02 Feb

Künstliche Intelligenz und Meaning in Life: Ein kurzer Überblick über ein neues Forschungsfeld

von Markus Rüther (Jülich/Bonn)

Unter den Schlagworten „Künstliche Intelligenz“ und „Digitalisierung“ werden viele Technologien diskutiert, die bereits heute unseren Alltag bestimmen. In ethischer Hinsicht werden vor allem die Folgen solcher Technologien für das Wohlergehen (z. B. das Glück) des Individuums und die gesellschaftliche Ordnung in den Blick genommen. Aber ist das wirklich schon alles? Gibt es nicht auch ethische Fragestellungen, die jenseits dieses bipolaren Modells liegen?

Der status quo in der ethischen Debatte 

Unterschiedlichste Anwendungsformen der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz (kurz: KI) bestimmen schon heute den Alltag vieler Menschen: KI-Systeme analysieren und steuern internationale Finanzgeschäfte; sie koordinieren die Vergabe von Krediten und überwachen Sozialbezüge; sie kommen bei der Vergabe von Studienplätzen zum Einsatz und sie leiten die Personalauswahl in Unternehmen an; sie unterstützten die Bewertung des Rückfallrisikos von Straftäter:innen und prognostizieren, wo in Zukunft vermehrt Straftaten zu erwarten sind; sie helfen bei medizinischen Diagnosen und chirurgischen Eingriffen; sie wirken im Hintergrund von Datingplattformen und wählen personalisierte Werbung aus. Schon bald sollen selbstfahrende Fahrzeuge am normalen Straßenverkehr teilnehmen, Roboter in der Pflege vielfältige Aufgaben übernehmen und Waffensysteme selbstständig Angriffsziele auswählen. Es scheint als seien den Einsatzmöglichkeiten von KI nur noch durch die Kreativität ihrer Entwickler:innen Grenzen gesetzt. Die ethischen Herausforderungen, die mit diesen Anwendungsformen einhergehen, werden schon seit einigen Jahren diskutiert (vgl. für einen Überblick Heinrichs/Heinrichs/Rüther 2022). Sie haben, um eine klassische ethische Systematisierung aufzugreifen, zumeist mit dem individuellen Wohlergehen zu tun oder dem moralisch gerechten und fairen Zusammenleben in einer Gesellschaft. Es geht um Themen wie fehlende Transparenz und Erklärbarkeit, Daten-Biases und Diskriminierung, die Verletzung der Privatsphäre, die Möglichkeit von „Hypernudging“ und Manipulation oder ungerechte gesellschaftliche und soziale Verteilungsmechanismen.

Ein neues Forschungsfeld: Ethische Sinnforschung

Aber sind damit bereits alle ethischen Themen angesprochen? In der jüngeren Vergangenheit haben einige Philosoph:innen diese Frage verneint und den Fokus auf ein neues Thema gelenkt, nämlich darauf, welche Herausforderungen sich durch den Einsatz von KI-Systemen für die individuelle Sinnstiftung ergeben. „Sinn“ ist natürlich ein mehrdeutiger Begriff. Was verstehen die Protagonist:innen darunter? Für viele bildet ein Sinnverständnis den Ausgangspunkt, wie es im sogenannten Meaning-in-Life-Diskurs entwickelt wurde. Dort erfährt der Sinnbegriff seit knapp 15 Jahren eine umfassende metaethische und normativ-inhaltliche Auseinandersetzung (vgl. Rüther 2021a und 2021b). Das gemeinsame Band, was die verschiedenen Forschungen zusammenhält, besteht darin, die Sinndimension als eine eigenständige Dimension neben den Kategorien des individuellen Wohlergehens oder der Moral aufzufassen (vgl. Wolf 2010 und Metz 2013). Inhaltlich wird die Kategorie „Sinn“ vor allem durch ihren Gegenstandsbezug auf das sogenannte Schöne, Wahre und Gute charakterisiert (vgl. Metz 2011, Rüther 2023). Damit ist keine Ausrichtung auf platonische Universalien gemeint, sondern auf spezifische, objektiv wertbehaftete Praxisziele. Sinnstiftende Tätigkeiten werden zum Beispiel so definiert, dass sie im Bereich der künstlerischen, wissenschaftlichen oder altruistischen Exzellenz anzutreffen sind. Beispiele, die häufig genannt werden, sind die Schaffung von Kunstwerken, die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie oder die interesselose Hilfeleistung gegenüber Bedürftigen.

