07 Mrz

Religion, Philosophie und Religionsphilosophie

von Benedikt Paul Göcke (Bochum)


Um das Verhältnis von Religion und Philosophie zu erläutern, wird in einem ersten Schritt dafür argumentiert, dass der Religionsbegriff nicht präzise genug ist, um religiöse von areligiösen Weltanschauungen zu unterscheiden und daher aus wissenschaftlicher Perspektive nicht von Religionen an sich, sondern von konkreten Weltanschauungen wie beispielsweise der christlichen, der buddhistischen oder der schintoistischen Weltanschauung gesprochen werden sollte. Im Anschluss daran wird nach einer rudimentären Klärung der Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen der Begriff der Religionsphilosophie im Speziellen skizziert, bevor abschließend einige zentrale Fragestellungen christlicher Religionsphilosophie erläutert werden.

  1. Was ist Religion?

Obwohl sich die im vergangenen Jahrhundert formulierte These der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit der Religionen als nicht haltbar herausgestellt hat und die gesellschaftliche Stellung der Religionen heute wieder virulent diskutiert wird, findet sich in der wissenschaftlichen Debatte kein Konsens darüber, wie der Religionsbegriff dem Phänomenbereich der Religionen gegenüber adäquat zu spezifizieren ist. Der Grund ist, dass die im vorwissenschaftlichen Bewusstsein als religiös bezeichneten Weltanschauungen in Bezug auf ihre Werte, Normen, Überzeugungen und Praktiken teilweise derart stark voneinander divergieren, dass nicht klar ist, welche allgemeinverbindlichen notwendigen und hinreichenden Bedingungen formuliert werden könnten, um eine Weltanschauung als religiös oder als areligiös zu klassifizieren.[1] Selbst in explizit areligiösen Weltanschauungen finden sich beispielsweise Glaubenssätze über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, die nicht aufgrund ihrer wissenschaftlichen Plausibilität, sondern aufgrund eines subjektiven Fürwahrhaltens angenommen werden. Aufgrund der begrifflichen Schwierigkeiten, religiöse von areligiösen Weltanschauungen eindeutig zu unterscheiden, ist es daher wenig sinnvoll, pauschal von religiösen und areligiösen Weltanschauungen zu sprechen. So etwas, wie ‚die‘ Religion oder ‚die‘ Merkmale einer Religion gibt es nicht.

Da eine Weltanschauung eine umfassende Interpretation der Wirklichkeit und ihres letzten Grundes ist – wie auch immer diese und dieser in der jeweiligen Weltanschauung spezifiziert wird – und da die generelle Funktion einer Weltanschauung darin besteht, dass sie ihren Anhängern allumfassende praktische und theoretische Orientierung in ihrer Lebenswelt ermöglicht, die alle Bereiche individuellen und gesellschaftlichen Lebens tangiert, ist es wissenschaftstheoretisch sinnvoller, konkrete Weltanschauungen, wie beispielsweise die christliche, die buddhistische oder die atheistische Weltanschauung zu analysieren und anhand spezifizierter Kriterien zu untersuchen, anstatt religiöse mit areligiösen Weltanschauungen an sich zu kontrastieren.[2]

  • Was ist Philosophie?

Als grundlegende Wissenschaft der Stellung des Menschen im Ganzen des Seins ist die Philosophie Wissenschaft nicht nur der fundamentalen Strukturen und Kategorien der Wirklichkeit und unserer Erkenntnis dieser Strukturen und Kategorien, sondern auch des ersten Grundes des Seins der Wirklichkeit und ihres letzten Zieles. Die Philosophie orientiert sich dabei sowohl an der kritisch reflektierten Erfahrung des Menschen mit der Wirklichkeit als auch an der Vernunft. Das Ziel philosophischer Reflektion besteht im Verbund mit den Natur- und Geisteswissenschaften also darin, zu erkennen, wie die Wirklichkeit und ihr Grund beschaffen ist, um so zu einer Weltanschauung beizutragen, die dem Menschen auf Erfahrung und Vernunft gestützte und in ihrer Genese nachvollziehbare Antworten auf die fundamentalen philosophischen Fragen des Lebens bietet, damit ihm dadurch eine möglichst verlässliche praktische und theoretische Orientierung im Sein ermöglicht wird. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, in anderen Worten, darin, durch die theoretische Erkenntnis der Wirklichkeit dem Menschen ein gutes und gelingendes Leben zu ermöglichen.

  • Was ist Religionsphilosophie?

Basierend auf der skizzierten Aufgabe philosophischer Reflektion und angesichts der Schwierigkeit, den Religionsbegriff hinreichend klar definieren zu können, um religiöse von areligiösen Weltanschauungen zu unterscheiden, stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Wesen der Religionsphilosophie: Ohne einen wohl-definierten Religionsbegriff scheint es keinen wohl-definierten Gegenstandsbereich der Religionsphilosophie an sich geben zu können.

