Ausnahmezustand und Verfassung: Sind die Corona-Demonstranten die wahren Verfassungspatrioten?
Von Lena Güldner (München)
„Wir sind das Volk.“ Dieser altbekannte Schlachtruf ertönt seit Kurzem wieder häufig in Deutschland und zwar im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung von Corona. „Wir sind das Volk“: ein Ausruf, der durch seine historische Bezugnahme auf die Montagsdemonstrationen in der DDR gleichsam eine gerechte Auflehnung gegen den totalitären Unterdrückungsstaat, eine demokratische Bewegung als Bekenntnis und Kampf zu liberalen Freiheitsrechten impliziert. Das ist es auch, was sich viele Teilnehmer*innen der Protestbewegungen zumindest offiziell auf die Fahne schreiben. So heißt es auf dem YouTube Kanal der Initiative Querdenken 711 „Wir sind für das Grundgesetz“ und auch die Vereinigung Demokratischer Widerstand titelt auf ihrer Webseite: „Demokratischer Widerstand für Verfassung, Grundrechte & transparente Gestaltung der neuen Wirtschaftsregeln durch die Menschen selbst“. Es scheint sich um besorgte Bürger*innen zu handeln, die Prinzipien des Grundgesetzes verletzt sehen und sich in ihren Bürgerrechten unrechtmäßig eingeschränkt fühlen. Doch spätestens seit den Pegida-Demonstrationen ab Oktober 2014 ist „Wir sind das Volk“ nicht mehr ausschließlich positiv konnotiert. Denn dort nutzten Extremist*innen diese Parole, um unter dem Deckmantel der Demokratie ihre rechte Propaganda zu verbreiten. Dass dies auch bei den bei den aktuellen Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Fall ist, scheint durchaus eine Möglichkeit. Nun stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich sich die Demonstrationen mit einer verfassungspatriotischen Grundhaltung rechtfertigen lassen: Wären wir als wahre Verfassungspatrioten vielleicht sogar gezwungen, im Angesicht massiver Grundrechtsbeschränkungen aufgrund von Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 unsere demokratischen Prinzipien und Bürgerrechte aktiv zu verteidigen? Oder, anders gefragt: Unter welchen Bedingungen dürfen wir aus einer verfassungspatriotischen Gesinnung heraus gegen die Einschränkungen demonstrieren? Ich werde im Folgenden zunächst den Begriff Verfassungspatriotismus kurz darlegen, anschließend über die Legitimität von Demonstrationen sprechen und zuletzt zwei Kriterien skizzieren, wann die aktuellen Proteste als verfassungspatriotisch gelten können.
Zum Begriff des Verfassungspatriotismus
Zunächst müssen wir klarstellen, was Verfassungspatriotismus bedeutet. Der Begriff entstand ursprünglich im Dilemma eines geteilten Deutschlands: Mit der DDR und BRD bestanden zwei Staaten, deren Bewohner*innen eine Sprache und Kultur teilten und vormals eine nationale Schicksalsgemeinschaft bildeten. Somit war es unmöglich, in der BRD ein identitätsstiftendes Nationalgefühl auszubilden, das sich eben auf diese vorpolitische, durch gemeinsame Sprache, Kultur und ethnische Herkunft definierte Schicksalsgemeinschaft bezieht. Deshalb entwickelte Dolf Sternberger den Begriff Verfassungspatriotismus, dessen Grundidee darin besteht, einen alternativen Anknüpfungspunkt für kollektive Identität zu bieten: Die Verfassung.[1] Dabei richten wir unsere patriotischen sentiments jedoch keineswegs auf das juristische Dokument der Verfassung selbst, sondern vielmehr auf die „lebende Verfassung“[2]. Diese setzt sich zusammen aus den faktischen politischen Institutionen, aber auch explizit der aktiven Teilhabe der Staatsbürger an jenen. Durch die Identifikation mit dieser gelebten Verfassung könne ein Ersatz für das Nationalgefühl geschaffen werden. So sagt Sternberger:
Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.[3]
Habermas geht noch einen Schritt weiter. Er entwickelt ein Konzept des Verfassungspatriotismus, der nicht auf die real existierenden politischen Institutionen gerichtet ist, sondern vielmehr auf die universalistischen Prinzipien unserer Verfassung. Diese Prinzipien „weisen über das Ensemble der jeweils geltenden Gesetze hinaus“[4], das bedeutet, sie sind Referenz und normativer Leitfaden unserer Gesetze, ohne dabei selbst detailliert positiviert zu sein. Daraus ergibt sich ein gewisser normativer Überschuss des Grundgesetzes: Die grundlegenden Verfassungsprinzipien sind nicht vollständig, sondern nur bis zu einem gewissen Grad und in Abhängigkeit der jeweiligen historischen Umstände in unseren faktischen politischen Institutionen verwirklicht und weisen somit über diese hinaus. Da die grundlegenden Prinzipien der Verfassung Legitimationsgrundlage unserer Institutionen sind, dürfen die beiden keinesfalls gleichgesetzt werden. Das nennt Habermas die „Doppelbödigkeit des demokratischen Verfassungsstaates“[5], welche sich in der Geisteshaltung der verfassungspatriotischen Staatsbürger*innen manifestiert:
Ich meine die kritische Distanz gegenüber und die spontane Identifikation mit der bestehenden Praxis einer halbwegs funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie.[6]
Die universalistischen Prinzipien können, müssen aber nicht in einem partikularistischen historischen und nationalen Kontext verwurzelt sein.[7] Das identitätsstiftende Moment entsteht dabei nicht durch ethnisch-kulturelle Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr durch die Verfassungsprinzipien, die sich „in der Praxis von Bürgern, die ihre demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte aktiv aus üben“[8] manifestieren. So kann dann auch der Schlachtruf „Wir sind das Volk“ ein Ausdruck verfassungspatriotischer Gesinnung werden, wenn das Volk nicht als vorpolitische Schicksalsgemeinschaft, sondern als Gemeinschaft von Bürger*innen, die sich über die universellen Prinzipien einer gemeinsamen politischen Kultur definiert, gesehen wird.
