25 Jul

Der Code of Ethics als ethisch-politischer Auftrag der Sozialen Arbeit

Von Gudrun Perko (FH Potsdam)


Das Zunehmen „extremer Rechter“ (als Sammelbegriff für verschiedene rechtsextremer Gruppen), auch in ihrem parteipolitischen Gewandt, aber auch Praxen rechtsorientierter Politikenbedrohen sozialarbeiterische Unterstützungsstrukturen. Um so mehr ist der Rekurs auf den Auftrag der Sozialen Arbeit als Menschenrechts- und Gerechtigkeitsprofession gefragt. Zur Stärkung des Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit muss hierbei auf den (inter)nationalen Code of Ethics der Sozialen Arbeit zurückgegriffen werden. In dem vorliegenden Beitrag werden die darin dargestellten Aufforderungen beispielhaft beschrieben und gefragt, inwiefern es dabei um eine ethisch-politisierte Soziale Arbeit geht.

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23 Jul

Kants rassistischer Rassenbegriff

Von Reza Mosayebi (Bochum)

Dass Kants Rassentheorie aus heutiger Sicht widerlegbar ist, bedarf kaum einer Erwähnung. Doch selbst in solcher Art Theorien finden sich Momente, bei denen es immer noch Sinn macht, auf ihren Dogmatismus und ihre Gefährlichkeit aufmerksam zu machen. Inzwischen zählt Kant (nicht Blumenbach) für viele Ideenhistoriker*innen als der Gründer der modernen, „wissenschaftlichen“ Theorie der Rasse. Und schon hier ist wichtig daran zu erinnern, dass es Kant war, der (z. B. im Gegensatz zu Montesquieu oder Buffon) aufgrund seiner Teleologie für die Permanenz der Rassen, nachdem sie einmal entstanden sind, argumentierte (VvRM 2:442; BBMR 8:105; ÜGTP 8:166). Für Kant war die Rasse ein unveränderliches Schicksal von Individuen.

Doch – wie so oft – steckt der Teufel im Detail. Kant war aus zwei zusammenhängenden Gründen gegen jede Rassenmischung: Nach seinem teleologischen Narrativ sollten die einzelnen niedrigeren und höheren Rassen erhalten bleiben, eine Vermischung der Rassen aber löse sie vollständig auf (damit unterscheidet sich Kants Konzeption der Rassenmischung von der One-Drop-Rule), und führe zu einer Degradierung höherer Rassen (ÜGTP 8:166–67; BBMR 8:104–05; Anth 7:320; s. weiter etwa Refl 1520 15:878). Kant ging nämlich davon aus, dass bei der Vermischung allein die rassischen Nachteile vererbbar sind. Nach seiner Auffassung war somit die Entstehung von und Zugehörigkeit zu einer Rasse nicht nur irreversibel, sondern es sei auch nicht gut gewesen, verschiedene Rassen durch Mischung „zusammen[zu]schmelz[en]“ (Anth 7:320).

Das hat eine, in der Literatur vernachlässigte, Kehrseite, nämlich Kants Argumente zugunsten der Mischung innerhalb der weißen Rasse (VvRM 2:430; ÜGTP 8:166–67). (Wohlgemerkt, Kant hat ein weites Verständnis der Weißheit, die zwischen Okzidentalischem und Orientalischem Schlag unterscheidet, somit nicht auf Europäer*innen – Kant gendert nicht! – beschränkt ist, s. etwa Refl 1520, 15:879.) Auch dies beruht hauptsächlich auf zwei wichtigen Gründen: Die Weißen sind für ihn die überlegene Rasse (VvRM 2:440; ÜGTB 8:174; PG 9:316) und ihre innerrassische Diversität sorgt für die „Mannigfaltigkeit der Charaktere“ (ÜGTP 8:166), die er als Zweck der Natur für den Fortschritt der Kultur betrachtet (KU 5:431; Päd 9:449).

