08 Sep

Pfingsten – oder wie das Christentum seinen religiösen Wahrheitsanspruch und die Toleranz Anderen gegenüber miteinander verbindet.

Von Martin Wendte (Pfarrer der Friedenskirche und Citykirchenpfarrer, Ludwigsburg)


Einstieg: Buddhistische Bäuche und saudi-arabische Gefängnisse – wie erleben wir die Zuordnung von Toleranz und Wahrheit im Bereich der Religion?

Zwei Szenen zum Einstieg: Von den Bücherregalen vieler Menschenfreunde aus dem sozialökologischen Milieu grüßt eine Buddhafigur. Da sitzt er, der Erleuchtete, mit gütigem Lächeln, meist mit sympathischem Bauchansatz, oft in Bronze oder Plastik gegossen. Er strahlt auch mit seinen nur 30 Zentimetern Größe in den ganzen Raum hinaus aus, dass Du schon Deinen eigenen Weg finden wirst, und dass es gut ist, solange das im Bereich positiver Vibrations liegt. Da macht es dann keinen Unterschied, ob Du die Kraft von diesem wahren Selbst in Dir dann Gott oder Allah nennst, Buddha oder Shiwa.  – Doch vielleicht flackert in demselben Zimmer auch das Hellblau eines Laptops, auf dem neueste Nachrichten aus Saudi-Arabien vermeldet werden: Dort wurde ein Mann am Flughafen gefasst und ins Gefängnis geworfen, weil er Saudi-Arabien illegal verlassen wollte – er konvertierte zum Christentum und ist daher in Saudi-Arabien vom Tode bedroht, weil das Christentum eine unwahre Religion ist, und ihr zu folgen ist nicht tolerabel.

Ist das die Wahl, vor der wir im Raum der Religionen stehen – dass man entweder wie im Buddhismus einer Form von Toleranz begegnet, die deshalb funktioniert, weil sie alle Wahrheiten aller Weltreligionen in sich integriert, solange das jeweilige Individuum seinen Weg eigenen findet? Oder dass man wie im saudi-arabischen Islam einer Form von religiösem Wahrheitsanspruch begegnet, die es dem jeweiligen Individuum gerade nicht erlaubt, seinen eigenen Weg zu finden auch in andere Religionen hinein? Begrifflich zugespitzt: Ist im Bereich der Religion Toleranz nur zu haben um den Preis, dass ich meinen Wahrheitsanspruches aufgebe bzw. reduziere auf ein rein subjektives Element?

Ehe ich mir einige philosophische Bemerkungen zum Begriff der Wahrheit erlaube und dann auf das  Christentum zu sprechen komme, sind noch einige Anmerkungen zu den einleitenden beiden Absätzen vonnöten. Der Buddhismus ist ebenso wie der Islam ein intern äußert plurales Phänomen. In einigen Strömungen ist der Buddhismus deutlich weniger tolerant als hier skizziert, und sicherlich ist der in Saudi-Arabien vorherrschende Wahabismus keineswegs mit dem Islam als Ganzen gleichzusetzen. Viele Strömungen aus der Geschichte und in der Gegenwart des Islams haben verschiedene Konzepte religiöser Toleranz entwickelt. Sehr viel weniger tolerant aber ist der sich gegenwärtig weltweit ausbreitende Wahabismus, der gesponsort und gestützt wird von Saudi-Arabien mit seinen fröhlich sprudelnden Ölquellen, welche die Wieltwirtschaft und damit auch die Wirtschaft des Westens mit am Laufen halten. (siehe dazu auch Ruud Koopman, Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020).  –

