Solidarität und Ethik der Sozialen Arbeit

Von Frieder Bögner (Aachen) und Shingo Segawa (Göttingen)


Es ist unstrittig, dass Sozialarbeiter:innen eine besondere moralische Verantwortung gegenüber ihren Adressat:innen haben und daraus berufsspezifische Verplichtungen erwachsen. So sind Professionelle aufgrund ihres Arbeistauftrags etwa dazu aufgerufen, ihren Adressat*innen bei gesellschaftlicher Integration, dem Umgang mit Behörden und der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen. Manchmal wird, um diese Ansprüche zu systematisieren, von einem Prinzip der Solidarität gesprochen, das zwischen diesen beiden Personengruppen einschlägig sei. Historisch hängen bestimmte soziale Bewegungen, die sich auf Solidarität berufen haben, und die heutigen institutionalisierten Formen Sozialer Arbeit, auf direkte Weise miteinander zusammen. Solidarität und solidarische Einstellungen könnten Interventionsformen rechtfertigen, zu diesen motivieren, oder allgemeiner, positive Pflichten von Professionellen begründen. Unter positiven Pflichten von Professionellen wollen wir hier Verpflichtungen zu Interventionsformen verstehen, die für die Soziale Arbeit typisch sind. Im Bereich der Fluchthilfe – die wir hier als exemplarischen Fall herausgreifen– könnte etwa dazugehören, Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, gesundheitliche Versorgung sicherzustellen und bei der Aufnahme einer Beschäftigung zu unterstützen. Der Berufsverband der sozialen Arbeit (DBSH) hat 2016 sechs Prinzipien festgelegt, darunter findet sich auch ein Prinzip der Solidarität.[1]

         Es ist jedoch nicht einfach, genau zu erfassen, was Solidarität bedeutet. Im Allgemeinen besteht ein Konsens darüber, dass Solidarität darin besteht, freiwillig anderen zu helfen, die einem ähnlich sind (Bayertz 1998; Scholz 2008). Was bedeutet aber dieses Verständnis von Solidarität im Kontext von Sozialarbeiter:innen? In diesem Beitrag wenden wir uns der Frage zu, welche Herausforderungen sich für ein sinnvolles ethisches Prinzip der Solidarität in der Sozialen Arbeit ergeben, wenn man eine grundlegende Unterscheidung zum Solidaritätskonzept aus der Praktischen Philosophie hinzuzieht. Wir beschränken uns hier auf die Formulierung dieser Problem, der angemessene Umgang mit diesen Herausforderungen ist allerdings notwendig dafür, um zu klären, ob Solidarität ein sinnvolles ethisches Prinzip für Sozialarbeiter:innen sein, das heißt, ob und inwiefern das Konzept der Solidarität positive Pflichten der Sozialarbeiter;innen, wie die oben genannten, rechtfertigen kann.

Zwei Solidaritätsmodelle – partikularisisch und universalistisch

Es gibt zwei Ansätze, diese Frage nach Rechtfertigung mit Hilfe des Solidaritätsbegriffs zu beantworten: Ein partikularistisches und ein universalistisches Solidaritätsmodell. Menschen zeigen häufig am meisten Bereitschaft, Unterstützung für Bedürftige oder gesellschaftlich schlechter Gestelle zu leisten, wenn sie diese als Mitglieder der eigenen Gemeinschaft ansehen. Über diese bloß psychologische Tendenz hinaus wird diese geteilte Zugehörigkeit zudem als rechtfertigende Begründung für eine positive Pflicht zu unterstützen, oder als Quelle besonderer Handlungsgründe angesehen (Derpmann 2013). Manche Autor:innen gehen soweit zu behaupten, dass Unterstüzung und Hilfe zwischen Individuen, die nicht derselben sozialen Gruppe angehören, gar nicht als Solidarität aufzufassen sei (Sangiovanni, Viehoff 2023: Abschnitt 1). Wann die Unfähigkeit, andere als Teil der eigenen Gemeinschaft anzusehen, genau der Fall ist und wann sie auch allgemeiner gerechtfertigt sein kann, ist natürlich eine komplexe und kontroverse Frage. Es wird zum Beispiel argumentiert, dass die Kriterien für die Suche nach Gemeinsamkeiten mit anderen völlig subjektiv sind (Prainsack and Buyx 2016). Diese Position scheint für eine breitere Anwendung von Solidarität angemessen zu sein, aber es gibt auch Bedenken, dass solidarisches Handeln, das keine belastbaren Indikatoren hat und auf individueller Subjektivität beruht, instabil sein könnte. Für den Moment sollen jedoch kulturellen Zugehörigkeiten wie geteilte Lebenserfahrungen, Sprache, aber auch berufliche Bildung und politischer Status hier als einzelne Abgrenzungs- wie Einschlusskriterien genügen. Diese gehen in vielen Hinsichten über bloß subjektive Einschätzungen hinaus, da sie sich intersubjektiv aushandeln lassen. Unsere gemeinsame Sprache oder Lebenserfahrung kann somit Grundlage dafür sein, uns individuell oder wechselseitig zu Unterstützungleistungen zu verpflichten. Das wechselseitige solidarische Eintreten füreinander ist in diesem Modell besonderes Charakteristikum unserer partikularen sozialen Beziehungen (z.B. Bayertz 1998: 21), auch auf Grundlage geteilter kultureller Zugehörigkeit.

