Zwischen allen Stühlen. Soziale Arbeit zwischen Doppel- und Quadrupelmandat (oder Quindrupel-) 

Von Hans-Ulrich Dallmann (Ludwigshafen) 


Seit ihren Anfängen steckt die Soziale Arbeit in einem Zwiespalt. Zum einen war sie schon immer ein obrigkeitsstaatliches Unternehmen – seit dem 18. Jahrhundert durch aus in der Tradition der „guten Policey“, die Foucault im Rahmen der allgemeinen Disziplinierungsmaßnahmen dieser Zeit interpretiert. In der Sozialen Arbeit wird dieser Zusammenhang als Verhältnisbestimmung von Hilfe und Kontrolle thematisiert. Allerdings muss immer wieder betont werden, dass beide – Hilfe und Kontrolle – Ausdruck und Mittel des Herrschaftscharakters des sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelnden modernen Staates sind. Mittels seiner Verwaltung und auf der Grundlage des Gewaltmonopols gewährleistet der Staat die Ordnung in seinen Grenzen dadurch, dass er die Einhaltung seiner grundlegenden Normen, die diese Ordnung umfasst, kontrolliert und bei Abweichung sanktioniert. Soziale Arbeit war und ist immer schon Teil dieser Arbeit an Normen und ihrer Durchsetzung. Zum anderen war Soziale Arbeit seit ihren Anfängen ethisch motiviert. Sei es im Rahmen der Moralisierung der Hilfe seit dem Mittelalter (Luhmann), sei es in der letztlich auch moralisch grundierten Vorstellung der Rechtsgebundenheit staatlichen Handelns im Zusammenhang der Entwicklung sozial- und/oder wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen. Sowohl in der Legitimation als auch in der Motivation der in ihr Tätigen ist die Soziale Arbeit dem – wie auch immer unterschiedlich verstandenen – „Wohl“ ihrer Klientinnen, Adressaten und Nutzenden verpflichtet. Das führt Profession und Institution Sozialer Arbeit in ihr fundierendes Dilemma der Hilfe/Unterstützung von Individuen auf der Basis eines staatlichen Auftrags. Dieses Dilemma wird reflektiert unter dem Titel „doppeltes Mandat“. 

Doppeltes Mandat heißt, dass die Soziale Arbeit mit einer Beauftragung durch zwei verschiedene Auftraggeber konfrontiert ist. Auf der einen Seite ist dies vermittelt über entsprechende Institutionen der Sozialstaat, auf der anderen Seite sind dies die Nutzerinnen und Klienten Sozialer Arbeit. Beide Seiten richten unterschiedliche Erwartungen an die Professionellen und die Einrichtungen, für die sie arbeiten. Dies sind zum einen die Ziele und das Selbstverständnis der sozialstaatlichen Gesetzgebung und der Träger der – zumeist öffentlich finanzierten – Einrichtungen. Zum anderen sind dies die Erwartungen der Nutzerinnen und Klienten in ihren Problemen der Lebensführung Unterstützung und Hilfe zu erfahren. Dies ist nur so lange unproblematisch, wie diese unterschiedlichen Erwartungen in irgendeiner Weise harmonisierbar sind. Nun gut, das ist eine „Sandwich-Position“, die auch bei anderen Berufen oder Professionen nicht ganz unbekannt ist. 

Unter den Bedingungen des „doppelten Mandats“ hat die Soziale Arbeit die Aufgabe der Mediation, des Ausgleichs zwischen den Rechten, Interessen und Bedarfen der Nutzerinnen und Adressaten und den Interessen, rechtlichen Vorgaben und Zielbestimmungen des Gesetzgebers und der Exekutive in der Form der Verwaltung. Dieser Aushandlungsauftrag ist jedoch problematisch, weil er in ein Machtgefüge einbezogen ist mit der Gefahr, dass die Soziale Arbeit in erster Linie den Herrschaftscharakter ihrer Tätigkeit repräsentiert. In der Praxis ergeben sich zwei mögliche Konstellationen: der – zumindest zum größten Teil – Entsprechung der Ziele von Nutzerinnen und Gestzgeber plus Verwaltung oder des Konfliktes zwischen den beiden Mandaten. Während der erste Fall in der Regel als problemlos angesehen wird – was er nicht wirklich ist, stellt der zweite das Muster für viele alltägliche Probleme der Sozialen Arbeit. Denn auch die Entsprechung der Ziele und Interessen beider Seiten ist kritisch zu hinterfragen. Denn die Motive dafür können auf Seiten der Adressatinnen recht unterschiedlich ausfallen. Es ist etwas Anderes, ob Betroffene den Angeboten und Interventionen aus aufgeklärter Einsicht zustimmen, oder ob sie in diese aus vorauseilendem Gehorsam oder wegen ihrer vermeintlichen Alternativlosigkeit einstimmen. 