Die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit

Was aber ist unter Wahrheit zu verstehen? Der große Philosoph Anton Friedrich Koch hat in seinem Hauptwerk „Versuch über Wahrheit und Zeit“ eine Wahrheitstheorie entwickelt, die hier nur in ihren allergröbsten Zügen skizziert werden kann; zu hoffen ist, dass auch so schon deutlich wird, dass sie selbst wahr ist (Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006). Koch entwickelt die „Drei-Aspekten-Theorie“ der Wahrheit, indem er die drei wesentlichen Ansätze des Verständnisses von Wahrheit aus der Tradition miteinander verbindet. Der erste Aspekt der Wahrheit mag der phänomenologische genannt werden; er wurde im 20. Jahrhundert vor allem von Heidegger stark gemacht. Wahrheit ereignet sich damit dann, wenn sich von sich aus etwas zeigt, wenn sich etwas aus seiner Verborgenheit ent-birgt und offenbart (a-letheia). Mit diesem Aspekt beginnt unser Weltzugang insgesamt und auch unser Eintritt in Sprache: Wir hören etwas, das Kind sagt „ta-ta“, und der Vater: „Ja, richtig, tatü-tata, das ist die Feuerwehr.“- Durch den ersten Aspekt der Wahrheit sind wir am Ereignis dessen, was sich zeigt, wesentlich mit beteiligt: Es zeigt sich doch MIR etwas. ICH bin mir gewiss, dass ich dieses Tatü-Tata gehört habe – Wenn der erste Aspekt der Wahrheit jedoch verabsolutiert wird, wird jede Form kritischer Auseinandersetzung mit dem, was sich zeigt, verunmöglicht: WEIL ICH dies oder das hörte, stimmt es. Wir landen in demjenigen Ursprungs-Totalitarismus, den Habermas Heidegger vorwirft, oder in leicht sumpfigem Relativismus, der jeweils in der Gefahr steht, sich selbst zu widersprechen (ist die Aussage, dass alles relativ ist, selbst relativ?). –

Daher ist es wichtig, den zweiten Aspekt der Wahrheit mit an Bord zu nehmen, welcher der gleichsam „klassische“ ist und mindestens seit dem Mittelalter durch Thomas von Aquin so formuliert wurde, dass Wahrheit die Übereinstimmung des Wortes mit der Sache ist: Die Aussage „Der Schnee ist weiß“ ist dann und nur dann wahr, wenn der Schnee weiß ist. Dadurch wird am Sach- oder Weltbezug unserer Aussagen festgehalten. Wird der zweite Aspekt jedoch selbst absolut gesetzt, dann ist erstens unklar, wie denn die Sache zur Sprache kommt (das beantwortet der erste Aspekt der Wahrheit), und zweitens, wie wir uns denn darüber verständigen, ob der Schnee nun weiß ist oder nicht (ob das also nur eine Luftspiegelung ist). – Deshalb haben Habermas und Andere den dritten Aspekt der Wahrheit eingeführt, die Konsenstheorie der Wahrheit. Wahr ist etwas dann, wenn sich die Menschen im herrschaftsfreien Dialog darauf einigen können. Um wiederum den drohenden Relativismen zu entkommen, hat bekanntlich Habermas selbst später den Alleinvertretungsanspruch dieses Wahrheitsanspruches wiederrufen.

Drei Aspekte von Wahrheit gibt es, so Anton Friedrich Koch zu Recht, und das verbinden wir nun mit den Wahrheitsansprüchen, die Religionen erheben. Religionen erheben auch Wahrheitsansprüche, sie sagen: Ja, es ist wahr, dass Allah die Welt erschaffen hat oder dass neues Leben durch Jesus Christus ins Leben kam etc. Ihre Wahrheitsansprüche erheben sie auf Weisen, die sich gerade mit der angedeuteten 3-Aspekten-Theorie von Wahrheit in den Blick nehmen lässt. Denn die Religionen haben nun verschiedene, ausgeklügelte Praktiken entwickelt, wie sie im Gespräch der Gläubigen miteinander und mit ihrer Tradition (dritter Aspekt der Wahrheit) bestimmen und immer wieder neu bestimmen, wie denn von Gott und den Menschen zu denken ist, wie also Grund, Verfasstheit und Ziel der Wirklichkeit ist (zweiter Aspekt der Wahrheit) – und zwar aufgrund dessen, was ein Gott oder eine göttliche Macht ihnen offenbarte, und auch heute wieder so offenbart, dass die Gläubigen sich selbst angesprochen fühlen und ihrer Sache gewiss sind (erster Aspekt der Wahrheit).

Schauen wir nun in einem letzten Schritt, wie uns die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit dabei hilft zu verstehen, dass im Christentum Wahrheit und Toleranz Hand in Hand gehen.