Doch was ist die Moral dieser Geschichte für heute? Um die moderne Rassentheorie und deren Rolle für den Rassismus zu verstehen, ist eine genaue und offene Untersuchung von Kants Rassentheorie unabdingbar. Weiterhin: Wie und aus welchen Gründen eine Rassentheorie die Mischung von „Rassen“ auffasst, verrät viel über diese Theorie selbst. So birgt die sog. One-Drop-Rule eine essentialistische Konzeption der Rasse in sich, welche (in der Regel) die Reinheit einer Rasse verteidigt. Ferner ist Kants eigener Dogmatismus, unter anderem bezüglich der Übertragung ausschließlich schlechter Eigenschaften bei der Rassenmischung (etwa im Unterschied zu José Vasconcelos‘ Idee der Raza Cósmica, welche sich genau für die entgegengesetzte Richtung entscheidet, nämlich für die Akkumulation guter Eigenschaften in gemischten Rassen), mehr als überraschend. Kants teleologische Opposition zur Rassenmischung auf der einen und seine Befürwortung der Vermischung innerhalb der weißen Rasse auf der anderen Seite wollen letzten Endes die Frage klären, wer die wahren Akteure des kulturellen Fortschritts sind. In ihrer janusköpfigen Funktion diente „Rasse“ Kant dazu, in seiner Naturgeschichte zu erläutern, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen dort sind, wo sie (kulturell) jetzt – das ist in der Aufklärungszeit – sind, und in seiner Geschichtsphilosophie trägt der Begriff dazu bei zu klären, wie Menschen dorthin gelangen, wo sie sein sollten.

Noch interessanter sowohl für heutige Analysen des Rassismus als auch zugunsten antirassistischer Agenden scheint es mir zu sein, Kants Rassentheorie in Verbindung mit seiner Moralphilosophie im breiteren Sinne zu betrachten. Und zwar so, dass wir eine mögliche Voreingenommenheit (bias) für letztere beiseitelegen; das heißt, Kants Rassentheorie zusammen und auf gleicher Augenhöhe mit seiner Moraltheorie lesen. Hierbei beachte man, dass Kant alle seine drei Abhandlungen über Rasse, selbst die erste aus seiner vorkritischen Periode, bis Ende der 1790er Jahren mehrmals unverändert wiederveröffentlicht hat. Beachtet man diese Punkte, lässt sich (trotz dem Ignorieren und Leugnen vieler) noch einiges von Kants Rassentheorie lernen – nicht unbedingt lediglich, um ihn zu kritisieren (geschweige denn zu canceln).

23 Jul

Kants (selbst-)kritischer Universalismus

Von Conrad Mattli (Basel)

Aus gegebenem Anlass wird derzeit wieder gefragt: Was ist an Kant eigentlich noch aktuell, was nicht? Ohne Zweifel ist Kant unhaltbar geworden, wo wir den universalistischen Anspruch durch rassistische und kulturchauvinistische – kurz: partikularistische Inhalte widerlegt wissen. Sollte Kants Philosophie dadurch nicht insgesamt unhaltbar geworden sein? Nun, diese Philosophie besagt im Wesentlichen, dass die Frage, ob etwas der Fall ist, unendlich verschieden von der Frage ist, ob etwas der Fall sein soll. Und wer trotz Hegel nicht verlernt hat, derart zwischen Sein und Sollen (Nichtsein) zu unterscheiden, und den erwähnten Tatbestand einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sieht sich gezwungen, mit Kant zu urteilen, dass der rassistische und kulturchauvinistische Partikularismus schon zu Kants Zeiten nicht, ja niemals hätte sein sollen, dass er aber offenbar heute noch, wie zu Kants Zeiten, ein Faktum ist. Am Ende könnte sich die Aktualität der kantischen Denkart also, statt durch vermeintlich überzeitliche Inhalte dadurch erweisen, dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, Kant mit Kant zu kritisieren; dass die Methode der Kritik also das letzte Wort gegenüber dem eigenen Ausdrucksgehalt behalten darf – ja sogar muss, damit der universale Anspruch kein leeres Versprechen bleibt.