Ethische Sinnforschung zur Digitalisierung und künstlichen Intelligenz

Eine zunehmende ethische Beschäftigung mit dem Sinnthema ist auch im Zusammenhang mit den Diskussionen von Phänomenen wie Digitalisierung und künstlicher Intelligenz anzutreffen, wenngleich diese im Vergleich zum Sinndiskurs in der Metaethik oder normativen Ethik noch in den Kinderschuhen stecken. Zu nennen sind vor allem bereichspezifische Forschungen, also solche, die den Sinnbegriff in ausgewählte Kontexte der KI-Forschung einbringen. Der Fokus ist hierbei recht exklusiv, denn er erstreckt sich auf lediglich drei Bereiche, nämlich auf die Bereiche „Persönlichkeitsformung“, „soziale Beziehungen“ und „Arbeit“. Näher besehen dürfte das aber auch nicht sonderlich verwundern, denn gerade bei diesen Bereichen handelt es sich um paradigmatische Kontexte, in denen Menschen in der Regel Sinnstiftung erfahren können. Ein sinnvolles Leben dürfte sich für viele mitunter darin ausdrücken, dass sie sich persönlich entwickeln, sinnstiftende Beziehungen führen und sich in sinnstiftenden Arbeitsverhältnissen befinden.

Kann künstliche Intelligenz helfen, eine sinnstiftende Persönlichkeit zu entwickeln?

Die Entwicklung und Formung der eigenen Persönlichkeit dürfte seit jeher eine Quelle von Sinnstiftung sein. Sie kann verschiedene Aspekte beinhalten, wie etwa die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten, aber auch von mentalen Zuständen. Die Theorien darüber, worin der sinnstiftende Faktor hierbei genauer besteht, sind heterogen und spiegeln die Diversität aus dem Bereich der Moralphilosophie, insbesondere der Tugendethik, wider (z. B. die Theorien in Hurka 2011, Rüther 2023, Kap. 2.3.3). Der Bezug dieser sinnstiftenden Variablen zu Technologien der KI wird gegenwärtig vermehrt diskutiert. Die Absicht ist zumeist kritischer Natur, sodass KI-Systeme in diesem Bereich vor allem als Bedrohung des sinnstiftenden Potenzials gedeutet werden (siehe Danaher 2016, Yeung 2017, Frischmann/Selinger 2018). Ein klassisches Beispiel für vermeintliche Sinnminimierer stellen algorithmische Entscheidungssysteme dar, die sich in so gut wie allen Lebensbereichen finden – von Partnersuche und Kreditvergabe über die Auswahl von geeigneten Studienbewerbern oder der Rekrutierung von Personal bis hin zur Unterstützung in der Polizeiarbeit, Rechtsprechung und Politik (vgl. diese und weitere Beispiele in Heinrichs/Heinrichs/Rüther 2022). Einige sprechen daher bereits von einem Zeitalter der „algocracy“ (Danaher 2016), „algorithmic regulation“ (Yeung 2017) oder „algorithmic governmentality“ (Rouvroy 2015).

Können soziale Roboter sinnstiftend sein?

Es dürfte unbestritten sein, dass persönliche Beziehungen für viele Menschen nicht nur aus instrumentellen Gründen wertvoll sind, sondern auch einen intrinsischen Wert darstellen, der dem eigenen Leben Sinn verleiht. Diese Alltagsannahme wird in der Ethik der künstlichen Intelligenz bereits seit längerem philosophisch reflektiert (z. B. in Levy 2007, Nyholm/Danaher/Earp 2022). Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet häufig ein bestimmter Beziehungstyp, nämlich romantische Beziehungen. Im Zentrum steht hierbei unter anderem die Frage, ob und inwiefern KI-Systeme, insbesondere konzipiert als soziale Roboter, in eine solche Beziehung eintreten können und damit die Möglichkeit besteht, sie als eine potenzielle Sinnquelle zu betrachten. Die Grundeinstellung ist zumeist skeptisch, wobei die Gründe für diese Haltung variieren. Sie reichen vom Fehlen von spezifischen Fähigkeiten wie Empathie (Coeckelbergh 2010) und Selbstwahrnehmung (Hauskeller 2014) bis hin zum Fehlen sehr allgemeiner mentaler Vermögen wie der Möglichkeit zum emotionalen Erleben (Sullins 2012).