Die Komplexität der ohnehin schon komplexen Situation wird noch gesteigert, wenn man mit Silvia Staub-Bernasconi nicht von einem doppelten, sondern von einem Tripelmandat der Sozialen Arbeit ausgeht. Mandatar ist hier die Profession der Sozialen Arbeit. Der Begriff des „Mandats“ wird so zwar metaphorisch, aber sachlich ist ja richtig, dass von Seiten der Profession Standards und Ansprüche formuliert werden, denen sich die Sozialarbeitenden nur um den Preis der „Unprofessionalität“ entziehen können. Professionalität bedeutet für die Praxis, dass sie sich an der professionstypischen Wissenschaftlichkeit und Methodik (State-of-the-art) sowie den berufsethischen Standards orientiert. Das bedeutet, dass Sozialarbeitende die Erwartungen der staatlichen und der Nutzerseite im Blick auf die eigene professionelle Fachlichkeit hin zu reflektieren haben. Nun ergeben sich schon drei problematische Konstellationen: die Erwartungen der Nutzerinnen entsprechen nicht den professionellen Standards, die Erwartungen des Staates entsprechen nicht den professionellen Standards, die Erwartungen von Staat und Adressatinnen sind nicht kongruent (siehe „doppeltes Mandat“). 

Nun ist die Gemengelage noch einmal komplizierter: Das Nebeneinander öffentlicher und privater Institutionen der Sozialen Arbeit ist ein Erbe des 19. Jahrhunderts. Das Verhältnis zwischen ihnen wird bestimmt und legitimiert durch das Subsidiaritätsprinzip. Ohne hier in die Tiefe gehen zu wollen, ist ein zentrales Kennzeichen des Prinzips die Nachrangigkeit. In unserem Kontext: Seit dem 1961 verabschiedeten Bundessozialhilfe- und dem Jugendwohlfahrtsgesetz wurde der Vorrang von Einrichtungen in freier Trägerschaft festgeschrieben. Damit ist ein vierter Mandatar im Boot: Die Trägerinnen von Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Diese haben in der Regel ihre eigene Agenda. Das betrifft schon lange nicht mehr nur Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, daneben besteht ein kaum übersehbares Feld aus politisch und privatwirtschaftlich orientierten oder von bürgerinnenschaftlichen Initiativen, insbesondere im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Trägerinstitutionen sind Anstellungsträger. Allein daraus leitet sich ein spezifisches Interesse dieser Organisationen an der Beachtung oder Wahrung ihrer Ziele und Werte ab. Ob klassenlose Gesellschaft oder katholische Kirche, Sozialarbeitende müssen sich mit den Vorstellungen ihrer Trägerinnen auseinandersetzen – und in deren Perspektive sich bestenfalls mit ihnen identifizieren. 

Damit ist aus dem Tripel- ein Quadrupelmandat geworden. Die möglichen konfliktären Konstellationen liegen dann, wenn ich richtig gerechnet habe (was letztlich unbedeutend ist), bei 24. Die Zahl steigt nochmals, wenn – wie ich meine richtigerweise – davon auszugehen ist, dass auch die Sozialarbeitenden selbst Ansprüche an ihre Arbeit haben, die nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den anderen Ansprüchen ist. Dann wären wir bei einem Quindrupel, wobei ich es mir erspare, die Zahl der möglichen Konstellationen zu bestimmen. Kann das irgendwie regelhaft bearbeitet und gelöst werden? Wie bei allen rhetorischen Fragen ist die Antwort einfach: Nein! Und damit wären wir bei der ethisch relevanten Fragestellung. 

„Gibt es ein richtiges Leben im falschen?“, ließe sich mit Adorno fragen, und für Sozialarbeitende ist die – wiederum rhetorische – Frage schnell beantwortet: Natürlich nein! Aber das ist selbstverständlich zu adornid, denn Adorno kennt – zumindest in seinen theoretischen Arbeiten, weniger in seinen öffentlichen Vorträgen und Interviews – keinen Komparativ. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es in der Praxis Sozialer Arbeit keine „guten“ oder „schlechten“ Lösungen, sondern nur bessere oder schlechtere. Das ist für ideologisch oder glaubensmäßig gefestigte Personen natürlich misslich. Es riecht unabweisbar nach Kompromiss. 

In konkreten Fragen des sozialarbeiterischen Alltags gibt es also selten Situationen, die eine eindeutige Lösung zulassen. In der Regel wird es um Abwägungsprozesse gehen, bei denen es nicht um gut oder schlecht, sondern um besser oder schlechter geht. Deshalb haben solche Entscheidungen oft den Charakter von Kompromissen. Sie dürfen allerdings keine „faulen“ sein (Margalit). Auch wenn es keine Eindeutigkeit gibt, sind nicht alle Optionen gleichberechtigt. 

Ob in der Ethik überhaupt Kompromisse zulässig sind, ist umstritten. Denn ethischen Normen und Prinzipien wird meist eine kategorische Geltung zugesprochen. Wenn etwas kategorisch gilt, ist ein Kompromiss unmöglich. Allerdings trifft das nur für die Moralprinzipien selbst zu, aber nicht für ihre Anwendung. Konkrete Handlungskontexte erfordern Abwägungen, die nicht die Geltung der Prinzipien in Frage stellen, sondern erörtern, wie diese Prinzipien in konkreten Situationen zur Geltung gebracht werden können. Und dann geht es nicht mehr um Fragen der Ansprüche an sich und ihrer Legitimation, sondern darum, welche – und mit welchen Gründen – Alternativen anderen vorzuziehen sind. Insofern spricht viel für die Einübung in eine moralische und ethische Kasuistik – und weniger für die Deklaration irgendwelcher ethischer und moralischer (Grund-)Prinzipien der Sozialen Arbeit. Was gefragt ist, ist praktische und ethisch-moralische Urteilskraft. 


Hans-Ulrich Dallmann ist Professor für Ethik (sowie derzeit Dekan) am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen (www.hwg-lu.de).