Die postfaktische Demokratie und ihre Kritiker

von Veith Selk (Darmstadt)


Verfolgt man die gegenwärtig im Feuilleton und in der Wissenschaft ausgetragene Debatte über den Zustand der westlichen Demokratien, kann dabei der Eindruck entstehen, den Demokratien kämen die Tatsachen abhanden. Nimmt man die dominanten Selbstbeschreibungen der Demokratien beim Wort, wäre das in der Tat problematisch, ist doch diesen zufolge das Wissen über Fakten auf mindestens zwei Ebenen von Bedeutung. Erstens setzt die Erzeugung demokratischer Legitimität voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind, sich sowohl über die politischen Probleme und Handlungsoptionen als auch über die faktische Regierungspolitik und ihre Folgen, die häufig selbst zu politischen Problemen werden, öffentlich sachkundig machen können. Zweitens kann nur dann gut regiert werden, wenn der Staat über Wissen verfügt. Nicht zufällig hing die Entstehung des Staates mit der Entstehung der Statistik zusammen, die den Herrschenden faktenbasiertes Herrschaftswissen bereitstellte – mal zum Guten, mal zum Schlechten der Untertanen. Das ist auch in der Demokratie so. Die Bedeutung von Wissen nimmt in ihr sogar zu, weil demokratische Politik nicht nur in hohem Maße der Legitimität bedarf, sondern auch durch eine Erhöhung der Erwartungen und Ansprüche an das Staatshandeln charakterisiert ist.

Auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger, von der Warte rationalistischer Demokratietheoretiker und antidemokratischer Neoplatonisten betrachtet, als in hohem Maße unwissend oder ignorant gelten, sind sie, historisch betrachtet, wissend wie nie zuvor. Hierzu trägt die Ausweitung formaler Bildungsphasen genauso bei, wie die massenmedial vermittelte, sich auf mehr und mehr Gegenstände erstreckende Öffentlichkeit. In ihr kann nahezu alles als ein politisches Problem diskutiert werden. Misst man die daraus resultierenden Diskussionen an den Maßstäben philosophischer Argumentationstheorien, ist das Ergebnis gewiss ernüchternd. Denn ein nicht geringer Teil der Stellungnahmen politischer Akteure, die öffentlich politische Entscheidungen verteidigen, vorbereiten oder einfordern, besteht aus white lies, d.h. es werden wichtige Aspekte der faktischen Sachverhalte, um die es dabei geht, bewusst weggelassen, um auf diesem Wege, zum Beispiel, unpopuläre Verteilungseffekte dieser Entscheidungen unsichtbar zu machen –, die dann im Idealfall von der Opposition und kritischen Journalisten als solche angeprangert werden.[1] Wer tatsächlich durch eine Entscheidung profitiert oder verliert, ist dennoch meist nicht unmittelbar evident.

Die gegenwärtig populäre Rede von fake news, alternative facts und dem postfaktischen Zeitalter suggeriert, dass sich in den westlichen Demokratien etwas Wesentliches verändert hat. Das ist auf der semantischen Ebene einleuchtend. Nehmen wir das Wort von den alternative facts. Geprägt wurde es von Kellyanne Conway, einer Beraterin Donald Trumps. Von einem Journalisten gefragt, warum der Pressesprecher Sean Spicer wahrheitswidrig bei seiner Aussage blieb, Trumps Inauguration habe mehr Besucher angezogen als die Inauguration Obamas, antwortete sie, der Pressesprecher habe bloß „alternative Fakten“ präsentiert. Diese Wendung ist bemerkenswert, weil die Wortprägung die neoliberale „free-to-choose“-Logik auf Tatsachen ausweitet. Es würden „alternative“ Fakten zur freien Auswahl angeboten (und nicht, wie es in autoritären Herrschaftsregimen der Fall ist, von der Regierung dekretiert). Semantisch erscheint das als neu, weil die Fakten selbst, d.h. die empirischen Sachverhalte in der Wirklichkeit, im Unterschied zu den Aussagen über sie, bisher nicht als frei wählbar galten.

