Angewandte Ethik in der Weiterbildung – wie praktische Philosophie gesellschaftsrelevant wird
von Ivo Wallimann-Helmer (Zürich)
Ethische Kompetenzen tragen wesentlich zur Schärfung des eigenen Berufsprofils bei. Doch Kompetenzen in Ethik und Kenntnisse in angewandter Ethik lassen sich weder einem klaren Berufsfeld zuordnen noch mit einer bestimmten Stufe der Karriereentwicklung identifizieren. Ethische Reflexionsfähigkeit ist fast überall wichtig. In den Weiterbildungsangeboten des Ethik-Zentrums, den Advanced Studies in Applied Ethics, vermitteln wir diese Kompetenzen seit bald 20 Jahren erfolgreich in Studiengängen, Kursen und Seminaren. Das erfordert aus Sicht der professionellen Philosophie eine grosse Offenheit und Flexibilität sowie eine starke Komplexitätsreduktion. Was als negativ mit Blick auf den philosophischen Tiefgang unserer Ausbildungen erscheinen mag, erweist sich aus meiner Sicht als ein Modell für die Zukunft der Ethik bzw. Philosophie als gesellschaftsrelevanter, wissenschaftlicher Disziplin.
Das breite Teilnehmerspektrum in unseren Weiterbildungen zeigt, dass ethische Zusatzqualifikationen nicht nur im Bereich der Compliance relevant werden. Sowohl in der Wirtschaft als auch der Medizin und allgemein in der Verwaltung werden die erworbenen ethischen Zusatzqualifikationen von unseren Teilnehmenden als eine wichtige Grundlage zur kritischen Reflexion und besseren Entscheidungsfindung geschätzt. Mithilfe der Ethik erwerben sie die Fähigkeit, bestehende Strukturen zu hinterfragen, auf ihre moralischen Herausforderungen hin einzuschätzen und innovative Lösungsansätze zu entwickeln. Dies kann bei der Analyse und Lösung konkreter Konfliktsituationen genauso helfen, wie zur Reduktion von Reputationsrisiken beitragen. Und wenn sich diese vielleicht etwas weit gefassten Versprechungen nicht erfüllen, dann sind unsere Weiterbildungen für Viele zumindest eine wertvolle Horizonterweiterung. So zumindest die Rückmeldungen der meisten unserer Teilnehmenden.
Fast alle unserer Studierenden stehen mitten im Berufsleben. Andere sind bereits pensioniert. Sie sind Ärztinnen, Pflegende oder Physiotherapeuten. Aus dem Kontext der Wirtschaft werden unsere Angebote von Coaches, Consultants aber auch von Angehörigen der Finanzbranche besucht. Nicht selten sind Juristinnen und Lehrer dabei, aber auch Kaderleute aus Sozial- und Umweltämtern. Entsprechend breit sind auch die Fragestellungen, die in den Abschlussarbeiten bearbeitet werden. Welche ökologischen Pflichten haben Spitäler? Unter welchen Umständen ist eine Gewässerrevitalisierung fair? Dürfen Fair Trade-Unternehmen auf die Konkurrenzklausel zurückgreifen? Und: Ist assistierter Suizid für Kinder und Jugendliche zulässig? Diese und ähnliche Fragestellungen bringen unsere Teilnehmenden aus ihrem Arbeitsalltag in unsere Studiengänge mit und bearbeiten Sie vor dem Hintergrund etablierter Debatten der angewandten Ethik. Ihre Arbeiten fördern oft unerwartete Resultate zutage und Verknüpfen Debatten der angewandten Ethik auf ungeahnte Weise. Dabei lernen nicht nur die Studierenden, sondern auch wir professionellen Ethikerinnen und Philosophen.
Wir hoffen, unseren Studierenden die nötigen Kompetenzen zu vermitteln, um moralische Konflikte überhaupt erst als solche zu erkennen und selbstständig einer Lösung zuzuführen. Mit unseren Ausbildungsangeboten setzen wir auf die Entwicklung der moralischen Integrität und einen breiten Überblick über die aktuellen Debatten der angewandten Ethik. Zentrales Anliegen unserer Ethik-Ausbildungen ist, die moralischen Reflexionskompetenzen zu schärfen und gleichzeitig das Rüstzeug zu vermitteln, um bei Bedarf selbst Recherchen anstellen zu können. Obwohl Codes of Conduct und Leitbilder in der Arbeitswelt eine wichtige Rolle spielen, sind der moralische Kompass und die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen unabdingbar.
Darüber hinaus sind unsere Weiterbildungen in angewandter Ethik ein hilfreiches Mittel, um die wissenschaftliche Forschung des Ethik-Zentrums öffentlichkeitswirksam in die Gesellschaft zu tragen. Weit mehr als 400 ausgebildete Ethikerinnen und Ethiker haben in den bald 20 Jahren des Bestehens der Advanced Studies in Applied Ethics abgeschlossen. Viele bekleiden zwischenzeitlich Schlüsselpositionen in der Wirtschaft, in der Forschung und der Berufsausbildung, in denen ethische Kompetenzen zum Kern des Stellenprofils zählen. Der Erfolg unserer Angebote ist nicht selbstverständlich und verlangt von uns professionellen Philosophinnen und Philosophen einiges ab.
Eine besondere Herausforderung ist zunächst die Beziehung zu unseren Teilnehmenden. Wir haben es mit Leuten zu tun, die stark im Berufsleben verankert sind und Geld in ihre Weiterbildung investiert haben. Ihnen gegenüber sind wir deshalb in erster Linie Dienstleister. Im Vorfeld haben wir mit unserer Werbung und in öffentlichen Auftritten Versprechen abgegeben, die es bei der Durchführung unserer Studiengänge, Seminare und Kurse einzulösen gilt. Dies bedingt didaktisches und menschliches Geschick sowie ein gewisses Feingefühl für die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmenden. In meiner Funktion als Studien- und Geschäftsleiter musste ich in dieser Hinsicht oft einiges moderieren, klären und glätten. Doch im Endeffekt steht und fällt der Erfolg mit den Dozierenden und ihrem Auftritt.