Wie sinnstiftend ist eine vollautomatisierte Arbeitswelt?

Die eigene Arbeit ist für viele Menschen zweifellos eine wichtige Sinnquelle. Die meisten Menschen verbringen mehr Zeit am Arbeitsplatz als mit ihren Familienangehörigen oder mit ihren Freizeitaktivitäten. Die Kriterien für sinnstiftende Arbeit werden im Diskurs vielfältig bestimmt (vgl. Smids/Nyholm/Berkers 2020, 506-510). Einig scheinen sich die meisten jedoch darin zu sein, dass ein gewisses Maß an Erfolg, also an hervorgebrachten werthaften Zuständen oder Gegenständen, dazugehört. Diese Variable wird zumeist als Errungenschaften (engl. achievements) bezeichnet, wenngleich die genaue Definition des Begriffs variiert (Bradford 2013, Bradford 2016). Die Ausrichtung der Argumentationen ist weitgehend negativ. Zentral und viel diskutiert sind vor allem kritische Argumente, die die sinnminimierenden Effekte von KI-Systemen in der Arbeitswelt erläutern. Ein Beispiel hierfür ist die Automatisierungsdebatte, in der einige Autor:innen ein sogenanntes achievement gap diagnostizieren (Danaher 2017, Danaher/Nyholm 2020, Smids/Nyholm/Berkers 2020). Dieses soll darin bestehen, dass in einer vollautomatisierten Arbeitswelt für Menschen etwas fehle, nämlich die Möglichkeit, Errungenschaften, also eine wesentliche Quelle von sinnstiftender Arbeit, zu realisieren.

Die Desiderate und weitere Forschungen

Was lässt sich aus der bisherigen Literaturschau ableiten? Zum einen ist zu betonen, dass die Sinnforschung in der Ethik der künstlichen Intelligenz keine terra icognita mehr ist. Es lassen sich bereits einige Texte und Studien ausmachen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass damit allenfalls ein Startpunkt für Anschlussforschungen markiert wurde. Aus einer bereichsinternen Perspektive stellen sich etwa eine Reihe von Ergänzungsfragen: Welche Aspekte der eigenen Persönlichkeit sind sinnstiftend und welche nicht? Gibt es neben dem achievement gap noch andere Sinnfaktoren, die im Bereich „Arbeit“ zu berücksichtigen sind? Welche Beziehungsarten müssen neben romantischen Beziehungen noch berücksichtigt werden, wenn es um den Einfluss von KI-Systemen auf die Sinnstiftung geht? Aus einer externen Perspektive heraus stellt sich zudem die Frage nach weiteren Bereichen, in denen das Sinnthema einschlägig wird. Zwar werden gegenwärtig vor allem die Bereiche „Selbstformung“, „Arbeit“ und „Beziehungen“ diskutiert. Viel spricht jedoch dafür, die Bereiche auszuweiten, zum Beispiel auf solche, die mit Themen wie „Nachhaltigkeit“ und „Umwelt“ in Zusammenhang stehen. Gerade unter dem Titel „sustainable AI“ lassen sich gegenwärtig einige beachtliche neuere Forschungsinitiativen ausmachen (siehe etwa für einen Überblick: Coeckelbergh 2021, van Wynsberghe 2021). Diese behandeln die Thematik vor allem unter einer moralischen Perspektive – zum Beispiel unter den Schlagworten „Verantwortung“, „intergenerationelle Gerechtigkeit“ oder „Fairness“. In weiteren Forschungen könnte es aber ebenso aussichtsreich sein, wie einige Philosoph:innen bereits betont haben, die Sinnperspektive miteinzubeziehen und im Rahmen einer all things considered Bewertung zu berücksichtigen (siehe für einen ersten Versuch: Nyholm 2021).


Quellen: Das Literaturverzeichnis kann hier abgerufen werden.


PD Dr. Markus Rüther arbeitet als permanent researcher am Forschungszentrum Jülich und als Privatdozent an der Universität Bonn. Zurzeit beschäftigt er sich unter anderem mit dem Zusammenhang von künstlicher Intelligenz und Sinnstiftung.

Der obige Beitrag ist eine modifizierte Version des englischsprachigen Artikels „Meaningful AI: Some Trends and Perspectives“ (zus. mit Sven Nyholm), der 2023 in Philosophy & Technology erscheinen wird.

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