10 Gründe, besser heute als morgen Atheist zu werden
von Lisz Hirn (Wien)
1. Atheisten glauben auch. Nur eben daran, dass es Gott nicht gibt.
Der Atheismus ist nicht der Gegenspieler der Religionen, für den er gehalten wird. Der schlaue Hinweis kam bereits von Arthur Schopenhauer: „Was für eine schlaue Erschleichung und hinterlistige Insinuation in dem Wort Atheismus liegt! – als verstände der Theismus sich von selbst.“ Ein Atheist glaubt nämlich, dass es Gott nicht gibt. Denn auch das nicht-an-einen Gott-zu-glauben ist noch immer ein Glaube, der sich unter Kategorien wie wahr oder falsch stellen lässt. Friedrich Nietzsche, einer der bekanntesten Gottlosen in der Philosophiegeschichte, schreibt in seinem Buch „Ecce Homo“: “Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig, zu fragwürdig, zu übermütig, um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen.“
2. Atheisten sind unabhängiger.
Die vielen sozialen Probleme, die aufgrund religiöser Differenzen entzündet werden, legen den Schluss nahe, dass wir nicht mehr religiöse, sondern mehr atheistische Inputs in der Gesellschaft brauchen, um die Konflikte abzufedern. Atheistische und agnostische Inputs sind in der Lage, interreligiöse und moralische Konflikte auf einer nicht-religiösen Basis zu behandeln, jenseits des Absolutheitsanspruchs, während Religion und religiöse Perspektiven dazu tendieren, Abhängigkeiten zu fördern (zwischen Frau und Mann) oder Differenzen zu betonen (wir Muslime sind „moralisch besser“ als die Christen).
3. Atheisten haben „es“ geschafft.
Religiöser Glaube ist schließlich nicht nur eine Frage des Charakters. Auch soziale Umstände haben Einfluss auf die Ausbreitung des Atheismus. Sobald Menschen dem Prekariat entkommen, also eine einigermaßen gesicherte Existenz haben und ihre primären und sekundären Bedürfnisse befriedigt sind, verliert Religion nachweislich an Bedeutung. Haben die Menschen ihr tägliches Brot, müssen sie nicht darum beten. Darauf weist unter anderem der Soziologe Prof. Phil Zuckermann in seinem Aufsatz „The rise of the nones in the US“ hin.
4. Atheisten sind moralischer.
Weiter belegen Studien, dass Atheisten wesentlicher moralischer handeln als Religiöse. Je mehr Einfluss die Religion auf das Leben eines Kindes ausübte, umso weniger freigiebig zeigte es sich. Die großzügigsten Kinder kamen wie auch die, die moralische Verfehlungen weniger hart bestraften, aus atheistischen Familien[1]. Auch Philosoph Charles Taylor wies bereits darauf hin, dass einige der christlichen Werte sich durch Säkularisierung und Relativierung zu kulturchristlichen Werten weiterentwickelt hätten. Religiöse Werte gehen also nicht einfach durch Säkularismus verloren, sondern können – sofern sie soziale Relevanz besitzen – weiterbestehen. So hätte sich die christliche Nächstenliebe in den sozialistischen Begriff der Solidarität transformiert. Davon, dass Atheismus und Nihilismus Hand in Hand gehen, kann also keine Rede sein!
5. Atheisten wirken positiv auf die Gesellschaft ein.
Atheisten haben meist ein ausgeprägtes Faible für Säkularismus. Von dem behauptet Maryam Namazie, eine führende Humanistin und Aktivistin, dass „Säkularismus ein wichtiges Vehikel ist, um die Gesellschaft vor der Intervention der Religion in das Privatleben der Menschen“ zu schützen. Er bezeichnet nichts anderes als eine Weltanschauung, die sich auf die Immanenz und Verweltlichung der Gesellschaft beschränkt und auf darüber hinausgehende, religiöse Fragen verzichtet. Er vertritt aus diesem Grund die strikte Trennung von Staat und Religion. Seit der Aufklärung, die bekanntlich einige Atheisten hervorgebracht hat, war man überzeugt, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen der Herrschaft, die von einer Religion oder einer Herrschaft, die von den Menschen selbst legitimiert ist, besteht. „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ Atheisten nehmen diesen Bibelvers besonders ernst.
6. Atheisten wissen: Glauben heißt nicht wissen.
Genauso ernst nehmen Atheisten auch den Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft. In beiden glaubt man zwar an etwas, allerdings auf andere Weise. Religiöser Glaube kann nicht den Anspruch erheben, gerechtfertigt wahrer Glaube im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sein. Religiöser Glauben beruht stets und vor allem auf dem Willen zum Glauben. Folgende Fragen können den Unterschied zwischen Glauben und gerechtfertigten, wahren Glauben aufgrund methodischer Prüfungen deutlich machen: Sind alternative Heilmethoden genauso belegbar wie schulmedizinischen Therapien? Ist der Glaube an den allgütigen, christlichen Gott genauso legitim wie der an das fliegende Spaghettimonster?