Es wäre allerdings irrig, anzunehmen, in der demokratischen Öffentlichkeit habe vor dem Aufkommen von fake news und populistischer Politik eine verständigungsorientierte Diskussionskultur geherrscht, in der stets sauber zwischen einhellig als solchen anerkannten Fakten und strittigen Meinungen (über die Bedeutung der Fakten oder über Werte und politische Programmatiken usw.) unterschieden wurde, etwa nach dem Muster: die Tagesschau liefert die Fakten, und was aus ihnen folgt, klärt die Deliberation der Demokraten. Tatsächlich sind dort, wo Freiheit herrscht, auch Fakten öffentlich umstritten. Die politisch besonders relevanten Fakten lassen sich zudem nicht endgültig klären, weil die Begriffe, mit denen sie bezeichnet werden, von Wertungen abhängen. Was Arbeitslosigkeit, Armut, Reichtum oder Wachstum sind, lässt sich nicht ohne Wertung sagen, und über die kann in einer wertepluralistischen Demokratie kein Konsens erzielt werden. Infolgedessen sind in der Demokratie auch die Aussagen über die Höhe der Arbeitslosigkeit, die tatsächliche Armut usw. umstritten. Hinzu kommt, dass auch in der Demokratie Herrschaft ausgeübt wird. Und wer herrscht, der hat etwas zu verbergen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Aussagen über Fakten ein Gegenstand politischer Manipulationsversuche sind und einige Fakten gar nicht erst erhoben werden. Die Dauerwerbesendung schließlich, die in Form von großformatigen Plakaten, unzähligen Anzeigen und sponsored content täglich auf uns einprasselt, stellt gleichsam eine Dauerpropagandasendung im Dienste ökonomischer und politischer Interessen dar, die es mit den Fakten meist nicht allzu genau nimmt. Dennoch mag man fragen: geht der oben skizzierte semantische Wandel des politischen Vokabulars mit einem institutionellen Wandel der Öffentlichkeit und der Entstehung neuer politischer Einstellungen einher? Dafür gibt es Anzeichen.

Gestützt durch die Verbreitung digitaler Informationstechnologien ist eine Gegenöffentlichkeit, unter anderem in Form von semiprofessionellen Alternativmedien entstanden, die sich als Korrektiv der „herrschenden Berichterstattung“ der großen Medienanstalten verstehen und die ihre Identität durch ihr Abweichen vom „Mainstream“ bilden. Im Unterschied zur linksalternativen Gegenöffentlichkeit früherer Tage, die sich über eine alternative Deutung der Fakten und über andere Themen definierte, spielt hier die Kritik der Nachrichten über Fakten und das Säen von Zweifel eine zentrale Rolle; die journalistische Berichterstattung in den etablierten Medien, aber auch die öffentliche Kommunikation etablierter politischer Kräfte sollen auf diesem Wege als manipulativ entlarvt werden. Das gewinnt nicht nur dadurch Plausibilität, dass auch in der journalistischen Berichterstattung zuweilen manipulative Techniken zum Einsatz kommen, etwa mittels der suggestiven Verwendung von Bild- und Tonaufnahmen oder der tendenziösen, vorgeblich aber neutralen Beschreibung eines Sachverhalts. Es fällt vor allem deshalb auf fruchtbaren Boden, weil die Darstellungen der Wirklichkeit in den Massenmedien Konstruktionen sind, die aus Entscheidungen darüber entstehen, was wann wie berichtet wird. Diese Entscheidungen können immer auch anders ausfallen, und dies wird zunehmend bewusst. Dieser Bewusstseinswandel ist nicht trivial, sondern politisch bedeutsam, denn die journalistische Darstellung von Wirklichkeit in den Massenmedien ist ein eminenter Machtfaktor, der vermehrt als solcher durchschaut wird. Verbunden mit der zunehmenden Verbreitung von Ressentiments bis hin zum Hass gegenüber Teilen der Deutungseliten führt dies dazu, dass der professionelle Journalismus gegenwärtig stärker von dem betroffen ist, was die Wissenssoziologie als Motivverdacht bezeichnet, mit der Folge, dass den journalistischen Entscheidern illegitime politische Motive unterstellt werden. Gleiches gilt für eine zweite Gruppe, die gewissermaßen ex professo für die Vermittlung von Fakten zuständig sind, die Experten.

