15 Nov

Sehnsucht nach Wissenschaft. Die romantische Universität

Von Markus Steinmayr (Duisburg-Essen)


Die Idee der romantischen Universität wird in unterschiedlichen Formen und Textsorten entwickelt. Es gibt Verwaltungsschriften wie Humboldts berühmte „Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ aus dem Jahre 1809. Anders blickt zum Beispiel Joseph von Eichendorff auf Sache und Funktion der Universität. In „Halle und Heidelberg“ wird die Universität zu einer romantischen Figur, die eine Bastion gegen die Zeitläufte darstellt. Andererseits, darauf hat Theodor: Ziolkowski in „Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen“bereits 1994 aufmerksam gemacht, gibt es wohl in keiner literarischen Epoche so viele studentische Helden und Passagen, die die Universität und ihre Probleme in den Mittelpunkt rücken. Schließlich ist Achim von Arnims Hollin ein Studienabbrecher, Ernst Theodor Hoffmanns Nathanael aus „Der Sandmann“ ein dem Wahnsinn verfallender Student der Physik, Anselmus aus Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldene Topf“ ein Student der Theologie. Viele firmieren als Figuren des Anti-Akademischen, in der die Frage nach der wahren Bildung verborgen liegt.

Worin besteht aber nun der Kern der romantischen Universität? Ihr Kern besteht darin, die Universität neu zu erfinden, sie zu etwas Neuem zu machen. Dies möchte ich an einem Kernprozess der Universität, nämlich der Lehre verdeutlichen, für deren Neuerfindung Humboldt steht.

Mit der Humboldt’schen Reform wurde eine Neudefinition der universitären Lehre eingeleitet. Die universitäre Lehre hat nunmehr nicht mehr die Aufgabe, reine Wissensvermittlung zu sein, sondern sie soll – unter der Ägide eines anthropologisierten Bildungsbegriffs – Bildung in der und durch die Wissenschaft ermöglichen. Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Sachverhalten dient also nicht mehr nur einseitig der Vermittlung des je aktuellen Standes der Wissenschaft, sondern in der Lehre soll gerade dieser Stand der Wissenschaft in Frage gestellt, d.h. mit wissenschaftlichen Mitteln untersucht werden. Bekanntermaßen versucht Humboldt, diese Position des universitären Unterrichts im Bildungssystem durch die Differenz zur Schule zu bestimmen:

„Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich macht, so wird er durch den Schulunterricht entbehrlich. Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.“

Das Imago des forschenden Studierenden geht zurück auf Schillers Antrittsvorlesung, in der das Ziel der neu formierten universitären Lehre in der Geschichtswissenschaft nicht mehr darin besteht, Chronisten auszubilden, sondern Geschichtsforscher zu erziehen.   Die „edle Wißbegierde“  der zukünftigen Historiker, untern denen sich nach Schillers Überzeugung so ein „Genie für das kommende Zeitalter“  möglicherweise finden lässt, wird bei Schiller ergänzt durch die berühmte Differenz zwischen Brotgelehrten und philosophischen Köpfen. Der Brotgelehrte sucht „nur Gold, Zeitungslob“ und „Fürstengunst“ , der philosophische Kopf dahin, „vereinigt“  und genießt die gerade erfundene historische Wissenschaft als Selbstzweck.

Humboldt schließt an Schillers Überlegungen an, indem er den Professor als eine Art Mentor des Forschens installiert, dessen Aufgabe darin besteht, den Studierenden bei seiner Entwicklung zum Forscher zu unterstützen. Der Studierende ist nicht mehr nur Lerner, sondern auch Forscher in statu nascendi. Liest man weiter, so definiert Humboldt auch in diesem Sinne den Zweck des Universitätsunterrichts: „Denn der Universitätsunterricht setzt nun in Stand, die Einheit der Wissenschaft zu begreifen, und hervorzubringen, und nimmt daher die schaffenden Kräfte in Anspruch. […]“ 

