Das große Postdoc-Rennen oder: Wie wollen wir regeln, wer auf’s Siegertreppchen kommt?
von Christine Bratu (München)
Wenn wir kurz von den riesigen Privilegien absehen, die auch ein befristeter Job in der akademischen Philosophie mit sich bringt (etwa dass man für’s Philosophieren bezahlt wird; dem kontinuierlichen Austausch mit Studierenden und Kolleg*innen; den mehr oder weniger flexiblen Arbeitszeiten), fühlt sich das Postdoc-Leben mitunter wie ein großes Wettrennen an. Und zwar eines, dessen Siegertreppchen viel zu klein ist, um darauf dauerhaft für alle Beteiligten Platz zu schaffen. Ein Großteil der Läufer*innen wird also leer ausgehen – und alle wissen das. Das sorgt an sich schon für Stress, das haben Konkurrenzsituationen nun mal so an sich. Zudem erfolgt das große Postdoc- Rennen auch noch in einer Lebensphase, in der sich viele mehr Planungssicherheit wünschen, etwa weil sie selbst eine Familie gründen wollen oder sich um älter werdende Angehörige kümmern müssen. In solchen Situationen wäre es schon sehr hilfreich absehen zu können, ob man in zwei, drei Jahren noch in derselben Stadt leben oder einen Wohnungskredit abbezahlen können wird.
Dass sich DGPhil und GAP gemeinsam Gedanken dazu machen, wie man diese Situation verbessern könnte, gibt Grund zur Hoffnung. Denn mit ihrem Positionspapier zur nachhaltigen Nachwuchsförderung signalisieren diese beiden großen philosophischen Gesellschaften, dass nicht nur die Postdocs selbst die aktuelle Situation als problematisch empfinden. Konkret wird im Positionspapier vorgeschlagen, mehr unbefristete Stellen zu schaffen und diese auch für Personen zu öffnen, die nicht habilitiert sind. Ziel ist also, dass Siegertreppchen breiter zu machen, so dass letztlich mehr Personen darauf Platz finden. Neben der bereits genannten Signalwirkung ist dieser Vorschlag sicherlich auch inhaltlich sinnvoll. Denn durch mehr unbefristete Stellen könnten sich nicht nur mehr Postdocs früher aus ihrer prekären Situation befreien, zudem würde dies auch die Situation der Studierenden verbessern. Denn mit der Entfristung geht dem Positionspapier zufolge auf Dauer eine Erhöhung des Lehrdeputats einher sowie die Erlaubnis, Abschlussarbeiten zu betreuen. Mehr unbefristete Stellen hieße also auch mehr Seminare und potentielle BA-/MA-/Doktorarbeitsbetreuer*innen und dadurch ein besserer Betreuungsschlüssel.
Insofern: Top Vorschlag! Aber mir scheint, dass wir ihn noch um weitere Überlegungen ergänzen müssen. Denn die Situation für Postdocs ist ja nicht nur deswegen prekär, weil auf dem Siegertreppchen nicht genug Platz für alle ist, sondern weil das große Postdoc-Rennen für bestimmte Personen(gruppen) ein Hürdenlauf ist, während andere scheinbar auf eine weitgehend unverstellte Aschenbahn blicken. Offiziell ist Akademia natürlich eine strikte Meritokratie und Stellen werden ausschließlich nach dem Leistungsprinzip vergeben: Die unbefristete Stelle bekommt die Bewerber*in mit dem meisten philosophischen Sachverstand. Aber akademische Lebensläufe und Publikationslisten – d.h. diejenigen Indikatoren, die Berufungskommissionen oft zu Rate ziehen um herauszufinden, wer denn nun eigentlich wie viel Sachverstand hat – werden oft genug durch Faktoren beeinflusst, die mit philosophischem Sachverstand nichts zu tun haben. Um nur ein paar Beispiele zu nennen:
- Um zu einer Kooperation eingeladen zu werden (also etwa zu einem Vortrag bei einem Workshop oder im Institutskolloquium oder aber zur Mitwirkung an einem Sammelband) muss man den Organisator*innen bekannt sein. Wen keiner kennt, den lädt keiner ein. Deshalb braucht man gerade am Anfang einer akademischen Karriere entweder eine Unterstützer*in, die bereits Standing hat und für einen die Werbetrommel rührt, oder aber das Selbstbewusstsein, die eigene Arbeit selbstständig ins Gespräch zu bringen. D.h. um die ersten Einladungen zu bekommen, die dann im Weiteren eine akademische Karriere ins Rollen bringen können, braucht man nicht nur etwas Spannendes zu sagen, sondern zudem jemanden, der sich für einen einsetzt, oder die richtige Portion Rampensau.
- Auch wenn es immer heißt, dass bei Publikationslisten Qualität und nicht Masse zähle, ist es nach wie vor von Vorteil, wenn man kontinuierlich veröffentlicht. Hierfür sind nicht nur philosophische Kreativität und Fleiß notwendig, sondern auch eine wohlwollende Haltung den eigenen Texten gegenüber. Denn entgegen der verbreiteten Meinung, dass gerade Philosoph*innen mit sich selbst immer kritisch sein müssen, muss man auch dazu in der Lage sein, einen Text aus der Hand zu geben, wenn noch nicht jedes Detail ausbuchstabiert ist. Reicht man seine Aufsätze nämlich erst dann zur Begutachtung ein, wenn man jeden möglichen Einwand antizipiert und entkräftet hat, riskiert man, über Jahre mit denselben Dingen beschäftigt zu sein. Für die bestechende Publikationsliste braucht es also nicht nur philosophischen Sachverstand, sondern auch die Fähigkeit, die innere Kritiker*in einfach mal auf Stumm zu schalten.