11 Jul

Habermas: Vom Rechtsradikalismus lernen

Von Walter Reese-Schäfer (Hamburg)


Die deliberative Demokratie, wie Habermas sie seit langem vertritt, hat zwei Voraussetzungen: Die Bereitschaft, in den öffentlichen Argumentationsprozessen auf die Argumente der anderen Seite einzugehen, und zum zweiten das staatsbürgerliche Engagement, also die politische Beteiligung. Habermas hat in seinen Analysen zum neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit aufgezeigt, wie der Wandel von den journalistisch kuratierten Medien zu den immer noch weitgehend kontrollfreien Plattformen diese zugrundeliegende Voraussetzung geschrumpft, zersetzt und in interne Echoräume der Selbstbestätigung regrediert hat. In seinem theoretischen Ansatz deckt sich das mit Entpolitisierungstendenzen, wie sie in der Medienforschung seit Langem beobachtet werden. Habermas bewegt sich hier, wie es ihm als Anregung gebendem Philosophen auch zukommt, weitgehend im Feld von allerersten Arbeitshypothesen, die er bislang nur einigermaßen erklären und ansatzweise plausibilisieren kann.

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Das heißt, er macht sich selbst Gegeneinwände und Einsprüche, die bei der ersten Lektüre zunächst einmal etwas irritierend wirken und aus der Gedankenspur bringen können. Das beginnt mit seinem Satz über Trump: „Trumps fatale Aufforderung hätte in der Wut der Bürger, die am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt haben, kaum das erwünschte Echo gefunden, wenn nicht die politischen Eliten seit Jahrzehnten die legitimen, von der Verfassung gewährleisteten Erwartungen eines erheblichen Teils ihrer Bürger enttäuscht hätten.“ (Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp: Berlin 2022, S. 17) Und er geht noch weiter: Die Grundrechtsordnung der Bürgerbeteiligung hat einen idealisierenden Überschuss, der von den wütenden Bürgern bei besonderen Gelegenheiten immer wieder einmal eingeklagt wird.

Rechtfertigt er hier den billigen Populismus? Gar den Trumpismus oder die Le Pennerie? Das wird er gewiss nicht meinen. Aber all dies, nämlich die finsteren Seiten der Zivilgesellschaft, haben einen Platz gefunden in seiner theoretischen Gesamtkonzeption, der bisher noch von niemandem beachtet wurde. Und zwar an einer ganz bestimmten Stelle: Dem Aufbringen, der Artikulation von Themen, die bisher vom politischen Diskurs vernachlässigt wurden, dann aber, wie Habermas es anstrebt, doch am Ende von einem auf staatsbürgerlichen Konsensen beruhenden deliberativen Prozesse abgearbeitet werden. Natürlich ist Habermas kein Populist, er versteht aber die wüsten Formen des Konflikts, die der Verfassungsstaat muss aushalten können, mit denen das politische System aber auch umgehen können muss, weil es sonst in Gefahr ist, seine Legitimation zu verlieren.

Ich will seinen differenzierten Blick auf den Neopopulismus, weil ich auch den fundamentalistischen Flügel der Habermasiasten überzeugen möchte (Habermas selbst versteht sich, wie alle wissen, als verfassungsrechtlich wohlinformierter Realist) an einigen Zitaten des Starnbergers festmachen, der uns einfachen Theoretikern in den Maschinenräumen der Wissenschaft, der Medien und der Politik doch immer wieder mal von seinem Olymp herab ein paar Dinge zu bedenken gibt, die wir mitunter nicht einmal zu denken gewagt haben. Im heutigen Frankreich wird der Barrikadenbau gegen rechts als „la politique du castor“ gekennzeichnet, nämlich als der Bau von Dämmen, wie es die Biber machen, die den Fluss des Deliberationsprozesses in Überschwemmungen treiben.

Dazu, und damit mir auch geglaubt wird, bringe ich die entscheidenden Zitate des Meisters: „Man kann beispielsweise den agonalen Charakter von Wahlkampagnen, den Kampf der Parteien oder die vielfältigen Protestformen sozialer Bewegungen erst richtig einordnen, wenn man sieht, dass der funktionale Beitrag der politischen Massenkommunikation zu einer insgesamt deliberativen Meinungs- und Willensbildung darin besteht, konkurrierende öffentliche Meinungen zu entscheidungsrelevanten Themen zu erzeugen.“ (Der neue Strukturwandel, S. 79). Funktionell ist das alles also zielführend, denn erst in den Beratungen der Institutionen, die sich an die zunächst einmal ziemlich wildwüchsige Meinungsartikulation anschließen, ist dann wieder Konsensorientierung vonnöten – andernfalls sind unsere „wie sich heute herausstellt, nicht besonders stabilen Demokratien“ (S. 109) dann allerdings in Gefahr.

