23 Apr

Vom philosophischen Glauben zum Wissen von Religion. Der Beitrag der klassischen deutschen Philosophie

von Georg Sans SJ (München)

„Glauben könnt ihr in der Religion“, pflegte unser alter Mathematiklehrer zu sagen, wenn ein Schüler das Ergebnis einer schwierigen Aufgabe mehr erriet als errechnete und ihn unsicher fragend ansah. Damit verlieh der Lehrer einer weit verbreiteten Überzeugung Ausdruck. Der religiöse Glaube hat mit der Art von Gewissheit, wie sie die Mathematik oder die Naturwissenschaften suchen, nichts zu tun. Nicht wenige Philosophinnen und Philosophen schließen sich dieser Auffassung an. Insofern die Philosophie beansprucht, Wissenschaft zu sein, muss sie die Religion aus ihrem Bereich verbannen.

Zu den Gewährsleuten für die Forderung nach einer Trennung von Philosophie und Religion wird meistens Immanuel Kant gerechnet. Sein berühmtes Diktum in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, er habe das Wissen aufheben müssen, um „zum Glauben Platz zu bekommen“ (B XXX), wird häufig so verstanden, als interessiere sich die Philosophie vor allem für die Grenzen des Wissens und nur beiläufig für das jenseits der Grenzen gelegene Feld des religiösen Glaubens.

Vielen Gläubigen und Theologen kommt eine solche Aufteilung der Zuständigkeiten durchaus entgegen. Aus Sorge, die menschliche Vernunft könne sich Gottes bemächtigen und seiner Souveränität Abbruch tun, betonen sie die Unerkennbarkeit und die Verborgenheit des Absoluten. Indem sie Gott für ganz anders erklären, als wir ihn uns denken oder vorstellen könnten, setzen sie sich freilich dem Einwand aus, etwas oder jemand, von dem nichts als seine Andersheit feststehe, könne auch alles mögliche andere sein als Gott. Wie soll ein Mensch, der lediglich mit dem Verborgenen zu tun hat, überhaupt sicher sein, dass es sich um Gott handelt?

[Ein weiterer Grund für die Entgegensetzung von Philosophie und Religion liegt in der Ansicht vieler Gläubiger, die religiöse Gewissheit sei eine Sache des Gefühls. Nicht das vernünftige Nachdenken, sondern das intensive Erleben und die lebendige Erfahrung führten zu Gott. Daran ist zweifellos richtig, dass die Religion eine Angelegenheit des ganzen Menschen darstellt. Doch gerade deshalb dürfen Glauben und Denken nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wer die Religion aus dem Gebiet der Vernunft verbannt, dem werden irgendwann die verbindlichen Maßstäbe fehlen, um wahrhaftige Gefühle von niederen Instinkten, heilsame Vorstellungen von irrigen Meinungen zu unterscheiden.]

Kant selbst war übrigens keineswegs ein Verfechter des Gegensatzes von Glaube und Vernunft. Den durch die Kritik überzogener Wissensansprüche frei gewordenen Platz hatte er für einen philosophischen Glauben der praktischen Vernunft vorgesehen. Kants Nachfolger rangen deshalb mit der Frage, ob letzte philosophische Einsichten den Status des Wissens beanspruchen können, oder ob es sich um Gegenstände des Glaubens handelt.

So vertrat Johann Gottlieb Fichte in einer kleinen Schrift unter dem Titel Die Bestimmung des Menschen (Berlin 1800) die Auffassung, dass die für unser Welt- und Selbstverständnis grundlegenden Überzeugungen nicht gewusst werden können, sondern geglaubt werden müssen. Dagegen wandte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in einem Aufsatz über „Glauben und Wissen“ (Tübingen 1802) ein, eine Philosophie, die den Anspruch auf vernünftige Erkenntnis des Absoluten aufgebe, verdiene ihren Namen nicht.

In einer Abhandlung über Philosophie und Religion (Würzburg 1804) schloss Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sich Hegel an. Unmittelbarer Anlass war eine Schrift des Arztes und Naturphilosophen Carl August Eschenmayer mit dem programmatischen Titel Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie (Erlangen 1803). Als „Nichtphilosophie“ hatte Eschenmayer den religiösen Glauben bezeichnet, der für ihn höher stand als alles philosophische Wissen. Schelling reagierte mit dem Einwand, etwas Höheres als das Absolute könne es unmöglich geben. Wenn die Philosophie das Absolute erkennt, kann sich die Religion nicht auf etwas beziehen, das höher steht.

Wie also verhalten sich Philosophie und Religion? Schelling richtete eine Erwartung an die Philosophie. Sie muss dem Umstand Rechnung tragen, dass sich der Gegenstand der Religion – das Absolute oder Gott – von sämtlichen Dingen unterscheidet, die uns in der alltäglichen Erfahrung begegnen. Während alles Endliche durch irgendwelche Merkmale gekennzeichnet ist, die das eine vom anderen unterscheiden, kann das Unendliche streng genommen keine Grenze besitzen.