20 Jahre Erfahrung im Umgang mit Weiterbildungsstudierenden sind da ein äusserst hilfreicher und solider Hintergrund, der sich auch in den Unterrichts- und Organisationsstrukturen niederschlägt. Die Vorlesungen sind unterhaltend gestaltet und laden immer wieder zur Diskussion ein bzw. werden durch entsprechende Übungen unterbrochen. Die Lektüreanforderungen sind auf die Studierenden und ihr Zeitbudget zugeschnitten, bei Terminproblemen sind wir von der Organisation und Kulanz her äusserst flexibel. Die Teilnehmenden an unseren Angeboten sind in diesem Sinne unsere Kunden, aber auch gleichzeitig unsere wichtigsten Werbeträger. Nicht selten vermitteln ehemalige Studierende neue Interessentinnen und Interessenten an uns. Auch deshalb ist es von zentraler Bedeutung, auf die individuellen Bedürfnisse der Studierenden einzugehen.
So betrachtet, mag der Eindruck entstehen, unsere Weiterbildungsangebote seien nichts mehr als Wohlfühlkurse, bei denen der philosophische Gehalt und die akademische Qualität verloren gehe. Dem ist aber mitnichten so und zwar aus folgenden Gründen. Zunächst stellt eine Lehre, die den Anforderungen der Weiterbildung gerecht werden will, ähnliche wenn nicht gar höhere Ansprüche an die Unterrichtenden wie die klassische Hochschullehre. Ohne vertiefte Debattenkenntnis und eigene Forschung kann man philosophische Debatten kaum einem Weiterbildungspublikum angemessen vermitteln. Komplexitätsreduktion erfordert zunächst das Durchdringen derselben und zwar in höchstem Mass. Unterhaltend sein kann nur, wer in den Debatten mehr als Sattelfest ist und gleichzeitig auf einen reichen Fundus an Praxisbeispielen zurückgreifen kann.
Dabei ist selbstverständlich klar, dass unsere Studierenden ethische Kompetenzen in unterschiedlicher Qualität erwerben. Manche sind einfach für ethische Fragestellungen sensibilisiert und erkennen ethische Positionen beim Zeitunglesen. Andere können ihre erworbenen Kompetenzen in der Gesprächsführung am Arbeitsplatz einbringen und wieder andere übernehmen spezifische Funktionen. Doch unsere Studierenden haben auch schon Preise gewonnen oder gelten als Koryphäen für Ethik in ihrem Berufsfeld. Sei dies als Dozentin für Berufsethik, als Schlüsselperson in Ethik-Kommissionen oder nur schon als Mitarbeiterin in der Compliance-Abteilung eines Unternehmens oder einer Organisation.
Dies alles beweist nun natürlich nicht, dass unsere Art praktische Philosophie und angewandte Ethik zu vermitteln auch tatsächlich philosophischen Gehalt hat. Doch es zeigt, dass diese Art der Vermittlung und der Austausch mit unseren Studierenden fruchtbar sind. Die Lehrenden verfeinern und perfektionieren ihre Darstellung komplexer Sachverhalte. Zudem erwerben sie eine gewisse Sensibilität für die realen Bedingungen, unter denen ethische Herausforderungen entstehen. Die Teilnehmenden erwerben ein Sensorium für ethische Herausforderungen und können dieses je nach erworbenen Kompetenzen so weit entwickeln, dass sie damit gesellschaftliche oder wissenschaftliche Anerkennung finden.
Diese Art der Anerkennung ist meiner Meinung nach ein Hinweis darauf, wie Philosophie bzw. Ethik als wissenschaftliche Disziplin ihre Bedeutung für die Gesellschaft, aber auch für die wissenschaftliche Forschung stärken kann. Indem philosophische und ethische Reflexionskompetenz interdisziplinär vermittelt und transdisziplinär angewendet wird, entstehen fruchtbare Formen der Zusammenarbeit und hoffentlich innovative Lösungsansätze. Im Austausch mit unseren Studierenden haben wir die Möglichkeit, die Relevanz ethischer Reflexionskompetenz für das gesellschaftliche Zusammenleben herauszuschälen und gleichzeitig auf die realen Herausforderungen aufmerksam zu werden.
Die Studierenden erkennen demgegenüber, welche Bedeutung Werthaltungen und normative Hintergrundannahmen in ihrem Alltag haben. Entsprechend verlieren Philosophie und Ethik zumindest in der Wahrnehmung unserer Teilnehmenden das ihnen allzu häufig zugeschriebene Nischendasein. Das gilt auch für die Forschung im transdisziplinären Austausch, der manchmal zunächst auf Ablehnung stossen mag. Denn häufig zeigt sich erst im praktizierten, transdisziplinären Austausch das Bedürfnis nach konzeptioneller Klärung und Analyse der normativen Voraussetzungen der eigenen Forschung. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass aus einem solchen Austausch nicht selten Erkenntnisse hervorgehen, die im disziplinären Austausch so nicht entstanden wären.
Ivo Wallimann-Helmer arbeitet zu Fragen der Angewandten Ethik mit einem besonderen Fokus auf deren Gerechtigkeitsimplikationen. In den letzten Jahren setze er sich vermehrt mit Fragen der Umweltgerechtigkeit und dem Klimawandel auseinander. Er leitete die vergangenen 8 Jahre die Weiterbildungsstudiengänge Advanced Studies in Applied Ethics.