, eine medienreflexive moralische Diskussion anzustoßen. Ellie foltert Nora, so wie Abby zuvor Joel gefoltert hat (woraus sich der initiale Handlungsauftrag des Spieles ableitet). Der Gegenstand, der zum Schlagen verwendet wird, ist ein Eisenrohr und somit äquivalent zum von Abby verwendeten Golfschläger. Zugleich reflektiert die perspektivische Aufbereitung der Spielszene, dass es die Rezipient:innen (und nicht die fiktionale Figur Ellie) sind, denen die ‚Macht‘ durch die Interaktionstaste gegeben wird: Durch die Entkopplung von Ellies Wahrnehmung und die Einnahme von Noras Perspektive sind die User dabei Täter und Opfer zugleich. Spieler:innen müssen die Konsequenzen ihrer virtuellen Handlungen zeichenhaft selbst erfahren; für sie wird die medial bedingte Notwendigkeit im Spiel handeln zu müssen, hier eher zum Fluch.

Zwar kann nun trotz der schlussendlich deeskalierenden Auflösung des Spiels kritisch diskutiert werden, ob die spieltypische ‚Individualisierung‘ (Ellie vs. Abby) von immer auch kulturell und gesellschaftlich bedingten Konflikten nicht an den eigentlichen Problemlagen von gewalthaften Eskalationen vorbei zielt. Jedoch zeigt sich TLOUII gewissermaßen auch als Nicht-Spiel, weil der medienspezifische Zwang zum unreflektierten Handeln entlang der Vorgaben des Spielsystems hier grundsätzlich in Frage gestellt ist. Und genau darin liegt auch ein zentrales ethisches Potenzial von Games: TLOUII zeigt im Rahmen seines Perspektivwechsels (innerhalb der Grenzen eines Unterhaltungsprodukts) Ansätze einer komplexen Konfliktanalyse und der werteorientierten Hinterfragung des eigenen Handelns, was in Anbetracht zugespitzter globaler Konflikte durchaus auch gegenwartskritisches Potenzial entfalten kann.


Kurzbios der Autor:innen

Dr. Martin Hennig ist Medienkulturwissenschaftler und Postdoc am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Universität Tübingen. 2016 promovierte er mit der Arbeit „Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels“ (Marburg: Schüren 2017). In den letzten Jahren arbeitete er als Postdoc am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung“ und vertrat 2019–2020 den Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft (Schwerpunkt: Digitale Kulturen) an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a.: Digitale Kulturen, Kulturelle Imaginationen von KI und Überwachung, Narratologie, Medien- und Kultursemiotik, mediale Entwürfe von Gender und kultureller Identität, Privatheits-, Raum- und Subjekttheorien.

Patricia Wolny (B.A.) hat an der Universität Passau Osteuropäische Studien und kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung studiert. Davor hat sie jahrelang als ausgebildete Heilerziehungspflegerin bei der Lebenshilfe Passau gearbeitet. Aktuell studiert sie Perimortale Wissenschaften (M.A) an der Universität Regensburg und arbeitet an einer eigenen Homepage: https://www.semiotica.de.  


[1] Vgl. Ostritsch, Sebastian (2018): Ethik. In: Feige, Daniel M./Ostritsch, Sebastian/Rautzenberg, Markus (Hg.): Philosophie des Computerspiels. Stuttgart: Metzler, S. 77-96.

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