Zur Legitimität von Demonstrationen
Wenn wir über die Legitimität von Demonstrationen sprechen, stehen legale, angemeldete und von der Polizei erlaubte Kundgebungen außer Frage. Versammlungsfreiheit ist ein in unserem Grundgesetz verankertes Bürgerrecht und darüber hinaus substanzieller Bestandteil unserer freiheitlich-demokratischen Werte und Normen, die in unserem Grundgesetz positiviert sind. Damit sind legale Demonstrationen sogar wünschenswert als Ausdruck einer aktiven demokratischen Kultur, die im Rahmen unserer politischen Institutionen verwirklicht werden kann und die einen Austausch zwischen Bürger*innen und ihren politischen Vertretern ermöglicht. Legale Demonstrationen sind wichtiger Teil einer politischen Landschaft, die die Bürger*innen aktiv mitgestalten können. Wie steht es aber um illegale Proteste? Am zehnten Mai 2020 protestierten statt der angemeldeten 80 Teilnehmer knapp 3000 Menschen gegen staatliche Coronamaßnahmen auf dem Münchner Marienplatz [Vgl. tz.de]. Auch wenn diese Demonstration gegen die staatlichen Auflagen verstoßen hat und somit nicht mit dem Gesetz im Einklang standen, waren die Demonstrant*innen vielleicht trotzdem im Recht? Können Demonstrationen legitim sein, auch wenn sie nicht legal sind?
Sternberger führt hier an, dass Demokratie nur dank der faktisch existierenden Institutionen überhaupt bestehen kann und diese im demokratischen Rechtsstaat gleichsam die Freiheit garantieren. Eine Bekämpfung derselben kommt demnach einem Angriff auf die Freiheit gleich.[9] Zwar leugnet Sternberger keineswegs, dass Bürger*innen die Entscheidungen ihrer Politiker anzweifeln dürfen, aber dies sollte innerhalb des Systems geschehen. Gerade das mache ja die demokratische, rechtsstaatliche Verfassung aus: Dass sie Bürgerbeteiligung ermöglicht und dadurch die Chance auf eine plurale, lebendige politische Landschaft gibt. Daraus ergibt sich die Pflicht, konstruktive Kritik zu üben, die sich an die von den politischen Institutionen vorgegebenen Regeln hält.[10] Sonst werde man zum Verfassungsfeind und diesen dürfe kein Platz eingeräumt werden. So schreibt Sternberger:
Gegen erklärte Feinde jedoch muß die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht.[11]
Was jedoch, wenn die politischen Institutionen gar nicht mehr verfassungsgemäß handeln? Gibt es bloß auf dem Boden der Verfassung eine Garantie dafür, dass sich unser Staat nicht in einen Unterdrückungsapparat verwandelt? Laut Habermas ist dies eben nicht der Fall, da die Verwirklichung der universalistischen Verfassungsprinzipien in der Praxis nicht systemimmanent ist. Durch menschliche oder institutionelle Fehler kann es zu Entscheidungen und Gesetzen kommen, die nicht mit den Grundprinzipien unserer Verfassung vereinbar sind. Sollte dadurch der Grad der Umsetzung der universalistischen Prinzipien in unseren partikularen politischen Institutionen auf ein aus der Sicht der Bürger*innen nicht tragbares Maß absinken, dann sind auch illegale Demonstrationen legitim. Denn unsere Loyalität schulden wir nicht den Institutionen des Staates, sondern vielmehr den Prinzipien unserer Verfassung. Proteste sind dann nicht als Angriff auf unsere rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung zu werten, als vielmehr ein Versuch, diese zu schützen[12]. So sagt Habermas:
[D]er Rechtsstaat [darf] von seinen Bürgern nur einen qualifizierenden Gehorsam verlangen […], weil er eben mit seinen legitimierenden Verfassungsgrundsätzen über die jeweils bestehende Legalordnung auch hinausweist. […] [D]ie Legitimität rechtsstaatlicher Institutionen [ist] letztlich auf das nicht-institutionalisierte Mißtrauen der Bürger angewiesen […]- jedenfalls eher als auf deren blinde Loyalität.[13]
Wann lassen sich die aktuellen Proteste durch Verfassungspatriotismus begründen?
