14 Mai

Kants unzeitgemäßes Eherecht und seine zeitgemäßen Grundlagen

Von Martin Brecher (Mannheim)

Kants Überlegungen zu Sexualität und Ehe gehören zu den immer wieder Kopfschütteln hervorrufenden Teilen seiner praktischen Philosophie. Kants These der sexuellen Verdinglichung, der zufolge sich Akteure beim (nicht-ehelichen) Sex „zur Sache“ machen, und seine wunderlich wirkende Konzeption der Ehe als ein „auf dingliche Art persönliches Recht“ lösen schnell Befremden aus. Dabei fanden bereits nicht wenige der Zeitgenossen Kants diese Theoreme durchaus fragwürdig. Der erste Rezensent der kantischen Rechtslehre, der Göttinger Philosoph Friedrich Bouterwek, sprach in Bezug auf das „auf dingliche Art persönliche Recht“ etwa von einem „neue[n] Phänomen am juristischen Himmel“, betrachtete Kants Eherecht also als eine Sternschnuppe, als etwas bloß Transitorisches, das bald wieder verschwinden würde. In diesem Sinne wurden Kants Überlegungen bereits damals als etwas in gewisser Weise Unzeitgemäßes angesehen.

In jüngerer Zeit erfreuen sich Kants Überlegungen zu diesem Themenkomplex wieder eines größeren Interesses und dienen auch als Ausgangspunkt für neue Theoriebildung – wobei insbesondere Kants Verdinglichungsthese, die viele seiner zeitgenössischen Kritiker so befremdlich fanden, ein Grund ist, sich heute überhaupt mit Kants Sexualmoral zu beschäftigen. Doch Kants Behauptung, dass das Verdinglichungsproblem nur durch die monogame und lebenslange Ehe abwendbar sei – und dass die Ehepartner einander „auf dingliche Art“ besitzen müssten –, macht Kants Ansatz nur schwer anschlussfähig. Viele Interpret*innen, die versuchen, Kants Ehekonzeption einer für uns heutigen zeitgemäßen Deutung zuzuführen, unterschätzen meines Erachtens, wie wesentlich die genannten Merkmale für Kants Ehekonzeption sind und wie eng sie mit seiner Verdinglichungsdiagnose zusammenhängen. Dies legt nahe, direkt an den Grundlagen der kantischen Moral – an der Vorstellung unserer Autonomie und Würde als Vernunftwesen – anzusetzen und von dort aus zeitgemäße Antworten auf heutige Fragen zu entwickeln. Die Grundlagen der kantischen Moral nämlich sind alles andere als unzeitgemäß, sondern so ungemindert aktuell wie wichtig.

14 Mai

Kant and the “Cannibalism” of Sex

Von Matthew King (Bristol)

Kant makes the bizarre claim that “carnal enjoyment is cannibalistic in principle (even if not always in its effect)” (Kant 1999, 495 [6:359]). He then follows this with three examples, yet each refers only to some possible types or effects of the enjoyment, rather than something inherent to it. Kant implies that the gap does not matter though, for he thinks that all carnal enjoyment ultimately involves the same issue. He then explicates the “cannibalistic” issue as the making of ourselves, or parts of ourselves, into “a consumable thing (res fungibilis)”. He claims that if we imagined a contract for this it would be “contrary to law” (495 [6:360]), then presumably takes this to rule out the rightfulness of carnal enjoyment itself.

However, and even ignoring the surprising equation of this worry about carnal enjoyment with cannibalism, Kant’s concern is clearly incorrect. Carnal enjoyment does not principally turn ourselves, or parts of ourselves, into res fungibilis. This is because there is no trade of organs when we have sex and enjoy carnal pleasure. Instead, there is only the exchange of a service which involves our organs, but does not alienate or destroy them in principle. There is therefore no tension with contractual law and, if there were, Kant would then have to commit to the illegality of all contracted labour, since labour always involves the use of one or more of our organs as a part of a service. Kant is therefore simply wrong about the “cannibalism” of carnal enjoyment, at least in principle.