Insofern dies der Fall ist, ist es wahrscheinlich häufig schwierig, eine solche kulturelle Gemeinsamkeit etwa zwischen Sozialarbeitern:innen, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind, und ihren Adressat:innen zu finden. Mit anderen Worten: Sozialarbeiter:innen (können) ihre Adressat:innen oft nicht unbedingt als Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft ansehen. Natürlich gibt es die – vermutlich sehr glückliche Konstellation – dass Personen, die selber geflüchtet sind, etwa nach Ausbildung oder Studium, in der Geflüchtetenhilfe arbeiten. Dies ist jedoch ein Ausnahmefall. Wenn man an einem Prinzip der Solidarität festhalten möchgte stellt sich daher sich in typischen Situationen, in denen diese Voraussetzungen fehlen, die Frage, wie man die positiven Pflichten von Sozialarbeitern:innen mit einem partikularistischen Modell von Solidarität rechtfertigen kann.

Es bleibt jedoch ein stärker universalistisches Modell zur Auswahl. Dieses kann in etwa besagen, dass menschliche Personen qua Gattung, oder Zugehörigkeit zur Gattung, oder Zugehörigkeit zu einer globalen Gemeinschaft aller Menschen, aus Solidarität handeln sollten bzw. dass sich für sie aus der Haltung der Solidarität gegenüber dieser Gemeinschaft positive Pflichten ergeben. Wir können selbstverständlich nicht ausschließen, dass genau dies in einzelnen Fällen z.B. motivierender Hintergrund zum Beispiel für eine Sozialarbeiterin ist, sich einem Anliegen eines geflüchteten Adressaten zuzuwenden. Es besteht jedoch die Befürchtung, dass dieser Ansatz die ursprüngliche Bedeutung des Solidaritätsbegriffs aushöhlt. Im Falle von Geflüchteten, die vor politischer Unterdrückung in ihrem eigenen Land fliehen, könnte beispielsweise der Begriff der Gerechtigkeit herangezogen werden, um die positive Pflicht von Sozialarbeiter:innen zu begründen. Auch der Begriff der Gerechtigkeit wird von der DBSH als Prinzip angesehen, wie der Begriff der Solidarität. Wenn dies jedoch der Fall ist, wird die ursprüngliche Bedeutung beider Begriffe unklar, es sei denn, wir können klar definieren, wann Gerechtigkeit und wann Solidarität als Grundlage für positive Pflichten angemessen sind. Vermutlich liegt ja die Intention von Verbänden wie dem DBSH darin, über unterschiedliche normative Konzepte – wie Gerechtigkeit und Solidarität – Raum dafür zu schaffen, dass sich unterschiedliche Anforderungen die professionelle Arbeit stellen lassen. bzw. unterschiedliche positive Pflichten von Sozialarbeiter*innen rechtfertigen lassen. Um nur einen Ansatz zu unterschiedlichen Rechtfertigungszielen herauszugreifen: Habermas zum Beispiel definiert Gerechtigkeit als mit individueller Freiheit verbunden (Prinzip der Individualisierung), während Solidarität mit dem Wohlergehen der Bürger:innen verbunden ist (Prinzip der intersubjektiven Anerkennung) (Habermas 1990). Habermas weist darauf hin, dass sich das Prinzip der Individualisierung (Gerechtigkeit) und das Prinzip der intersubjektiven Anerkennung (Solidarität) aufgrund des kommunikativen Prozesses der Menschen eher ergänzen als widersprechen. Das Solidaritätsprinzip spielt nach Habermas somit eine komplementäre Rolle bei der Korrektur von Verletzungen des Gerechtigkeitsprinzips.