Also für diese Strecke des Meinungsbildungsprozesses gilt: „Die informelle Kommunikation in der breiten Öffentlichkeit kann auch robuste Manifestationen oder wüste Formen des Konflikts aushalten, denn ihr Beitrag beschränkt sich auf die Mobilisierung der jeweils relevanten Themen, Informationen und Argumente, wohingegen Beschlüsse andernorts gefasst werden.“ (S. 79). Das wäre schön! Aber wenn Trump dann doch gewählt wird? Wenn der Rassemblement National, der jetzt gerade noch abgefangen werden konnte, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen doch die Mehrheit bekommt? Wenn die AfD doch den Ministerpräsidenten in einem Bundesland stellt? Irgendwie hat Habermas da oben in Starnberg ja recht, und auch hier unten in Hamburg besteht wenig Gefahr eines populistischen Sieges, aber in Thüringen, Sachsen, oder in Ungarn und der Slowakei? Gar im gelobten Land der Demokratie, in Frankreich?

Ja, und an diesem Punkt setzt Habermas noch eins drauf, und damit hat er mich endgültig aus der Fassung gebracht. Denn, wie wir alle wissen, lebt die deliberative Demokratie vom staatsbürgerlichen Engagement, von der Bereitschaft der Bürger, überhaupt sich zu beteiligen und durch ihre Beteiligung zu signalisieren, dass sie auch einer gegen sie gerichteten Mehrheitsentscheidung sich unterwerfen würden. Diese geht vielen Diagnosen zufolge zurück. Dazu erklärt der Olympier mit dem Bergblick aus Starnberg: „Und die Skepsis gegenüber der unter normalen Umständen bestehenden Bereitschaft der Bürger zur politischen Beteiligung müsste im Hinblick auf das Ausmaß an politischem Engagement überprüft werden, das uns heute im Zuge eines wachsenden Rechtsradikalismus überraschend vor Auge geführt wird.“ (S. 108) Genau: Die wollen sich ja politisch engagieren und ganz anders als den vielen Maoisten und DKPler aus meiner Studienzeit 1970-75, die eine Überwachung durch den Verfassungsschutz gescheut haben wie der Teufel das Weihwasser und dagegen permanent prozessierten, scheinen den heutigen Rechten unsere Geheimdienste vollkommen egal zu sein.

Trotzdem: Unsereins muss etwas schlucken. Habermas nennt in dem gerade angeführten Zitat doch irgendwie die wüsten Aktivisten des Populismus als, ja, Vorbild wäre wohl zu viel und im Kern falsch gesagt, also als, ich würde sagen Denkanstoß, dass mehr Staatsbürgerlichkeit möglich wäre. Er will uns erschüttern. Vermutlich hat er auch noch Recht. Man müsste dann allerdings auch die Themen nennen, die vermutlich den Ausschlag geben. Zum ersten ist es, in den USA wie in Europa, die massive Immigration. In den Augen der Bürger besonders wohl deren illegale Anteile. Also Donald Trumps Mauerpropaganda, und wohl auch das Erfolgsthema der französischen Rechten, sogar auch der neuen polnischen Mehrheit Donald Tusks, die keineswegs einwanderungsfreundlich ist, und natürlich die ungarische Position, die dort alle sozialdemokratischen Haltungen nachhaltig aus der Politik herausgefegt hat. Dann ist es die naiv russophile Friedensorientierung, die von den Grünen und Teilen der Sozialdemokratie nunmehr ganz nach rechts zur AfD in Deutschland und zum Rassemblement National in Frankreich übergesprungen ist. Schon bei George Orwell war zu lernen: Der Pazifist des letzten Krieges ist der Kriegstreiber des nächsten, denn Friedensorientierung ist immer kontextabhängig, also im Kern weder rechts noch links, auch wenn sie im Moment auf der radikalen Rechten ihren Ankerpunkt gefunden hat.

