03 Jun

Konkretes zur Frage, warum ein Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gebraucht wird

Von Maria-Sibylla Lotter (Bochum)


Auf Praefaktisch.de sind zwei kritische Artikel zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit erschienen, die zeigen, dass Philosophen und Philosophinnen auch dann rein spekulativ arbeiten können, wenn sie es nicht mit Metaphysik, sondern Wissenschaftspolitik zu tun haben. Gibt es Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit? Bevor wir uns erneut in ideologische Scheingefechte begeben, möchte ich diese Frage ganz unspekulativ mit der Darstellung eines unserer aktuellen Fälle beantworten. Betroffen davon ist ausgerechnet der wohl unter deutschen Philosophen konsequenteste Verfechter der Wissenschaftsfreiheit Georg Meggle, der sich schon in den Achtzigern für eine freie Diskussion von Peter Singers Thesen eingesetzt und damals die Gesellschaft für Analytische Philosophie gegründet hatte, um die freie Diskussion auch heikler Themen zu ermöglichen.

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12 Dez

Mit Nietzsche gegen Nietzsche, oder Nietzsche über ehrliche und blauäugige Lügen

von Maria-Sibylla Lotter (Bochum)


Unsere Gegenwart durchzieht ein widersprüchliches Verhältnis zur Wahrheit, an dem Nietzsche nicht ganz unschuldig ist. Wie der Philosoph Bernard Williams in seiner Studie über Wahrheit und Wahrhaftigkeit diagnostiziert hat, scheinen wir uns einerseits der Wahrheit höchst verpflichtet zu fühlen[1] indem wir in den Wissenschaften und der Politik eine „Schule des Verdachts“ kultivieren, wie es Nietzsche nannte (MA §1). Der Verdacht richtet sich weniger gegen individuelle Lügen, als auf strukturell verankerte Täuschungen, Ideologien und kulturell produzierten Schein aller Art. Man versucht verborgene Macht- und Herrschaftsstrukturen hinter wissenschaftlichen Paradigmen, sozialen Institutionen oder politischen Reformprogrammen zu entlarven. Andererseits hat sich gleichzeitig mit dieser Forderung nach Entlarvung des biederen Scheins ein ebenso grundlegendes Misstrauen gegen über der Wahrheit selbst entwickelt, das sich ebenfalls auf Nietzsche berufen kann. Nietzsche hatte die Frage „Was also ist Wahrheit?“  in seiner berühmten Schrift Über Wahrheit und Lüge im Aussermoralischen Sinne bekanntlich so beantwortet: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen […,] die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, über die man vergessen hat, dass sie welche sind […]“. Und später, in der (über die Rezeption Michel Foucaults) besonders einflußreichen Genealogie der Moral, hatte er Erkenntnisse als Formen der Überwältigung und Zurechtmachung im Dienste des „in allem Geschehen sich abspielenden Macht-Willens“ (GM II, § 12) bezeichnet. Das legt die Überlegung nahe, ob man nicht ehrlicherweise aufhören sollte, sich selbst vorzuspiegeln, es ginge einem um die Tatsachen. Warum sollte man die wissenschaftliche oder politische Auseinandersetzung dann nicht gleich als das behandeln, was sie ist, nämlich einen Machtkampf, in dem Lügen miteinander konkurrieren? Tatsächlich findet man heute in den Kulturwissenschaften nicht selten Personen, die beide Haltungen gleichzeitig vertreten – das Entlarven von (oft recht schematischen) Wahrheiten und den Unglauben an die Wahrheit. Bekanntlich beruft man sich auch neuerdings in der Politik auf die Möglichkeit von „Alternative facts“ und scheint damit Nietzsches Lehre aufzugreifen, daß es keine Wahrheit, sondern nur Interpretationen im Dienste von Macht-Willen gebe. Sind Trumph und Putin hier nicht die konsequentesten Schüler Nietzsches?

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