Replik auf Breitenstein

von Dieter Schönecker (Siegen)


Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit wurde seit seiner Gründung im Februar dieses Jahres von durchaus gebildeten Menschen u. a. als (ich zitiere) tiefschwarz reaktionär, rechts, rechtsradikal und rassistisch bezeichnet, als Horde Ahnungsloser, als Gruppe alter weißer cis-Menschen mit Prof. Dr. vorm Namen und Angst vor Gendersternchen, als ein Netzwerk zur Rehabilitierung Hitlers, das neurechte Botschaften verbreite sowie riskante Desinformation, das dem Rechtspopulismus einen Nährboden akademischer Autorität biete und das zudem (in meiner Person) Antisemiten, Schwulenhasser und Rassisten verteidige.

Peggy Breitenstein fügt dieser Liste verleumderischer Attribute nun auf praefaktisch noch eines hinzu: Sie wirft dem Netzwerk – in vermessener Anspielung auf Adorno und unter falscher Verwendung des Jargonbegriffs ‒ einen „Jargon der Unsachlichkeit“  vor. Darunter versteht sie die Verwendung von (i) „kriegerischer Sprache und Metaphorik“, von (ii) „nicht-verifizierten Unterstellungen und Vermutungen“ und (iii) von „fehlenden Unterscheidungen zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungen“. Diesen Jargon macht sie fest an meiner Kritik eines Beitrags von Alexander Reutlinger. (Breitenstein kritisiert auch die Organisatoren einer Jenaer Tagung zur Wissenschaftsfreiheit. Da sie aber schreibt, sie wolle den Jargon der Unsachlichkeit „an einem konkreten Beispiel“ (m. H.) deutlich machen und es das Netzwerk zum Zeitpunkt der Tagung noch gar nicht gab, gehe ich darauf nicht ein.)

Betrachten wir die drei Elemente des angeblichen Jargons der Unsachlichkeit und Breitensteins Begründung etwas genauer. Ich beginne mit dem zweiten Element, also den ,nicht-verifizierten Unterstellungen und Vermutungen‘ (ii), deren sich das Netzwerk bediene. Breitenstein wirft dem Netzwerk vor, es habe „für die Behauptung, die Wissenschaftsfreiheit sei in Gefahr, belastbare empirische Daten bisher nicht erbracht.“ Was genau ,belastbare empirische Daten‘ sind, sagt sie nicht. Besonders anspruchsvoll scheint sie nicht zu sein: Für ihre eigene These, dass das Netzwerk sich des besagten Jargons schuldig mache, führt Breitenstein nämlich genau einen Beleg an ‒ eben meine Kritik an Reutlinger. Mit keinem Wort erwähnt sie, dass Mitglieder des Netzwerks (etwa hier) und auch das Netzwerk selbst sehr wohl eine Dokumentation nachweisbarer Fälle geliefert haben; und das sind wohlgemerkt nur die bekannten Fälle. In meinem Beitrag zu Reutlinger habe ich auf Auma, Klauk, Koopmans und Lucke hingewiesen und auf einiges mehr; dazu sagt Breitenstein kein Wort. Warum nicht? Und die Fälle reißen ja nicht ab: Der Ehrenpräsident der GAP, Georg Meggle, wollte in diesem Sommersemester in Salzburg ein Seminar zu Boykottstrategien – Pro & Contra geben (im Kern zur politischen Kampagne „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS)); das Rektorat verbot es ihm wegen angeblich antisemitischer Tendenzen. Kürzlich wurde bekannt, dass der Philosoph Hans Jürgen Wendel der AfD beigetreten ist; prompt hat Friedrich Stadler, wie Wendel Herausgeber der Moritz Schlick Gesamtausgabe, gemeinsam mit Martin Kusch vom Institut Wiener Kreis gefordert, diese Gesamtausgabe zu „reorganisieren“. Der Althistoriker Egon Flaig wurde im April zu einem Vortrag nach Osnabrück eingeladen, und er hielt ihn auch; aber AStA und Fachschaft forderten, die Veranstaltung abzusagen, weil Flaig rechts und Rassist wäre. Es ist in der Tat schwierig zu bestimmen, ab wann von einer Kultur des Cancelns gesprochen werden kann, und es ist auch alles andere als leicht, präzise Bestimmungen und Subsumtionen vorzunehmen. Aber die gebetsmühlenartig, zuletzt auch wieder vom Honneth-Nachfolger Stephan Lessenich vorgetragene hegemoniale Schutzbehauptung, es gebe überhaupt keine (akademische) Cancel Culture, ist genauso hintertrieben wie es die These wäre, an deutschen Universitäten gäbe es keinen Sexismus.

Breitenstein sagt es nicht explizit, aber die ,fehlende Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungen‘ als weiteres Element des Jargons der Unsachlichkeit (iii) macht sie wohl an meiner Inanspruchnahme von Art. 5.3 GG fest. Meine Replik auf Reutlingers Kernthese, das Netzwerk verwechsle fälschlicherweise legitime innerwissenschaftliche Kritik mit Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit, bestand u. a. darin, dass man legitime Kritik, deren Bedeutung selbstredend niemand in Abrede stellt, von rechtswidrigen Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit unterscheiden muss. Die Störung oder Verhinderung eines Vortrags ist nicht legitim, sondern eine eindeutig rechtswidrige Verletzung der Wissenschaftsfreiheit (nicht zu reden von strafrechtlich relevanten Beleidigungen, Verleumdungen, Morddrohungen usw.); nicht rechtswidrige, aber dennoch kritikwürdige Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit im Sinne der Millschen sozialen Tyrannei (wie etwa der des AfD-Mannes Tillschneider auf Maisha-Maureen Auma) sind damit noch gar nicht erfasst.