            All das, was ich hier vorgebracht habe, sind keine bloßen Randbemerkungen, keine Marginalien. Vielmehr geht es um ein Kernproblem der zivilgesellschaftlichen Theorie. Wenn, wie Habermas es vor allem in „Faktizität und Geltung“ ausbuchstabiert hat, die Bürgeraktivitäten der Zivilgesellschaft Grundlagen und Voraussetzungen der demokratischen Deliberation überhaupt erst bereitstellen, dann müssen wir alle überlegen: Wie gehen wir mit den unzivilen, den dunklen, den bösen Seiten des Bürgeraktivismus um, mit den fiesen, gemeinen, antisemitischen, ausländerfeindlichen, nicht rechtsstaatlichen Neigungen unserer Mitbürgerinnen, wie sie vor allem an den beiden Extremen des politischen Spektrums zu verorten sind? Die damalige Theorie der Zivilgesellschaft war allzu schiedlich-friedlich. Habermas ist mutig genug, die andere Seite in den Blick zu nehmen und das Thema direkt ins Visier zu nehmen, so wie es auch Emmanuel Macron und wohl auch der vielfach unterschätzte Olaf Scholz getan haben.

Was folgt: Jürgen Habermas hat uns einige Denk- und Deliberationsaufgaben gestellt, die, was die Einwanderungspolitik angeht, schon in den Äußerungen des Kanzlers Olaf Scholz („Abschieben im großen Stil“) und der Innenministerin Nancy Faeser angekommen sind, aber noch nicht in der politischen Praxis. In dem Punkt des Krieges bleibt die Unterstützung der Ukraine in ihrem Überlebenskampf unverbrüchlich, jedenfalls bis zum Wahltermin in den USA. Deliberation ist nicht nur positiv und wohlwollend, die Zivilgesellschaft kann auch ganz hässliche Ergebnisse hervorbringen. Ich glaube, das ist es, was Habermas uns vorsichtig vermitteln wollte.


Walter Reese-Schäfer ist emeritierter Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Im Campus-Verlag hat er ein Einführungsbuch zu Habermas veröffentlicht.

09 Jul

The Problem of Transcendental Freedom

Von Joe Saunders (Durham)

The limits of Kant’s philosophy are built right into his system. They play an important role, but ultimately cause serious problems. Freedom is a key instance of this.

Transcendental Idealism makes freedom possible for Kant. Appearances are not things-in-themselves. This allows Kant to maintain that our freedom is possible, no matter how dire things look for freedom in experience. Even if a scientist could completely predict our actions, that doesn’t matter, because our freedom is located (somehow) outside of space, time and experience.

With this, Kant manages to insulate our freedom from any threats from science or experience. That’s an ambitious and impressive move. But it also has its downsides, for it leaves freedom cut off from experience – a “great gulf” between the two.

This is especially problematic for Kant, as he sees freedom as crucially related to our moral practices. It’s what enables our moral agency, and gives us our distinctive moral status. But if freedom is cut off from experience, then we face serious problems as to how our freedom interacts with experience, and how we could have any knowledge of freedom in experience (not to mention what it means to think of freedom as timeless).

The limits of transcendental idealism make freedom possible, but in the end, cause serious practical problems for Kant.

09 Jul

Grenzen der kosmologischen Erkenntnis?

Von Brigitte Falkenburg (Dortmund)

Kant argumentiert in der Kritik der reinen Vernunft, dass sich die menschliche Vernunft beim Versuch, die Naturerkenntnis zu vervollständigen, in die kosmologische Antinomie verwickelt. Diese Antinomie entsteht nach ihm aus vier Fragen über das Universum: Hat die Welt einen Anfang in der Zeit und Grenzen im Raum? Besteht die Materie aus unteilbaren Substanzen? Gibt es Kausalität aus Freiheit oder nur kausale Naturvorgänge? Ist alles, was in der Welt geschieht, notwendig oder zufällig? Beim Versuch, Antworten auf diese kosmologischen Fragen zu finden, verwechselt man nach Kant Sinneserscheinungen mit Dingen an sich und verwickelt sich deshalb in Widersprüche. Kant betrachtete seine Antinomie als „Experiment der reinen Vernunft“ – ein Gedankenexperiment, das stringent beweist, dass wir nur Sinneserscheinungen erkennen können, aber keine Dinge an sich. Danach beschränkt sich jede objektive Erkenntnis auf die Erfahrungswelt, bleibt immer unvollständig, und die traditionellen metaphysischen Fragen nach den „letzten“ Ursachen der Welt und dem Sinn des Lebens sind unbeantwortbar.