- Wenn man Philosophie mit einem gewissen Qualitätsanspruch betreibt, erfordert sie eine Menge intellektueller Ausdauer und Konzentration. Die meisten von uns können beides besser an den Tag legen, wenn sie nicht zudem von anderen Verpflichtungen abgelenkt werden. Das schreiende Kleinkind, die demente Oma, die zwanzig Studierenden, die sich zur zusätzlichen Sprechstunde angemeldet haben – all diese Dinge helfen selten dabei, das eigene Argument sauber auszubuchstabieren oder eine dunkle Passage bei Kant richtig zu verstehen. Nicht alle, die Philosophie betreiben, werden gleichermaßen von solchen weiteren Verpflichtungen belastet, entweder weil sie Glück haben (und keine demente Oma oder aber eine nicht-demente Oma, die sich um das Kleinkind kümmert), oder aber weil sie besser darin sind, solche Aufgaben einfach von sich zu weisen (und also gar nicht erst eine zusätzliche Sprechstunde anbieten).
In die Indikatoren, über die wir philosophischen Sachverstand ermitteln, gehen also auch soziale Faktoren – wie akademische und persönliche Unterstützungsverhältnisse, Rampensau-Potential, Selbstbewusstsein und eine dicke Haut gegenüber anderweiten Verpflichtungen – ein. Damit ist die strikte Meritokratie schon ein Stück weit unterwandert, denn so etwas wie das Glück, eine renommierte Unterstützer*in zu haben, sollte man sicher nicht als Bestandteil philosophischen Sachverstands auffassen. Vor allem aber erfolgt diese Unterwanderung auf eine unfaire Art und Weise. Denn ohne jetzt in einen kruden Essentialismus verfallen oder mir ein Urteil über die Lebenswirklichkeit aller Frauen* und Männer anmaßen zu wollen, scheint es zumindest bei den genannten Faktoren einen gender-bias zu geben: Vor dem Hintergrund der nach wie vor herrschenden sozialen Normen wirken Frauen*, die aktiv die Förderung durch ihre Vorgesetzten einfordern oder ihre eigenen intellektuellen Leistungen hervorheben, sonderbar bis unsympathisch, während die gleichen Verhaltensweisen bei Männern selten als merkwürdig wahrgenommen werden. Auch gehen nach wie vor viele Personen davon aus, dass die Sorge um das reibungslose Miteinander (in der Familie wie auch am Institut) Frauensache sei, so dass von Frauen* oft mehr soziales Engagement erwartet wird. Diese Erwartungen zu erfüllen kostet Arbeitszeit, sie zu enttäuschen Sympathien. Und wie soll man als Frau* eigentlich trainieren, die innere Kritikerin auszuschalten und selbstbewusst mit der eigenen Arbeit umzugehen, wenn die aktuelle Zusammensetzung des Fachs einem kontinuierlich suggeriert, dass solche wie man selbst auf unbefristeten Stellen die große Ausnahme darstellen und man also extra-extra brillant sein muss in den eigenen Thesen und Argumenten?
Mir ist klar, dass Obiges nicht unumstritten bleiben wird. Aber genau diesen Streit (eigentlich natürlich lieber: diese Diskussion) möchte ich mit diesem Beitrag anzetteln – also die Diskussion um die Regeln, nach denen das große Postdoc-Rennen veranstaltet wird. Behandeln diese Regeln alle Beteiligten fair oder sind einige aufgrund ihrer vermeintlichen Gruppenzugehörigkeit strukturell benachteiligt? Eine solche Diskussion könnte letztlich zu der Einsicht führen, dass das Instrumentarium der Förderung von Postdocs mehr umfassen muss als nur mehr unbefristete Stellen, um wirklich nachhaltig zu sein. Glücklicherweise gibt es hierzu bereits Vorarbeiten. Ideen dazu, wie man Betreuungsverhältnisse fair gestalten oder Kooperationsmöglichkeiten fair vergeben und also insgesamt dazu beitragen kann, dass Studierende/Doktorand*innen/Post-Doktorand*innen faire Chancen haben, die Indikatoren für philosophischen Sachverstand zu entwickeln oder zu demonstrieren, finden sich bspw. im Good Practice Guide von SWIP Germany e.V.: http://swip-philosophinnen.org/good-practice-guide/
Die Diskussion darüber, wie wir aktuell philosophischen Sachverstand ermitteln, wer die Indikatoren dafür unter welchen Umständen erwerben oder präsentieren kann und wieso, erscheint mir notwendig und auch gar nicht im Widerspruch zu dem zu stehen, was im Positionspapier von DGPhil und GAP vorgeschlagen wird. Und die Frage nach den Regeln des Wettrennens aufzuwerfen scheint mir auch kein Fall von whataboutism zu sein. Denn wenn das Positionspapier vorschlägt, mehr unbefristete Stellen zu verteilen, schließt sich die Frage, wie denn die Verteilung im besten Fall aussehen sollte, ganz natürlich an. Oder anders ausgedrückt: Es wäre sicherlich keine echte Verbesserung der Situation für Postdocs, wenn zwar mehr unbefristete Stellen verteilt werden, aber nicht sichergestellt wurde, dass diese Verteilung auch fair abläuft.
Christine Bratu ist akademische Rätin auf Zeit (aka Postdoc) an der Fakultät für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Mitglied des Vorstands von SWIP Germany. Sie forscht hauptsächlich zu Fragen der politischen Philosophie, der feministischen Philosophie und der Moralpsychologie und schreibt gerade an ihrer Habilitation zu Selbstachtung, Achtung und Missachtung als Grundelementen sozialer Anerkennung.