Der Universitätsunterricht geht somit aufs Ganze; er behandelt nicht nur Segmente des Wissens, sondern hat stets die Aufgabe, die innere ‚Einheit der Wissenschaft’ zu repräsentieren. In diesem Sinne ist der Universitätsunterricht auch grenzenlos, da er, ganz im Gegensatz zur Schule, auf Freiwilligkeit beruht, und Bildung durch Wissenschaft ein unabschließbarer Prozess ist, der nicht mit dem Verlassen der Universität aufhört. Die Universität soll ein grenzenloses Erleben von Wissenschaft ermöglichen, das den Studierenden durchs Leben trägt:

„Daher hat der Universitätsunterricht keine Gränze nach seinem Endpunkt zu, und für die Studirenden ist, streng genommen, kein Kennzeichen der Reife zu bestimmen. Ob, wie lange, und in welcher Art derjenige, der einmal im Besitze tüchtiger Schulkenntnisse ist, noch mündlicher Anleitung bedarf hängt allein vom Subject ab.“

Unter diesen Bedingungen ist die Aufhebung der Anwesenheitspflicht in Vorlesungen nur konsequent:

„Das Collegienhören selbst ist eigentlich nur zufällig; das wesentlich Nothwendige ist, dass der junge Mann zwischen der Schule und dem Eintritt ins Leben eine Anzahl von Jahren ausschliessend dem wissenschaftlichen Nachdenken an einem Orte widme, der Viele, Lehrer und Lernende in sich vereinigt.“

Grundsätzliche Frage der universitären Lehre ist, wie Humboldt an anderer Stelle schreibt, ob der Studierende „ physisch, sittlich und intellectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden kann“ . Diese Frage zu klären, setzt Interesse an Einzelnen und am Lernfortschritt des Studierenden voraus, also mithin eine pädagogische Haltung.

Denn wo Freiheit ist, wächst die Neigung zur Faulheit auch, wie Humboldt weiß und den pädagogischen Impetus dahingehend formuliert, dass die Studierenden „vom Zwange entbunden, nicht zu Müssiggang oder zum praktischen Leben übergehen“. Vielmehr müsse der aufmerksame pädagogische Beobachter, der hier Universitätslehrer ist, seine erzieherische Aufmerksamkeit auf etwas richten, was Humboldt gut romantisch „Sehnsucht“ nennt. Die ‚Sehnsucht’ nach einem Überschreiten der je eigenen individuellen Grenzen des Wissens zu wecken, ist also Aufgabe der universitären Lehre. 

‚Sehnsucht’ ist auch Ausdruck eines intellektuellen Unvergnügens an der Realität der Wissenschaft bzw. an der Realität ihrer Ergebnisse. Die Sehnsucht versucht gerade, über die Ergebnisse hinauszugehen. Interessanterweise ist es genau jenes prinzipielle Unerfüllt-Sein, was die Idee der Wissenschaft mit der romantischen Sehnsucht verbindet. Die Idee der Wissenschaft, so Humboldt, müsse in der Institution der Wissenschaft immer als „etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“  betrachten werden.

Diese Sehnsucht hin zum wissenschaftlichen Fragen ist genau jene Voraussetzung, die die Universität in der Lehre zu schaffen hat. Denn die Sehnsucht ist die individuelle Voraussetzung, um sich „zur Wissenschaft zu erheben, die ihm bis dahin nur gleichsam von fern gezeigt war.“  Humboldt schreibt weiter, dass das „Universitätslehren“  die Aufgabe habe, die Wissenschaft in das Zentrum des universitären Dialogs zu versetzen, denn der Diskurs über Wissenschaft in der Lehre unterscheidet die Universität von der Akademie und von der Schule. Humboldt schreibt:

 „[d]er Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichen Verstand ist notwendig Freiheit und hilfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten.“