Was früher die Intellektuellen waren, sind heute die Experten. Während sich Intellektuelle, zuständig für die Deutung gesellschaftlicher Großprobleme, durch ihr politisches Engagement auszeichnen, stehen Experten für sicheres Wissen in einem gesonderten Fachgebiet, das durch Politikdistanz gekennzeichnet ist. Stellen sie es als Fachwissen für politische Entscheidungen und deren öffentliche Rechtfertigung bereit, wie es besonders häufig bei den medial präsenten „Wirtschaftsexperten“ der Fall ist, beruhen ihre Reputation und ihr Einfluss darauf, dass ihre Politikdistanz scheinbar gewahrt bleibt. Ihr Einfluss wird in dem Moment als Engagement wahrgenommen, in dem er als politisches Handeln deutbar ist. Letzteres ist immer häufiger der Fall, nicht zuletzt deshalb, weil nicht wenige dieser Experten ihre Reputation für politische Zwecke einsetzen oder aber von Politikern instrumentalisiert werden.

Wenn nun gegenwärtig Wortführer des professionellen Journalismus in den großen Medienhäusern, politisierende Experten sowie Vertreter der berufspolitischen Klasse gemeinsam moralisierend die Störung des politischen Diskurses durch fake news, alternative facts und populistische Krawallpolitiker anprangern, dann reagieren sie auf ein reales Phänomen. Weder die Rhetorik populistischer Politiker noch die Publizistik der Alternativmedien zeichnen sich durch eine starke Orientierung an empirisch gesicherten Fakten aus. Mit Blick auf diese Kritiker sollte man jedoch auch die zentrale Einsicht der Verdachtshermeneutik der Neuen Frankfurt Schule bedenken: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ (F. W. Bernstein). Schließlich ist fraglich, ob diese lautstarken Kritiker die von ihnen in der Vergangenheit unterstützten politischen Entscheidungen, sei es auf dem Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik, der Wirtschafts-, Umwelt- und Europapolitik, aber auch mit Blick auf Krieg und Frieden, durch eine nüchterne Darstellung der Fakten vorangetrieben haben. Das grassierende Institutionen- und Elitenmisstrauen, das Populisten und Alternativmedien ausnutzen, ist jedenfalls nicht nur ein Ergebnis der erfolgreichen PR-Strategien gerissener Propagandisten vom Schlage Steve Bannons. Zu einem nicht geringen Teil haben es sich die Mächtigen selbst zuzuschreiben.


Veith Selk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte des Instituts für Politikwissenschaft der TU Darmstadt


[1] Etwas Bestimmtes mitteilen, das heißt: anderes nicht mitteilen; im Prinzip lässt sich deshalb im politischen Meinungskampf jede Stellungnahme als white lie darstellen. Vgl. Mark Haddon: The Curious Incident of the Dog in the Night-Time, London, 2004, S. 62: „A white lie is not a lie at all. It is where you tell the truth but you do not tell all of the truth. This means that everything you say is a white lie because when someone says, for example, ,What do you want to do today’ you say ,I want to do painting with Mrs Peters,’ but you don’t say ,I want to have my lunch and I want to go to the toilet and I want to go home after school and I want to play with Toby and I want to have my supper and I want to play on my computer and I want to go to bed.’”