Auch wenn Kant damit grundsätzlich recht hat, ist seine Argumentation aus heutiger Sicht unhaltbar: Sein „transzendentaler Idealismus“ ist keineswegs die einzig denkbare Alternative zu dem „transzendentalen Realismus“, den er widerlegen wollte – es sind andere (auch moderatere!) metaphysische Positionen denkbar, die weder auf dem philosophischen Rationalismus beruhen, den Kant kritisierte, noch auf Kants Erkenntnistheorie. Und: Seine Beweise der kosmologischen Antinomie gehen am modernen Verständnis der Beziehung zwischen Theorie und Experiment in der Physik und den anderen Naturwissenschaften vorbei. Physikalische Kosmologie sowie Atom-, Kern- und Elementarteilchenphysik sind seit Einstein, Bohr und Heisenberg widerspruchsfrei möglich. Dabei lassen sich alle Theorien der Physik allerdings nur partiell testen, ihre Erfahrungsbasis ist beschränkt und überall lauert das Induktionsproblem.

Dennoch ist es sinnvoll, gut bewährte Theorien für angenähert wahr zu halten, also einen wissenschaftlichen Realismus bezüglich der Natur „an sich“ zu vertreten – von der Physik über die Chemie, Biologie und Medizin bis zur Klimaforschung. Zwar gibt es hartnäckige Grenzen der Naturerkenntnis, aber sie sind anders gelagert als Kant sich dies vorgestellt hatte. Das ehrgeizige Ziel einer einheitlichen, umfassenden Theorie der Natur scheitert nicht an einer Antinomie der Naturerkenntnis, sondern an der Komplexität der Natur. So gelingt es in der Physik seit hundert Jahren nicht, Kosmologie und Quantentheorie zu vereinheitlichen, um die Welt im Großen und im Kleinen durch ein-und-dieselbe Theorie zu beschreiben. Kant bleibt hier vielleicht anregend, aber seine kosmologische Antinomie hilft nicht weiter.

02 Jul

Ethik als Ankerpunkt in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit

Von Thomas Schumacher (KSH München)


Sozialarbeitsschaffende sind sich einig, dass berufliches Handeln in der Sozialen Arbeit ethisches Wissen erfordert. Dazu sind gemeinhin zwei Bezugspunkte im Blick: zum einen die Erfahrung schwieriger Entscheidungssituationen, zum andern der Charakter Sozialer Arbeit als einer Hilfe von Menschen für Menschen. Wie ethisches Wissen im Beruf aber greift: ob in ein berufliches Verständnis eingewoben oder als Haltung individualisiert, ist eine offene Frage.

Das bedeutet aber auch: Das gesehene ethische Wissen ist entweder Teil der beruflichen Handlungsstrukturen, oder es rührt von den handelnden Personen her und ist deshalb nicht leicht zu erfassen. Hier soll deutlich werden, dass Ethik Sozialer Arbeit nur nützt, wenn sie in den beruflichen Strukturen sichtbar wird. Das bedeutet, dass sie zur beruflichen Konzeptarbeit gehört, und auch, dass der Sozialen Arbeit zuzurechnende ethische Merkmale in der Praxis der Praktiker*innen zu Kriterien werden.

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27 Jun

LehrGut. Für gute Lehre.

Von Anne Burkard (Göttingen), David Lauer (Kiel), David Löwenstein (Düsseldorf) und Almut v. Wedelstaedt (Bielefeld)


Es ist Zeit für ein neues Forum für den Austausch über Fragen und Methoden der akademischen Lehre im Fach Philosophie. Vor einigen Tagen startete LehrGut – der Blog für philosophische Hochschullehre. Und wir laden Sie und Euch – Lehrende und Studierende der Philosophie – herzlich dazu ein, mitzumachen!

