Die Philosophie-Konzeption des späten Wittgenstein
Von Nicole Rathgeb (Bern)
Dem späten Wittgenstein zufolge ist die Philosophie „ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (PU § 109). Philosophische Probleme basieren auf sprachlich-begrifflichen Verwirrungen und werden gelöst oder aufgelöst, indem diese Verwirrungen beseitigt werden: indem wir uns einen Überblick darüber verschaffen, wie die für das jeweilige philosophische Problem relevanten sprachlichen Ausdrücke normalerweise verwendet werden. Als Beispiel kann das Problem des Fremdpsychischen herangezogen werden: Es scheint, als hätten wir nur zu unserem eigenen Innenleben einen direkten Zugang und nähmen von anderen Personen unmittelbar nur ihr Verhalten wahr. Können wir dann überhaupt mit Sicherheit wissen, welche Überzeugungen, Absichten und Wünsche andere Personen haben, ob sie z.B. gerade Schmerzen haben oder sich langweilen – oder ob sie überhaupt einen Geist bzw. ein Bewusstsein besitzen?
Solche Erwägungen verführen uns leicht zu einer Idee, die von Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen wie folgt ausgedrückt und sogleich wieder verworfen wird:
In wiefern sind nun meine Empfindungen privat? – Nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten. – Das ist in einer Weise falsch, in einer andern unsinnig. Wenn wir das Wort »wissen« gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (und wie sollen wir es denn gebrauchen!) dann wissen es Andre sehr häufig, wenn ich Schmerzen habe. – Ja, aber doch nicht mit der Sicherheit, mit der ich selbst es weiß! – Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im Spaß) ich wisse, daß ich Schmerzen habe. Was soll es denn heißen – außer etwa, daß ich Schmerzen habe?
Man kann nicht sagen, die Andern lernen meine Empfindungen nur durch mein Benehmen, – denn von mir kann man nicht sagen, ich lernte sie. Ich habe sie.
Das ist richtig: es hat Sinn, von Andern zu sagen, sie seien im Zweifel darüber, ob ich Schmerzen habe, aber nicht, es von mir selbst zu sagen.
PU § 246; siehe auch PU § 303
Wittgenstein meint, wenn wir das Wort „wissen“ so gebrauchen, wie wir es normalerweise gebrauchen, dann wissen wir häufig, dass andere Leute Schmerzen haben. Das stimmt: Nehmen wir an, ich sitze in einem Seminar und bemerkte, dass eine Kommilitonin wiederholt die Augen zusammenkneift und sich die Schläfen massiert. Ich vermute deshalb, dass sie Kopfschmerzen hat. In der Pause spreche ich sie darauf an, und sie bestätigt es. Jetzt weiß ich, dass sie Kopfschmerzen hat.[1] Werde ich nach dem Kurs von jemand anderem gefragt, ob es der Kommilitonin nicht gut geht, wäre es falsch, wenn ich antworten würde: „Ich vermute, sie hat Kopfschmerzen“, da es sich eben zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um eine Vermutung handelt. Wenn ich die fragende Person darüber informiere, dass die Kommilitonin Kopfschmerzen hat, könnte nachgehakt werden: „Woher weißt dudas?“, und darauf würde ich entgegnen: „Weil sie es mir in der Pause des Seminars gesagt hat“.
Gegen diese Argumentation könnte man Verschiedenes einwenden. Einerseits könnte man das Argument vorbringen, das oben von Wittgenstein selbst angesprochen wird: Aber ist das Wissen, über das wir in Bezug auf unser eigenes Innenleben verfügen, nicht dennoch sicherer als unser Wissen in Bezug auf das Innenleben anderer?Dazu meint Wittgenstein, es entspreche gar nicht der gewöhnlichen Verwendung von „wissen“, über uns selbst zu sagen, dass wir wissen, dass wir gerade Schmerzen haben. Wissen darüber, dass eine Person S Schmerzen hat, schreiben wir normalerweise nur anderen Personen als S zu, die dieses Wissen auf der Grundlage des Verhaltens von S erlangen (eben z.B. auf der Grundlage davon, dass S ihnen sagt, dass sie Schmerzen hat). Deshalb ist es auch irreführend, zu sagen, dass andere Personen „nur“ das Benehmen von S als Evidenz dafür haben, ob sie Schmerzen hat oder nicht. Denn diese Wortwahl suggeriert, dass es prinzipiell auch eine andere, bessere oder zuverlässigere Quelle von Wissen darüber gibt, ob S Schmerzen hat, zu welcher andere Personen als S aber keinen Zugang haben (z.B. Introspektion), und das trifft ja eben nicht zu, wenn Wittgenstein recht hat und wir in Bezug auf eigene Schmerzen gar nicht sagen können, dass wir Wissen darüber besitzen. Da ich in diesem Blogbeitrag den Fokus auf methodologische Aspekte legen möchte, breche ich hier die Diskussion zum Thema Selbstwissen ab, aber natürlich gäbe es dazu noch viel zu sagen (vgl. z.B. Wright 1998), und was Wittgenstein zu diesem Thema sagt, ist auch alles andere als unkontrovers.