Der hohe Anspruch an die universitäre Lehre zieht sich durch viele Schriften aus dem Kontext des Humboldt’schen Netzwerks. Schleiermacher berühmte Schrift „Über Universitäten im deutschen Sinne“ begrifft dementsprechend die Aufgabe der Universität, zunächst einmal radikal inklusiv zu sein:

„Kurz, es ist unvermeidlich, daß viele zur Universität kommen, die eigentlich untauglich sind für die Wissenschaft im höchsten Sinne, ja daß diese den größeren Haufen bilden, weil in der Tat dies weit weniger nachteilig sein kann, als wenn ein einziges großes und entschiedenes Talent die wohlthätigen Einflüsse dieser Anstalt ganz entbehren müsste. Der Gedanke, schon auf der Schule oder beim Abgehn von derselben eine Trennung festzusetzen zwischen denen, welche der höchsten wissenschaftlichen Bildung fähig, und denen, die für eine untergeordnete Stufe bestimmt sind, und für letztere eigene Anstalten zu stiften, wo sie ohne die philosophischen Anleitungen der Universität gleich für ihr bestimmtes Fach der Erkenntnis mehr handwerksmäßig und traditionell weitergebildet würden, dieser Gedanke ist jedem furchtbar und schrecklich, der an der Bildung der Jugend einen lebendigen Anteil nimmt.“

Schleiermacher versteht hier die Aufgabe der Universität als zunächst einmal inklusiv, nicht exklusiv. Denn die Aufgabe der universitären Erziehung ist es, jene Talente zu entdecken, die zur vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung fähig sind. Diese Entdeckung des Talents muss unabhängig „von der Wohlhabenheit der Eltern erfolgen.“ Anders formuliert: Auf eine brillante Art und Weise verbindet Schleiermacher den grundsätzlichen Anspruch der Erziehung auf Inklusion mit der notwendigen Selektion. In dieser idealen Universität muss die Lehre somit anders funktionieren.

„Ein Professor, der ein ein für allemal geschriebenes Heft immer wieder abliest und abschreiben läßt, mahnt uns sehr ungelegen an jene Zeit, wo es noch keine Druckerei gab, und es schon viel wert war, wenn ein Gelehrter seine Handschrift vielen auf einmal diktierte, und wo der mündliche Vortrag zugleich statt der Bücher dienen mußte. Jetzt aber kann niemand einsehn, warum der Staat einige Männer lediglich dazu besoldet, damit sie sich des Privilegiums erfreuen sollen, die Wohltat der Druckerei ignorieren zu dürfen […].“

Der Universitätslehrende hat also die Aufgabe, über Texte kommunizieren bzw. Texte im Dialog mit den Studierenden ins Gespräch zu bringen. Wenn dies nicht mehr funktioniert, ist die Universität in der Krise. Der hohe Anspruch, den die Organisation Universität dereinst an die universitäre Lehre stellte, ist heute größtenteils vergessen. Der Blick in die romantische Vergangenheit einer Lehre, die auf Persönlichkeiten wirkt, anstatt Kompetenzen akkumulierbar zu machen, ist vielleicht dazu geeignet, die Gegenwart der Lehre im Namen dieser vergangenen Ansprüche und Wünsche an die Lehre zu kritisieren, ohne dass man von einer Restauration der sogenannten Humboldt-Universität zu träumen gezwungen wäre. Die Geschichte der Lehre in der Universität der Gegenwart ist noch zu schreiben.


Markus Steinmayr, geb. 1968, Studium der Germanistik und der Philosophie in Duisburg, Tübingen und Bochum, Promotion 2003 mit einer Arbeit über die Poetik des religiösen Menschen, 2003-2016 verschiedene Leitungstätigkeiten im Wissenschaftsmanagement, seit 2016 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen und Publizist (FAZ, Der Freitag, Merkur), Forschungsschwerpunkte: Literatur und Sozialpolitik, Literatur und die Neue Rechte, Universitätsliteratur, Romantik, Naturalismus.

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