Dieser Umstand führt in Verlegenheit. Wie soll ich mir beispielsweise Gott als gut vorstellen, ohne dass ich zugleich etwas hinzudenke, das nicht gut ist? Dabei muss es sich noch nicht einmal um das der Güte entgegengesetzte Merkmal der Bosheit handeln. Das Prädikat der Güte verliert schon dann seinen Sinn, wenn ich es nicht wenigstens von Eigenschaften wie Wahrheit oder Schönheit unterscheide. Trotzdem stand für Schelling und mit ihm für die ganze von Platon geprägte Tradition der Philosophie und Theologie fest, dass Gott nicht mehreres zugleich sein kann. Was auch immer wir von Gott aussagen, das Absolute darf nicht als etwas Teilbares oder Zusammengesetztes erscheinen, sondern muss das, was es ist, ganz sein.

Für Schelling folgte daraus, dass unser begriffliches Denken prinzipiell ungeeignet ist, Gott in seiner Vollkommenheit und Einfachheit zu erkennen. Wir benötigen eine Art geistiger Schau, um uns die Einheit der Gegensätze vor Augen zu führen. Vielleicht lässt sich Schellings Konzept der intellektuellen Anschauung mit Hilfe der aus der Gestalt­psychologie geläufigen Kippfiguren verdeutlichen. So ist der berühmte Hasen-Enten-Kopf nicht zum einen Teil ein Hase und zum anderen Teil eine Ente, sondern ganz Hase und ganz Ente. Gleichwohl sind wir außerstande, die Figur als Hase und Ente zugleich wahrzunehmen. Wir sehen immer nur einen der beiden Aspekte. Ähnlich erfasst unsere Vernunft das Absoluten niemals in allen seinen Aspekten auf einmal.

Den Gestaltpsychologen beschäftigt die Frage, um welche Art von Tier es sich bei dem jeweiligen Kopf handelt. Der Philosoph sucht nach den Merkmalen, die Gott in seiner Ganzheit ausmachen. Dabei wird er sowohl auf eher anthropomorph wirkende Bestimmungen (wie Gerechtigkeit, Liebe, Weisheit) als auch auf eher metaphysische anmutende Kennzeichnungen (wie Ewigkeit, Allursächlichkeit, Sein) stoßen. Ferner obliegt dem Philosophen, das Verhältnis auszuloten, in dem das Absolute zu den endlichen Dingen steht.

Schelling trieb bei alledem die Sorge um, das Absolute könnte in einer Weise aufgefasst werden, dass auch alles Widrige und Schlechte in der Welt als Wirkung Gottes erscheint. Damit ist die Frage nach dem Ursprung des Übels und das Problem der Theodizee berührt. Schelling experimentierte deshalb mit dem Gedanken, die Schöpfung als einen ‚Abfall‘ vom Absoluten zu erklären. Die Entstehung der Welt dürfe nicht als ein Hervorgang (Emanation) aus Gott, sondern müsse so gedacht werden, dass das Endliche etwas Selbständiges ist. Als solches kann es sich entweder seinem absoluten Ursprung zu- oder von ihm abwenden. Je nachdem wird es dem Absoluten mehr oder weniger entsprechen.

Es wäre gewiss zu viel behauptet, Schelling habe die von ihm aufgeworfenen Schwierig­keiten vollständig gelöst. An seinem Beitrag lässt sich jedoch das Niveau ablesen, auf dem die Philosophie von der Religion handeln sollte. Halten wir drei Einsichten fest:

1. Eine Philosophie, die dem Glauben den Vorrang vor dem Wissen einräumt, wird nicht zugleich beanspruchen können, das Absolute zu erkennen.

2. Eine Philosophie, die dem Absoluten umstandslos bestimmte Eigenschaften zuschreibt und andere von ihm verneint, wird sich nicht wundern dürfen, wenn Gott am Ende als ein Ding unter anderen und damit als verendlicht erscheint.

3. Einer Philosophie, die alles Endliche unmittelbar aus Gott ableitet, werden nachher die Argumente fehlen, um zu begründen, warum Gott nicht der Urheber des Bösen sein sollte.

[Der religiöse Mensch mag mit derlei spekulativen Erwägungen wenig anfangen können. Tatsächlich sieht Schelling die Aufgabe der Religion hauptsächlich darin, das Absolute anschaulich darzustellen und existentiell erlebbar zu machen. Er erinnert an das antike Griechenland, wo die Religion einerseits in den Gestalten der Mythologie unter dem Volk verbreitet war. Andererseits gab es Geheimkulte (Mysterien), in denen die Eingeweihten der Gottheit begegneten. Das Christentum, so Schelling, entstand aus dem Heidentum dadurch, „dass es die Mysterien öffentlich machte“ (66). Die biblische Offenbarung und der kirchliche Gottesdienst verkünden ein und denselben Gott. Hier lässt sich ein weiterer Punkt von Schelling lernen:

4. Religion ist etwas anderes als philosophisches Nachdenken über das Absolute. Zum Glauben gehört die religiöse Praxis, die Gott erfahrbar macht.]


Georg Sans SJ ist Inhaber des Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhl für Religions- und Subjektphilosophie an der Hochschule für Philosophie.

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