von Maria-Sibylla Lotter (Bochum)
Unsere Gegenwart durchzieht ein widersprüchliches
Verhältnis zur Wahrheit, an dem Nietzsche nicht ganz unschuldig ist. Wie der
Philosoph Bernard Williams in seiner Studie über Wahrheit und Wahrhaftigkeit diagnostiziert
hat, scheinen wir uns einerseits der Wahrheit höchst verpflichtet zu
fühlen[1] indem
wir in den Wissenschaften und der Politik eine „Schule des Verdachts“
kultivieren, wie es Nietzsche nannte (MA §1). Der Verdacht richtet sich weniger
gegen individuelle Lügen, als auf strukturell verankerte Täuschungen, Ideologien
und kulturell produzierten Schein aller Art. Man versucht verborgene Macht- und
Herrschaftsstrukturen hinter wissenschaftlichen Paradigmen, sozialen
Institutionen oder politischen Reformprogrammen zu entlarven. Andererseits
hat sich gleichzeitig mit dieser Forderung nach Entlarvung des biederen Scheins
ein ebenso grundlegendes Misstrauen gegen über der Wahrheit selbst entwickelt,
das sich ebenfalls auf Nietzsche berufen kann. Nietzsche hatte die Frage „Was
also ist Wahrheit?“ in seiner berühmten Schrift
Über Wahrheit und Lüge im Aussermoralischen Sinne bekanntlich so beantwortet:
„Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen […,] die
nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: Die
Wahrheiten sind Illusionen, über die man vergessen hat, dass sie welche sind
[…]“. Und später, in der (über die Rezeption Michel Foucaults) besonders
einflußreichen Genealogie der Moral, hatte er Erkenntnisse als Formen
der Überwältigung und Zurechtmachung im Dienste des „in allem Geschehen sich
abspielenden Macht-Willens“ (GM II, § 12) bezeichnet. Das legt die
Überlegung nahe, ob man nicht ehrlicherweise aufhören sollte, sich selbst
vorzuspiegeln, es ginge einem um die Tatsachen. Warum sollte man die wissenschaftliche
oder politische Auseinandersetzung dann nicht gleich als das behandeln, was sie
ist, nämlich einen Machtkampf, in dem Lügen miteinander konkurrieren? Tatsächlich
findet man heute in den Kulturwissenschaften nicht selten Personen, die beide
Haltungen gleichzeitig vertreten – das Entlarven von (oft recht schematischen)
Wahrheiten und den Unglauben an die Wahrheit. Bekanntlich beruft man sich auch
neuerdings in der Politik auf die Möglichkeit von „Alternative facts“ und scheint
damit Nietzsches Lehre aufzugreifen, daß es keine Wahrheit, sondern nur
Interpretationen im Dienste von Macht-Willen gebe. Sind Trumph und Putin hier
nicht die konsequentesten Schüler Nietzsches?
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