Um die aktuellen Proteste durch eine verfassungspatriotischen Haltung zu begründen, müssen also mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein. Zunächst dürfen die Proteste keineswegs auf eine Abschaffung unserer gesellschaftspolitischen Ordnung abzielen (wie es viele Verschwörungstheorien tun), sondern vielmehr einzelne politische Entscheidungen konstruktiv kritisieren.[14] Weiterhin muss davon ausgegangen werden, dass die aktuellen Einschränkungen in Konflikt mit den universellen Prinzipien unserer Verfassung stehen. Das ist natürlich aus mehreren Gründen nicht ganz einfach zu evaluieren: Erstens ändern sich Gefährdungslage durch das Virus und auch das Ausmaß der Einschränkungen fortlaufend, woraus sich eine immer neue Situation ergibt, die zudem immer wieder neu hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen bewertet werden muss. Zweitens befinden sich die politischen Entscheidungsträger*innen, wie auch die Bürger*innen in einem Zustand epistemologischer Unsicherheit, was das Virus und die Wirkungen von Maßnahmen zu seiner Eindämmung angeht. Zuletzt der vielleicht wichtigste Grund: Juristisch ungebildeten Bürger*innen wird es schwerfallen, die universalistischen Prinzipien der Verfassung zu definieren und gegeneinander abzuwiegen, da dies eine sehr genaue und sachlich fundierte Kenntnis der Verfassung voraussetzt.
Nichtsdestotrotz darf und soll die Politik die Sorgen der Bürger*innen ernst nehmen. Wie Habermas sagt:
Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehört es, daß die Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gewürdigt und geachtet werden. Auch wenn sie rechtswidrig sind und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen, müssen sie als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst genommen werden.[15]
Trotzdem dürfen wir keineswegs den Fehler machen, die Propaganda von Rechtsextremist*innen und Verschwörungstheoretiker*innen als einen Versuch zu sehen, unserer universalistischen Verfassungsprinzipien zu schützen. Wenn wir ihnen erlauben, unsere Verfassung für ihre Zwecke zu missbrauchen, setzen wir die fundamentale Kraft unseres „nicht-institutionalisierten Misstrauens“[16] aufs Spiel.
[1] Vgl. Sternberger, Dolf: „Verfassungspatriotismus. Rede bei der 25-Jahr-Feier der Akademie für politische Bildung“, in: Ders.: Verfassungspatriotismus. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1990, S. 19-31.
[2] Sternberger, Dolf: „Verfassungspatriotismus“, in: Ders.: Verfassungspatriotismus. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1990, S. 15.
[3]Ebd. S.13.
[4] Habermas, Jürgen: „Über den doppelten Boden des demokratischen Rechtsstaates“, in: Ders.: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987, S. 20.
[5] Ebd. S. 19.
[6] Ebd. S. 20.
[7] Vgl. Habermas, Jürgen: „Staatsbürgerschaft und nationale Identität“ in: Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 4. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992, S. 643.
[8] Ebd. S.636.
[9] Vgl. Sternberger: „Verfassungspatriotismus. Rede bei der 25-Jahr-Feier der Akademie für politische Bildung“, S. 30.
[10] Vgl. Sternberger: „Anmerkungen beim Colloquium über ‚Patriotismus’ in Heidelberg am 6. November 1987“, in: Ders.: Verfassungspatriotismus. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1990, S. 37.
[11] Sternberger: „Verfassungspatriotismus“, S. 16.
[12] Vgl. Habermas: „ Über den doppelten Boden des demokratischen Rechtsstaates“, S. 19-23.
[13] Ebd. S. 22.
[14] Für diese Bedingung muss natürlich gegeben sein, dass die grundlegenden Verfassungsprinzipien unter normalen Umständen (ohne Corona-Einschränkungen) hinreichend in unseren Institutionen realisiert sind,- wovon meiner Meinung nach in Deutschland legitimerweise ausgegangen werden kann.
[15] Vgl. Habermas: „ Über den doppelten Boden des demokratischen Rechtsstaates“, S. 22.
[16] Ebd. S. 23.
Lena Güldner studiert im 2. Semester Philosophie an der LMU München. Neben der Universität schreibt und publiziert sie für das philosophische Studierenden-Magazin DIE FUNZEL. Der Text entstand im Rahmen des Seminars „Verfassungspatriotismus, Grundkonsens, Leitkultur – zu den moralischen Grundlagen der Demokratie“ unter der Leitung von Timo Greger.