Pfingsten – oder warum das Christentum tolerant ist, ohne seinen Wahrheitsanspruch aufzugeben

In Bezug auf den ersten Aspekt der Wahrheit (Gott zeigt sich und mir wird das gewiss) vertritt das Christentum eine Position, die es tolerant werden lässt und die mit Pfingsten symbolisiert wird. An Pfingsten, so lesen wir im Neuen Testament, gab es ein großes Brausen, welches die Jüngerinnen und Jünger hörten, die nach dem Tod und der Himmelfahrt von Jesus etwas verloren in Jerusalem herumsaßen. Es stellte sich heraus, dass das Brausen das Sauen des Heiligen Geistes ist, welcher zu ihnen kam und ihnen neue Gewissheit ins Herz goss: Ja, so war ihnen klar, es gibt neues Leben im Leben, und das Leben ist stärker als der Tod. Es zeigt oder offenbart sich also Gott mithilfe des Heiligen Geistes erneut, und die Jünger erhalten neue Gewissheit über die Wahrheit der Wirklichkeit. Entscheidend für unsere Fragestellung ist, dass diese Gewissheit nicht vom Menschen gemacht ist, sondern von Gott selbst kommt. In theologischer Binnensprache sagen wir dazu: Diese Gewissheit (oder: der Glaube) ist ein Geschenk Gottes. Menschen können sich somit nicht dazu zwingen zu glauben, sie können ihr Herz nicht selbst öffnen auf Gott hin. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe Gottes, den Menschen Glauben zu schenken oder sie in die Gewissheit als den ersten Wahrheitsaspekt hineinzuführen. Selbstredend können und sollen Christ*innen anderen Menschen von ihrer Sicht der Wahrheit de Wirklichkeit erzählen. Aber dass den Zuhörern das zur eigenen Überzeugung und Gewissheit wird und sie es im Herzen annehmen, das ist nicht mehr Aufgabe von Menschen, sondern kommt von Gott.

Das also ist der Grund, warum das Christentum tolerant ist: Es weiß, dass es andere Religionen und Glaubensüberzeugungen ertragen – tolerieren – muss. Die Menschen anderer Religionen wurden von Gott selbst noch nicht in ihrem Herz zu der Gewissheit hin bewegt, dass doch in Wahrheit das Christentum die richtige Sicht auf die Wirklichkeit vertritt. Somit ist es gerade ein Inhalt von all dem, was das Christentum für wahr hält, der dazu führt, dass es tolerant ist: derjenige Inhalt, der besagt, dass die Gewissheit über die Wahrheit von Gott selbst kommt, im Brausen des Geistes, zu Pfingsten oder zu allen anderen Tagen. – In seiner eigenen Geschichte hat das Christentum viel zu oft auf höchst intolerante Weisen gehandelt. Aber von seinem Menschen- und Gottesbild her ist es ihm gerade möglich, für das eigene Verständnis der Wirklichkeit und ihrer Wahrheit zu werben, ohne intolerant zu werden. 

Der Islam vertritt hier übrigens eine andere Position: Laut dem Islam kann jeder Mensch durch den Gebrauch seiner Vernunft zu der Einsicht kommen, dass der Islam die Wahrheit vertritt – und der Mensch kann seinen eigenen Willen und sein Herz selbst dazu bewegen, dass er aus sich heraus dessen gewiss wird. Dazu braucht es keinen göttlichen Geist. Es wäre eine interessante Aufgabe für Gespräche mit dem muslimischen Theologen und Philosophinnen, sich darüber auszutauschen, wie unter diesen anderen anthropologischen Voraussetzungen in den reichen Traditionen des Islam ein Verständnis von Toleranz entwickelt wurde und für die Gegenwart weiter entwickelt werden kann, das den eigenen Wahrheitsanspruch nicht aufgibt oder ihn nicht auf seine rein subjektive Seite reduziert. Insofern ist es gut, wenn zwischen dem lächelndem Buddha im Regal und dem Laptop mit den neuesten Nachrichten mehrere Stühle stehen, auf den sich Vertreterinnen des Christentums, des Islam und verschiedener philosophischer Positionen setzen können, um gemeinsam über das Verhältnis von Toleranz und Wahrheitsanspruch zu reden.


Dr. Martin Wendte, Pfarrer und Privatdozent für Systematische Theologie, Ludwigsburg.        

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