References

Kant, Immanuel. “The Metaphysics of Morals”. The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant: Practical Philosophy, translated and edited by Mary J. Gregor, Cambridge: Cambridge University Press, 1999c, pp. 353-603.

14 Mai

Kants (Beinahe-)Schluss vom Sein aufs Sollen

Von Elke Elisabeth Schmidt (Siegen)

Zu den überholten Elementen aus Kants praktischer Philosophie gehört neben Rassismus, Sexismus usw. der hier und da überraschend aufblitzende Versuch, moralische Forderungen aus der Natur abzuleiten. Aus der Annahme einer zweckmäßig eingerichteten Natur resultieren, anders als Kant meinte, aber keine normativen Implikationen (die von ihm selbst diskutierte Frage, ob die Rede von Zwecken in der Natur sinnvoll ist, klammere ich aus). So folgt beispielsweise, anders als Kant zu denken scheint (§ 7, Tugendlehre), allein aus der zweckmäßigen Einrichtung der Sexualorgane – hier liegen natürliche Strukturen vor, die grundsätzlich der Funktion der Fortpflanzung bzw. Arterhaltung dienen – nicht, dass sexuelle Handlungen ohne Fortpflanzungszweck verwerflich sind. Andernfalls läge eine Art Sein-Sollen-Fehlschluss vor; es ist auch nicht moralisch verwerflich, langsam zu gehen, nur weil wir schnell rennen können. Weder Masturbation noch Sex mit Verhütung noch homosexueller Sex dienen zwar der Arterhaltung. Doch sie zerstören diese Funktion auch nicht, und jedenfalls sind sie nicht deswegen verwerflich, weil es diese Funktion gibt. Sie wären nur dann verwerflich, wenn Fortpflanzung Pflicht wäre und sexuelle Handlungen ohne Fortpflanzungszweck die Fortpflanzung zu einem anderen Zeitpunkt prinzipiell ausschlössen. Doch kann man heute das eine tun und morgen das andere (Zwecke muss man nicht immer verfolgen), und außerdem ist es nicht Kants These, dass Fortpflanzung Pflicht ist (er sagt nur: Wenn man Sex haben will, dann so, dass er der Fortpflanzung dient). Eigentlich ist also nicht recht zu sehen, wo selbst für Kant das Problem liegen soll, wenn es darum geht, Sex bloß zum Spaß zu haben. (Und so ergänzt Kant seine Kritik am Sex wohl auch mit der von ihm geltend gemachten Instrumentalisierungsgefahr der, nota bene, eigenen Person. Im Hintergrund steht dabei seine berühmte Menschheitsformel – aber das ist ein anderes Thema.)

14 Mai

Kant über Consent

Von Larissa Wallner (Berlin)