Breitenstein hält meinen Verweis auf Art. 5.3 für eine Strategie der Debattenverhinderung. Denn sowohl in der Rechtslehre wie auch in der Rechtssprechung müsse auch Art. 5.3 immer neu kommentiert und angewandt werden; und durch den Verweis auf den nur scheinbar eindeutigen Art. 5.3 würden Universitäten „zu Institutionen der Unmündigkeit, des privaten Vernunftgebrauchs und Gehorsams im Kantischen Sinne degradiert, in denen Selbstverwaltung, Mitgestaltung, demokratische Entscheidungsverfahren und überhaupt politische Urteilskraft keinen Platz haben“.

Nun ist es gewiss wahr und in der Tat eine Binsenwahrheit, dass Gesetze immer der Auslegung und Anwendung im Einzelfall bedürfen. Aber daraus folgt natürlich erstens nicht, dass es keine Grenzen diesseits der Auslegung gibt: Die Frage, ob die Tötung eines unschuldigen Passanten im Rahmen eines Autorennen durch die Berliner Innenstadt als Mord zu deuten sei, mag schwierig sein; dagegen ist die Frage, ob die Erschießung eines konkurrierenden Drogendealers durch die Mafia Mord ist, keineswegs offen. Und in diesem positivrechtlichen Sinne, der in seinem Kern aber eine vernunftrechtliche Grundlage hat, ist etwa die Frage, ob Personen wie Flaig oder Sarrazin zu Vorträgen unter Verweis auf Art. 5.3 eingeladen werden dürfen, keine offene; natürlich dürfen sie, und diese juristische Auslegung ist, so der Wissenschaftsrechtler Christian von Coelln, „juristisches Gemeingut“. Zweitens folgt aus diesem Befund wiederum nicht, dass man nicht darüber diskutieren könnte. Ich habe in meiner Replik gegen Reutlinger ausdrücklich betont, dass man natürlich philosophisch fragen darf, ob das Niederbrüllen eines Redners als Akt zivilen Ungehorsams vielleicht moralisch erlaubt oder sogar geboten sein könne; das ändert aber nichts daran, dass no-platforming rechtswidrig ist. Philosophen wie Meggle denken im Rahmen ihrer Wissenschaftsfreiheit darüber nach, ob Terrorismus legitim sein kann; aber das ändert nichts daran, dass er rechtswidrig ist. ,Platz‘ für den eigenen Vernunftgebrauch ist hier genug, auch wenn das Recht ihn einzäunt. Und das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit will diesen Platz ja gerade davor schützen, durch idiosynkratische Maßstäbe von Moral und Politik kleiner zu werden.

Das dritte Element des Jargons der Unsachlichkeit ist die Verwendung ,kriegerischer Sprache und Metaphorik‘ (i). Breitenstein moniert, dass ich von „Viel Feind, viel Ehr“ und von den „stumpfen Waffen“ Reutlingers gesprochen habe und damit eine, wie sie es nennt, „Freund-Feind-Dichotomie“ aufgerufen hätte. Abgesehen davon, dass dies m. E. eine Überempfindlichkeit an den Tag legt, wie man sie leider auch andernorts als Symptom der woken Hypermoral beobachten kann, vergisst sie dabei erstens, dass es dafür einen rhetorischen Hintergrund gab, den ich am Ende des Artikels deutlich mache: Reutlinger hat mir nach einer Tagung zur Wissenschaftsfreiheit den Handschlag verweigert und mich damit zum Feind erklärt, dem man symbolisch die Waffe zeigt. Insgesamt und auch eingedenk der eingangs zitierten Anfeindungen gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist es nicht mein Eindruck, dass die Kriegslust von denen ausgeht, die die Errungenschaften der Aufklärung verteidigen wollen. Zweitens gibt es Kontexte, in denen die Kriegsterminologie nicht unsachlich, sondern angebracht ist. Wer anderen Menschen das Recht streitig machen will, ihre Meinung frei zu äußern, verdient es, ein Feind der Freiheit genannt zu werden. Poppers berühmtes Werk heißt, wie es heißt und nicht etwa „Die offene Gesellschaft und ihre Kritiker“. Drittens denke ich in der Tat, dass wir uns auf dem Weg dahin befinden, wo die USA bereits sind: in einem Kulturkampf, wenn nicht Kulturkrieg. Viertens hat die Auseinandersetzung um die Wissenschaftsfreiheit wie überhaupt im größeren Zusammenhang der Streit um die Cancel Culture und die Identitätspolitik einen politischen Charakter, bei dem es nicht nur um Argumente geht, sondern um Macht und Einfluss. Das schließt aber jedenfalls von meiner Seite weder aus, immer und überall zum Gespräch bereit zu sein, noch schließt es selbstredend im unmittelbaren philosophischen Kontext aus (wie etwa hier auf praefaktisch), dass man sich dennoch mit Argumenten auseinandersetzt. Dabei darf man Argumente invalid und nicht triftig oder auch, wenn sie sehr leicht zu widerlegen sind, noch mehr als das, nämlich z. B. „schlecht“ nennen. Das gehört zum normalen Geschäft der Philosophie.


Dieter Schönecker ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Siegen. Zuletzt erschien von ihm „How white ist Kant’s race, after all?