22 Mrz

Risikogruppenstatusleugnung und Normalgruppenstatusbekräftigung während der COVID-19-Pandemie

Von Tim Kraft (Regensburg)

Beginnen möchte ich mit der Schilderung dreier Gespräche aus meinem persönlichen Nahfeld. Da sich so schnell so viel während eines laufenden Pandemiegeschehens ändert, sei angemerkt, dass sie in Bayern am Tag der Verkündung des Katastrophenfalls stattfanden, also am Dienstag 16. März:

  1. Der Vater der Philosophin Anna ist über 70 Jahre alt. Seit einer Woche versucht sie täglich, ihn am Telefon – selbstverständlich kommt sie nicht persönlich bei ihm vorbei, um ihn nicht unnötig einem Infektionsrisiko auszusetzen – davon zu überzeugen, dass er als Mitglied einer Risikogruppe seine Alltagskontakte mit anderen Menschen deutlich einschränken muss. Ihr Vater wischt das beiseite mit dem Argument, er möge zwar über 70 sein, habe aber noch nie im Leben eine Lungenkrankheit gehabt und habe generell ein starkes Immunsystem. Anna wirft ihm vor, irrational zu sein und die objektiven Tatsachen zu ignorieren.
  2. Der Philosoph Ben ist Diabetiker. Er weiß, dass Diabetikerinnen laut offizieller Listen eine Risikogruppe sind. Wann immer er vor der Frage steht, ob er zum Beispiel noch seltener einkaufen sollte oder ob er nicht beim privaten Umzug am Donnerstag helfen könne – Umzugshelfer seien bei der aktuellen Lage nicht wie geplant über die studentische Jobvermittlung zu bekommen, verschoben werden könne der Umzug wegen der Nachmieter nicht, zu dritt bekomme man das doch über die Bühne, die Situation sei zum Haareraufen – überlegt er sich folgendes: Es mag sein, dass Diabetikerinnen als Gruppe ein höheres Risiko haben, aber er sei doch mit 40 noch ein junger Diabetiker, er habe nach Maßgabe der Laborwerte seinen Blutzucker doch sehr gut im Griff, sei körperlich fit und überhaupt müsse doch zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes unterschieden werden, so dass die pauschale Aussage, Diabetikerinnen seien eine Risikogruppe doch gar keinen Sinn mache. Mit diesen Überlegungen wischt er alle Einwände, die Anna gegen seine Handlungsentscheidungen erhebt, beiseite. Eine vernünftige Risikoabschätzung erfordere Differenzierungen und seine eigene Risikoeinschätzung sei sehr wohl nachvollziehbar.
  3. Die Philosophiedoktorandin Carla ist jung, gesund, sportlich und begegnet in Freundeskreis und ihrer WG keinen Menschen, die über 60 sind oder einer bekannten Risikogruppe angehören. Ihre Großeltern und Eltern wohnen in einem weit entfernten Ort und sie kann ohne weiteres den physischen Kontakt mit ihnen für die nächsten Wochen aussetzen. Sie kauft wie sonst auch fast täglich ein, geht anschließend in ein Café und genießt den Frühlingsbeginn. Mit der Überlegung, sie sei in keiner Risikogruppe und würde im Fall einer Infektion auch niemanden in ihrem sozialen Umfeld gefährden, antwortet sie auf Annas Verwunderung über ihr sorgloses Verhalten.
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