Auch Kants Äußerungen über Sex in der Metaphysik der Sitten gehören zu den Theoriestücken, die uns heute unzeitgemäß erscheinen. „Geschlechtsgemeinschaft“ heißt es dort, sei „der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines Anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht.“ Kant verurteilt alle queeren Praktiken als unnatürliche „Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person.“ Allein der eheliche Sex verletzt aufgrund einer komplizierten Konstruktion niemandem in seinem Subjektstatus. Aktuell könnte der Gedanke sein, dass wenn „Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen“ sie einen Vertrag schließen, d. h. sich einigen müssen. Doch obwohl es Kant darum geht, sicherzustellen, dass niemand sich nur als Mittel gebraucht, ist der Vertragsschlusses nur deshalb notwendig, weil Kant einen Begriff von Sexualität voraussetzt, der gegenüber der historischen und heutigen Bedeutungsvielfalt von Sexualität sowie unserem Selbstverständnis als Kulturwesen, biologistisch und beschränkt erscheint: „[I]m Akt macht sich ein Mensch zur Sache“, weil er sich „dem Anderen hingibt“. Kants Lösung für ein Problem, das unter Voraussetzung eines agentiellen und reziproken Verständnisses von Sexualität erst gar nicht entstünde, erscheint zweitens aus heutiger Sicht abwegig und gegenüber Kants eigener Position widersprüchlich. Sie liegt in einer fingierten Neutralisierung, die dadurch zustande kommen soll, dass wenn zwei natürliche Personen in einer juristischen Person aufgehen, dem Ehepaar, beide den Partner und sich selbst als Mittel behandeln, sodass sie sich damit insgesamt je auch als Zweck begreifen. Es ist aber einerseits nicht einsichtig, warum der Verstoß gegen die Pflicht, sich nicht als Mittel zu gebrauchen dadurch aufgehoben werden kann, dass beide Eheleute sich verdinglichen. Andererseits scheint die Überlegung, dass es auf das Schicksal des Einzelnen nicht ankommt, wenn er Teil einer größeren Einheit ist, dem Würdeprinzip der Menschheitsformel zu widersprechen, die den Menschen „in jeder Person“ meint, auf die Kant zuvor die Ablehnung aller anderen sexuellen Praktiken außer des ehelichen Verkehrs eben als erwähnte „Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person“ stützt. Die von Kant gedachte, reziproke Zweck-Mittel-Einheit würde nämlich selbst dann gelten, wenn der eine den anderen ab und zu oder immer nur als Mittel gebrauchen würde. Dementgegen ist die Ehe heute kein Rechtsverhältnis, in dem sich die Eheleute wechselseitig gleich einer Sache besitzen. Drittens ist auch der Consent-Begriff der Gegenwart anspruchsvoller als derjenige, der sich aus Kants Überlegungen ergibt: Im Unterschied zum Eheversprechen wird Consent nicht ein für alle Mal und pauschal gegeben, sondern ist prozessual und kann jederzeit zurückgenommen werden. Schließlich ist Consent kein Vertrag unter der fingierten Bedingung der faktischen Gleichheit beider Partner, sondern eine kontextsensible, kommunikative Pflicht im „Gespräch der Geschlechter“ wie Manon Garcia in ihrem gleichnamigen Buch nahelegt.

29 Jun

Von schlechtem Sex zur patriarchalen Ehe? Überlegungen zu Fichtes Geschlechtertheorie in der Grundlage des Naturrechts (1796/7)

Von Esther Neuhann (Hamburg)


In seinem Werk Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre [GNR] schließt Johann Gottlieb Fichte von der vermeintlichen Tatsache, dass die Frau[1] beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr eine rein passive Rolle einnehme, auf die Notwendigkeit, dass sie bei der Eheschließung „alle ihre Rechte abtrete“[2]. Diese Argumentation funktioniert nun nicht schlicht so, dass die passive Rolle der Frau beim Sex in eine passive soziale Rolle übersetzt würde. Vielmehr meint Fichte, dass die passive sexuelle Rolle der Frau ihrer vernünftigen, aktiven Menschlichkeit erst einmal widerspricht. Dieser Widerspruch werde durch die patriarchale Ehe insofern gelöst, dass sich die Frau bei der Eheschließung aktiv für ihre Unterwerfung entscheide.

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21 Jan

Sexphilosophie

Von Anna Mense (Gießen)


Einleitung[1]

In diesem Text geht es darum, nachzuspüren, inwieweit erlebte Körperlichkeit sowie Aspekte des Sexuellen Teil philosophischer Praktiken sind oder sein können, die, insofern sie unbewusst bleiben, ihr epistemisches Potential nicht frei entfalten können. Ich möchte einerseits den Phänomenbereich Sexualitäten zum Anlass nehmen, um über philosophische Praktiken nachzudenken und ein Gespür dafür zu entwickeln wie Sexualitäten in philosophische Praktiken hineinwirken können. Andererseits möchte ich Aspekte des Sexuellen performativ erfassen, wenn ich letztlich der Frage nachgehe, wie eine philosophische Praxis aussehen könnte, die von ihrer Sexualität nicht absieht, sondern sie explizit macht und textuell gestaltet. Während der erste Teil des Textes verschiedene Weisen von Abwesenheiten des Sexuellen innerhalb philosophischer Praktiken reflektiert, offeriert der zweite Teil zunächst eine Reihe von Beschreibungen sexueller Aspekte innerhalb philosophischer Praktiken.  Der zweite Teil schließt mit einer Skizze dessen, was ich Sexphilosophie nenne.