7. Atheisten sind wissenschaftsgläubiger.
Die Grenzen zwischen Glauben und Wissen scheinen zusehends mehr zu verschwimmen, und zwar nicht nur in den USA oder der Türkei, sondern auch in Österreich und Deutschland. Zwar glauben viele Menschen an Wissenschaftler, z.B. an Ärzte, aber nur wenn diese Dinge sagen, an die die Menschen glauben wollen. Zum Beispiel, dass es dank Genetik und Mikrobiologie bald mehr Behandlungsmöglichkeiten für schwere Krankheiten geben wird. Wissenschaftliche Fakten negieren sie dann, wenn diese ihren Wünschen und lieb gewonnenen Überzeugungen nicht entsprechen. Ein Beispiel gefällig? In Österreich gab es 2017 eine Umfrage unter Religiösen mit türkischem Migrationshintergrund, ob sie denn an Darwins Evolutionstheorie glaubten. Ein oft wiederholtes Statement lautet wie folgt: „Ich glaube nicht an die Evolution. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mensch und Affe einen gemeinsamen Ursprung haben. (…) Darwin ist Bullshit – weil für Muslime klar ist, dass Allah die Welt erschaffen hat. Das hören wir von den Eltern, das hören wir in der Moschee. Die Evolutionstheorie lernt man zwar in der Schule, aber man glaubt sie nicht.“[2] Letzteres führt direkt zu:
8. Atheisten werden eher schlau.
Auch unser Gefühl, dass in manchen Gesellschaften in letzter Zeit die Religiosität zugenommen hat (z.B. in Polen, Indien, Türkei oder Indonesien), täuscht uns. Viel eher scheint es zu einer starken Politisierung der Religion gekommen zu sein – mit schwerwiegenden Folgen für die Jugend. Als Beispiel kann die Bildungspolitik der AKP dienen. Zu Beginn konnte sie noch Erfolge verbuchen, doch längerfristig sank das Niveau rapide ab, wie die Pisa-Erhebungen belegen. Wie sehr die religiöse vor der wissenschaftlichen Erziehung in den Vordergrund getreten ist, zeigt sich also nicht nur an dem rapiden Anstieg von Korankursen, sondern auch in der Statistik.
9. Atheisten wissen, was es heißt, diskriminiert zu werden.
Opferrolle hin oder her: Wir hören zwar ständig von der Diskriminierung religiöser Minderheiten, doch diese wird bei Weitem durch die Diskriminierung von Atheisten, Humanisten, Agnostikern und Nicht-Religiöse übertroffen. Atheisten werden als moralisch suspekt bis sozial inkompetent diffamiert. Die Weltkarte der Internationale Humanistische und Ethische Union (IHEU) zeigt die Problematik eindringlich auf: Es gibt kaum ein Land, in dem Atheisten nicht diskriminiert werden. Auch Deutschland und Österreich bilden hier keine lobenswerte Ausnahme. Erschwerend kommt hinzu, dass Atheisten schlecht oder gar nicht organisiert sind, sie also keine umfassende, legitimierte, offizielle Interessenvertretung haben. Während also Religionen und Konfessionen in vielen Ländern Toleranz und Sonderrechte genießen (oder zumindest einfordern können), kann das die steigende Anzahl der Atheisten nicht.
10. Atheisten benötigen keine Theodizee.
Warum lässt Gott das Leiden zu, wenn er doch die Allmacht, die Allwissenheit und den Willen besitzen müsste, alles Leiden zu verhindern? Theodizees versuchen diese Frage verschieden zu beantworten. Wie ist das subjektive Leiden in der Welt zu erklären, wenn Gott doch allmächtig, allgütig und allwissend sei? Wann immer Atheisten diesen Vorwurf einbringen, versuchen Gläubige diesen dadurch abzuschmettern, indem sie auf die fehlende Glaubenskompetenz, Spiritualität oder Ignoranz der Atheisten verweisen. Statt durchaus konstruktive Kritik zu hören, gehen die wertvollen atheistischen Inputs stattdessen verloren. So zum Beispiel ist ein blinder Fleck der Theodizee, dass sie nie die Frage gestellt hat, ob Gott auch das allerglücklichste Wesen sei.
Lisz Hirn ist als Philosophin, als Publizistin & als Dozentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig sowie als freiberufliche Künstlerin an internationalen Kunstprojekten und Ausstellungen beteiligt. Zusätzlich hat sie 2017 den Diplomlehrgang für „praxisorientiertes Projektmanagement“ abgeschlossen. Die Schwerpunkte ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Arbeit liegen in der philosophischen Anthropologie, politischen Philosophie, interkulturellen Ethik und der kognitiven Beratung. Die im interkulturellen Dialog engagierte Philosophin, Obfrau des Vereins für praxisnahe Philosophie und im Vorstand der Gesellschaft für angewandte Philosophie (gap) war u.a. als Gastlektorin an der Kathmandu University in Nepal tätig und hat an der Sophia University und an der Nihon University in Tokio sowie an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima referiert. Außerdem unterrichtete sie auch an der École Supérieure Roi Fahd de Traduction in Tanger, Marokko, sowie am ULG Philosophische Praxis der Universität Wien. Von Oktober 2015 bis Januar 2017 war sie Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover. Lisz Hirn lebt und arbeitet derzeit in Wien.
[1] derstandard.at/2000025163557/Religion-macht-uns-nicht-moralischer
[2] https://kurier.at/chronik/wien/die-evolution-war-gottes-wille/243.544.826