In der Tat: In Anbetracht dessen, dass aus wissenschaftstheoretischer Perspektive beispielsweise eher von der christlichen, der buddhistischen oder der schintoistischen Weltanschauung gesprochen werden sollte als von religiösen Weltanschauungen im Allgemeinen, ist es der Sache nach angemessener, anstelle von religionsphilosophischen Fragen an sich auch explizit von der philosophischen Reflektion beispielsweise der christlichen, der buddhistischen oder der schintoistischen Weltanschauung zu sprechen.

Die philosophische Reflektion der christlichen, der buddhistischen oder der schintoistischen Weltanschauung wiederum ist die Analyse und kritische Überprüfung des jeweiligen Anspruchs dieser Weltanschauungen, eine möglichst wahre Beschreibung der Wirklichkeit, ihres ersten Grundes und ihres letzten Zieles zu sein. Sie fragt danach, ob es basierend auf der reflektierten Erfahrung des Menschen mit der Wirklichkeit und basierend auf der Vernunft gute Gründe für oder gegen die jeweiligen Annahmen einer Weltanschauung gibt. Religionsphilosophische Fragen tangieren daher zum einen Bereiche, die sich ohne Weiteres der Metaphysik, der Epistemologie, der Ethik oder der Logik zuordnen ließen.[3] Zum anderen variieren die relevanten religionsphilosophischen Fragen daher mit den weltanschauungsspezifischen Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, ihres ersten Grundes und ihres letzten Zieles.

  • Was sind Themen der christlichen Religionsphilosophie?

Religionsphilosophische Fragen sind Fragen der philosophischen Plausibilität und des Wahrheitsanspruches einzelner Weltanschauungen. Aus Sicht der christlichen Religionsphilosophie, die innerhalb der Theologie auch in den Traktaten der Fundamentaltheologie und Dogmatik bearbeitet wird, sind die entscheidenden philosophischen Fragen, deren Antworten über die Plausibilität des Wahrheitsanspruchs christlichen Glaubens entscheiden, die metaphysische Frage nach der Existenz Gottes und die epistemologische Frage nach der Möglichkeit göttlicher Offenbarung. Während die Analyse der Existenz Gottes sich damit beschäftigt, wie ein adäquater Gottesbegriff auszuformulieren ist, und ob und mit welchen philosophischen Argumenten die Existenz Gottes bewiesen oder widerlegt werden kann, untersucht die epistemologische Debatte der Möglichkeit göttlicher Offenbarung, ob und inwiefern es überhaupt philosophisch legitim ist, eine Weltanschauung auf göttlicher Offenbarung zu basieren, und woran authentische göttliche Offenbarung erkannt werden kann. Nur wenn aus philosophischer Sicht gezeigt werden kann, dass die Annahme der Existenz Gottes wie die Annahme göttlicher Offenbarung philosophisch gut begründete oder zumindest legitime Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit sind, kann die christliche Weltanschauung einen Anspruch auf ihre Wahrheit erheben.

  • Religion, Philosophie und Religionsphilosophie

In der Geschichte der Menschheit haben sich verschiedene Weltanschauungen entwickelt. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, basierend auf reflektierter Erfahrung und Vernunft zu einer argumentativ begründeten Weltanschauung beizutragen und den Wahrheitsanspruch verschiedener Weltanschauungen vor dem Forum der Vernunft auf seine philosophische Überzeugungskraft hin zu untersuchen. Durch die Analyse der Plausibilität historisch gewachsener Weltanschauungen sowie ihrer konstitutiven Annahmen, Werte und Normen ist die Philosophie somit ein notwendiger Bestandteil jeder Weltanschauung, die einen Anspruch darauf erhebt, die Wirklichkeit im Einklang mit Erfahrung und Vernunft zu erfassen, wie sie ist.


Benedikt Paul Göcke, Dr.phil, Dr. theol., ist Professor für Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und assoziiertes Mitglied der Faculty for Theology and Religion an der Universität Oxford. Göcke publiziert unter anderem zu Fragen der Ethik, der Metaphysik, der Wissenschaftstheorie und zum Deutschen Idealismus. Sein neuestes Buch „The Panentheism of Karl Christian Friedrich Krause. From Transcendental Philosophy to Metaphysics“ ist frei im Internet verfügbar.


[1] Für eine ausführliche Analyse des Begriffs der Weltanschauung siehe meinen Webartikel „Worldviews“ unter https://sda.bodleian.ox.ac.uk/sda/#!/themes/article/86

[2] Obwohl es zahlreiche christliche Denominationen und unterschiedliche buddhistische oder atheistische Weltanschauungen gibt, wird im Folgenden der Einfachheit halber nur von ‚der‘ christlichen, buddhistischen oder atheistischen Weltanschauung gesprochen.

[3] Für eine ausführliche Analyse vgl. Göcke, Benedikt. 2018. „Theologie als Wissenschaft: Allgemeine wissenschaftstheoretische Grundlagen der Diskussion der Wissenschaftlichkeit christlicher Theologie.“ In: B. Göcke (Hg.): Die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Band 1: Historische und systematische Perspektiven.Münster: Aschendorff. Vii-xliv.