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07 Nov

Was ist sexuelle Intimität?

 von Sascha Settegast (Trier)


Dass Sex eine ziemlich intime Angelegenheit sein kann, würde wohl kaum jemand bestreiten. Immerhin geben wir uns nur wenigen Menschen gegenüber auf diese Weise die Blöße, indem wir alle Hüllen fallen lassen und sie ganz an uns heranlassen. Intimität ist das Gegenteil von persönlicher Distanz. Sie entsteht, wo wir anderen gegenüber bestimmte Grenzen aufgeben und uns offenbaren, wie wir sind. Da Grenzziehungen auch immer dem Selbstschutz dienen, geht echte Intimität notgedrungen damit einher, dass wir uns angreifbar machen; sie ist ohne Bereitschaft zur eigenen Verletzlichkeit nicht zu haben. Intimität ist riskant und erfordert deshalb Vertrauen dem anderen gegenüber. Dies mag ein Grund sein, weshalb Intimität im Bereich des Sexuellen in der gesellschaftlichen Imagination wesentlich mit Liebesbeziehungen verbunden ist, als etwas, das im Rahmen einer festen und exklusiven Partnerschaft seinen natürlichen Ort hat.

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01 Okt

Können Menschen Liebe machen? Eine inklusive Perspektive auf Liebe, Freundschaft und Sex mit nichtmenschlichen Wesen

Von Janina Loh (Wien)

Vor einiger Zeit traf ich in einem Bus in Berlin auf eine alte Frau, die offenkundig ohne Begleitung war. Sie hatte eine kleine Wunde am Bein. Nachdem ich ihr vom Busfahrer ein Pflaster besorgt hatte, fragte ich sie, wohin sie wolle und ob ich ihr vielleicht behilflich sein könne. Die Antwort, die sie mir mit einem müden Lächeln gab, verblüffte mich: Ihr gehe es gut, bedankte sie sich, sie wolle nirgendwo hin. Sie fahre jeden Tag Bus, nur, um unter Leuten zu sein, denn sonst wäre sie ganz allein. Diese Begegnung liegt nun mehrere Jahre zurück, doch immer wieder kehre ich in Gedanken zu ihr zurück.

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26 Sep

Der Mythos von der sexuellen Überwältigung

von Almut Kristine von Wedelstaedt (Bielefeld)


Sex hat oft mit einem Kontrollverlust zu tun hat. Es fühlt sich manchmal so an, als würde man von sexueller Lust überwältigt, so dass man sich dieser nur ergeben kann. Das ist einerseits etwas, was Sex schön machen kann. Es ermöglicht einer unter Umständen, loszulassen, sich zu entspannen, alles andere zu vergessen, vielleicht auch sich im eigenen Körper ganz Zuhause zu fühlen. Es ist andererseits auch etwas, das Sex gefährlich machen kann. Wer die Kontrolle verliert, kann leichter verletzt werden, auf andere Arten verletzt werden, als jemand, der aufmerksam ist und alles im Blick hat. Nicht ohne Grund sind vermutlich manche der in diesem Zusammenhang genutzten Metaphern kriegerische („überwältigen“, „sich ergeben“).

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05 Sep

Pornographie und befreite Sexualität

von Anne Weber (Lübeck)


Pornographie, d.h. die graphische und literarische Darstellung menschlicher Sexualität im Dienste sexueller Erregung, ist so alt, wie die Menschheit selbst. Ob an Höhlenwänden, auf Bildern, VHS-Kassetten, im Internet oder mit virtual-reality-Brille, pornographische Artefakte sind zeiten-, länder- und kulturübergreifend präsent. Es ist zunächst auch jenseits ethischer oder pädagogischer bzw. rechtlicher Beurteilung des Phänomens deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass Pornographie einen wichtigen Beitrag zur (Selbst-)Beschreibung menschlicher Sexualität leistet (Sven Lewandoswki).

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