Es ist ein vertrauter und plausibler Gedanke, dass zwischen der Kunst und Wissenschaft der Philosophie und ihrer Lehre ein engerer Zusammenhang besteht als etwa zwischen der Kunst und Wissenschaft der Medizin und ihrer Lehre. Es ist kein Zufall, dass die ersten institutionalisierten Stätten des Philosophierens, die unsere westliche Tradition kennt, die griechischen Schulen sind – die Akademie, das Lyzeum, die Stoa, der Garten. (Das Logo unseres Blogs soll daran erinnern.) Natürlich umschließt die lange Geschichte der Philosophie auch kanonische Figuren, die nicht gelehrt, sondern nur geschrieben haben. Aber für die meisten Philosophierenden von der Antike bis heute dürfte gelten, dass ihre Philosophie sich wesentlich zumindest auch in ihrer Lehre verwirklichte.

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25 Jun

Ein Makel in Kants Rechtsphilosophie

Von Dietmar Heidemann (Luxemburg)

Kant hatte großen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er war sogar ein Revolutionär und Umwälzer, nach Heine ein „große[r] Zerstörer“, der „an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“. All dies war Kant ohne Zweifel, aber, um wiederum Heine zu zitieren, nur im „Reiche der Gedanken“. In der politischen Realität seiner Zeit war Kant sicher kein Revolutionär, Umwälzer oder Zerstörer. Ganz im Gegenteil. Das aufklärerische Credo der Autonomie und Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs zur praktisch-moralischen Besserung des Menschen oder der Menschheit findet dort kaum Niederschlag, wo man es sich vor allem gewünscht hätte: im Recht der Bürgerinnen und Bürger auf aktiven politischen Widerstand gegen die Obrigkeit. Auch wenn Kant in seiner Auseinandersetzung mit Woellner durch sein öffentliches Schweigen in Religionsangelegenheiten einen zwischenzeitlichen passiven Widerstand gegenüber der Anordnung König Friedrich Wilhelm II. andeutet, hält er die aktive politische Gegenwehr von einzelnen oder Gruppen selbst in Situationen extremer Repression für grundsätzlich illegitim. Bei allen theoretischen Gründen, die man für Kants Zurückhaltung gegenüber dem Widerstandsrecht anführen mag, ist dies – neben anderen – doch ein bleibender Makel seiner Rechtsphilosophie. Hätte er dieses Recht mit Verve zugestanden, wäre vielleicht auch nicht der Diktator Putin im Programm der Kaliningrader Kant-Konferenz 2024 als Redner angekündigt worden.

25 Jun

Automatische Moralisierung des Menschengeschlechts?

Von Viktoria Bachmann (Kiel)

In den geschichtsphilosophischen Schriften blickt Kant vom Gipfel seiner kritischen Philosophie hinunter in die Niederungen der menschlichen Geschichte. Da die Vernunft ständig neue Zwecke setze, komme der Einzelne mit der Vervollkommnung seiner Anlagen nicht hinterher. Als Gattung hätten wir aber eine Chance: die ungesellige Geselligkeit (IaG, AA 08: 20f.). Dieser natürliche Antrieb erweckt in uns „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“ (ebd. 21). Bei einer geschickten politischen Nutzung dieser egoistischen Motive erhofft sich Kant langfristig eine moralische Besserung. Denn wenn „[…] die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegen einander [sind], dass keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren“ (ebd. 27), dann könnte aus einer Ansammlung von Egoisten quasi automatisch eine moralische Menschheit hervorgehen.

Diese Idee einer automatischen Moralisierung durch Legalität halte ich ethisch und anthropologisch für fragwürdig und angesichts des jüngsten Scheiterns einer Russlandpolitik des ‚Friedens durch Handel‘ auch politisch für gefährlich. Ein äußerlich eingedämmter Egoismus bleibt ein Egoismus. Sobald es vorteilhaft erscheint, entgrenzt er sich wieder. Die Illusion einer äußerlich induzierbaren Moral führt letztlich zu einer Vernachlässigung der ethischen Bildung der Individuen.