Da Habermasʼ Solidaritätsbegriff auf der Gegenseitigkeit der Menschen beruht, ist dies ein Konzept, das über individuelle menschliche Beziehungen hinausgeht und universell ist. Wir sollten zwischen für Solidarität spezifischen, oder zumindest einschlägigen, positiven Pflichten von Professionellen und solchen Pflichten unterscheiden, die auch – bzw. besser – über andere Prinzipien zu rechtfertigen sind. Auf den Punkt gebracht tun Sozialarbeiter:innen gut daran, ihre solidaritätsbezogenen Begründungen von Interventionen möglichst eindeutig von anderen Begründungsformen abzugrenzen.

Um einem möglichen Missverständis mit Blick auf das partikularistische Modell vorzubeugen möchten wir betonen, dass aus unserer Sicht auf der einen Seite definitiv nichts prinzipielles gegen Solidarität über soziale Gruppen hinweg spricht. Generell lassen sich also sehr wohl auch zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gemeinschaften positive Pflichten auf Grundlage eines Prinzips von Solidarität rechtfertigen. Auf der anderen Seite lassen sich selbstverständlich viele Interventionsformen von Sozialarbeiter:innen durch deren Arbeitsauftrag rechtfertigen. Dieser ist wohl die allgemeingültigste und im Arbeitsalltag am häufigsten anzutreffende Begründung für professionelle Aktivitäten. Da aber, wie erwähnt, explitit von einem Prinzip der Solidarität gesprochen wird, gilt es philosophisch zu klären, was dieses Prinzip leisten kann. Es ist deutlich geworden, dass die beide in der praktischen Philosophie weit verbreiteten Grundmodelle der Solidarität positive Pflichten der Sozialarbeiter:innen rechtfertigen können, aber gleichzeitig stellen sich ihnen auch grundlgende Probleme.


Frieder Bögner ist PostDoc an der RWTH Aachen und arbeitet im Zukunftscluster „NeuroSys“, er forscht zu verschiedenen Themen der Angewandten Ethik, insbesondere der Ethik neuartiger Technologien, Nachhaltigkeitsethik und der Ethik der Sozialen Arbeit sowie zu Themen der Politischen Philosophie. Die Dissertation Der Konflikt zwischen legitimer Autorität und der Autonomie von Personen ist 2023 bei Brill/mentis erschienen.

Shingo Segawa ist assoziierter Wissenschaftler am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind biomedizinische Ethik, Public Health, ethische Aspekte von Demenzerkrankungen, Philosophie der Person und Autonomie. Die Dissertation Der Begriff der Person in der biomedizinischen Ethik ist 2020 bei Brill/mentis erschienen.

Literatur

Bayertz, Kurt (1998) „Begriff und Problem der Solidarität.“ In: (ders.) Hrsg. Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt. S. 11-53.

Derpmann, Simon (2013) Gründe der Solidarität. mentis.

Greune, Thomas et al. / DBSH (2014) Berufsethik des DBSH. Ethik und Werte. In: Forum Sozial 04/2014.

Habermas, Jürgen (1990) „Justice and Solidarity: On the Discussion Concerning Stage 6”, in The Moral Domain: Essays in the Ongoing Discussion between Philosophy and the Social Sciences, T. E. Wren, W. Edelstein, and G Nunner-Winkler (Hrsg), (Studies in Contemporary German Social Thought). MIT Press, S. 224–251.

Prainsack, Barbara und Alena Buyx (2016) “Thinking ethical and regulatory frameworks in medicine from the perspective of solidarity on both sides of the Atlantic”. In: Theor Med Bioeth. 37(6):489-501.

Sangiovanni, Andrea und Juri Viehoff (2023) „Solidarity in Social and Political Philosophy.“ The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2023 Edition), Edward N. Zalta & Uri Nodelman (eds.), URL = https://plato.stanford.edu/archives/sum2023/entries/solidarity/ .

Sholz, J. Sally (2008) Political Solidarity. Penn State University Press.


[1] Siehe dazu etwa auch den einleitenden Beitrag von László Kovács „Ethik (in) der Sozialen Arbeit“ in dieser Reihe auf praefaktisch.de. Für die die Berufsethik des DBSH siehe hier. Solidarität wird dort auch als eines der obersten Prinzipien der professionellen Sozialen Arbeit erwähnt (vgl. Greune et al. / DBSH 2014: 39).