Ein weiteres Cluster von naheliegenden Einwänden gegen Wittgensteins Argumentation in PU § 246 ist methodologischer Natur: Wieso sollte daraus, dass wir normalerweise so sprechen, als wüssten wir häufig, dass anderen Leute Schmerzen haben, folgen, dass wir tatsächlich häufig über solches Wissen verfügen? In alltäglichen Kontexten mögen wir es nicht so genau nehmen, aber streng genommen können wir vielleicht tatsächlich nie wissen, ob eine andere Person Schmerzen hat oder nicht. Und sollten wir nicht besser auf der Grundlage dessen, ob solches Wissen möglich ist, entscheiden, wie wir (in Zukunft) sprechen wollen, statt aus unserem bisherigen Sprachgebrauch dubiose Schlüsse darauf zu ziehen, wie es sich mit unserem Wissen über das Fremdpsychische tatsächlich verhält? Diese Überlegungen beruhen auf einem Missverständnis von Wittgensteins Methode. Wittgenstein schließt nicht von „Wir sprechen normalerweise so, als besäßen wir Wissen über Fremdpsychisches“ auf „Wir besitzen tatsächlich Wissen über Fremdpsychisches“. Sondern er besinnt sich darauf, wie wir das Wort „wissen“ normalerweise verwenden, und macht dann geltend, dass wir sehr oft über Wissen in dem Sinn, der durch diese gewöhnliche Verwendungsweise festgelegt wird, in Bezug auf Fremdpsychisches verfügen. Zu den für die Bedeutung von „wissen“ relevanten Aspekten unseres gewöhnlichen Sprachgebrauchs gehören dabei unter anderem (a) typische Situationen, in denen wir jemandem Wissen (und spezifisch Wissen über Fremdpsychisches) zuschreiben oder absprechen, (b) Umstände, unter welchen wir zum Schluss kommen, dass wir oder andere mit einer früheren Zuschreibung von Wissen falsch gelegen haben, und (c) die Art und Weise, wie wir Behauptungen darüber, dass jemand etwas weiß oder nicht weiß, begründen.
Etwas ausführlicher (aber dafür weiter entfernt von Wittgensteins eigener Präsentationsweise des Arguments) können wir den relevanten Gedankengang auch wie folgt wiedergeben:
- Unser gewöhnliche Gebrauch des Ausdrucks „wissen“ unterliegt gewissen Regeln. Zum Beispiel der Regel, dass wir, wenn uns eine andere Person aufrichtig mitteilt, dass sie Schmerzen hat, und wir ihr glauben, wissen, dass diese Person Schmerzen hat.
- Was es bedeutet, zu wissen, dass eine andere Person Schmerzen hat, wird von sprachlichen Regeln wie der in (1.) erwähnten festgelegt.
- Offensichtlich kommt es häufig vor, dass andere Personen uns aufrichtig mitteilen, dass sie Schmerzen haben, und wir diesen Personen glauben. Nur schon deshalb (und ungeachtet der anderen Regeln, die für die Verwendung von „wissen“ gelten) kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir häufig wissen, dass andere Leute Schmerzen haben.
Der Ausgangspunkt von Wittgensteins Argument ist also nicht der Commonsense – verbreitete, „vor-philosophische“ Meinungen darüber, ob wir Wissen über Fremdpsychisches besitzen, sondern die „common usage“ – die Regeln, nach welchen das Wort „wissen“ normalerweise verwendet wird.
Aber vielleicht gibt es gute Gründe, „wissen“ in der Philosophie nicht auf die gewöhnliche Weise, sondern in einem anderen, anspruchsvolleren Sinn zu verwenden! Zu dieser Idee ist zweierlei zu sagen: Erstens, ein solcher Sinn müsste zuerst einmal bestimmt werden. Darauf spielt Wittgensteins Klammerbemerkung, „und wie sollen wir es denn gebrauchen!“, an. Wir können die Begriffe, die wir in einer philosophischen Abhandlung verwenden, natürlich beliebig umdefinieren, aber dann muss eine solche Umdefinition auch explizit erfolgen. Bloß zu sagen, dass wir den Begriff „wissen“ in einem anspruchsvolleren oder strengeren Sinn verwenden wollen, reicht dafür nicht aus. Zweitens, die skeptische Behauptung „Wir können kein Wissen über die geistigen Zustände anderer Personen besitzen“ ist gerade deshalb so interessant, weil sie so verstanden wird, dass sie von Wissen – im gewöhnlichen Sinn dieses Wortes – handelt. Wenn der Skeptizismus nur besagt, dass wir eine gewisse Sache nicht besitzen, über die wir auch nie gedacht haben, dass wir sie besitzen, dann ist er nicht mehr ansatzweise so brisant.
Wie aus den bisherigen Ausführungen bereits hervorgegangen ist, steht die Sprache nach Wittgenstein im Zentrum der Lösung oder Auflösung philosophischer Probleme. Sie steht allerdings, wie der eingangs zitierten Bemerkung zu entnehmen ist, auch im Zentrum der Entstehung dieser Probleme. Sie „verhext“ unseren Verstand, verursacht die sprachlich-begrifflichen Verwirrungen, mit denen Wittgenstein philosophische Probleme identifiziert. Grund für solche Verwirrungen können zum Beispiel Übereinstimmungen in unseren Ausdrucksformen sein, die über Unterschiede in ihren Bedeutungen hinwegtäuschen. So ist „meinen“ zum Beispiel ein Verb wie „schreiben“, „rennen“ oder „sprechen“, was uns zur Idee verleiten kann, es handle sich auch beim Meinen um eine Tätigkeit (vgl. PU § 693). Umgekehrt können auch Unterschiede in den Ausdrucksformen Übereinstimmungen in den Bedeutungen verbergen. So gibt es z.B. entgegen dem ersten Eindruck keinen signifikanten Unterschied zwischen den Fragen „Was sind Vorstellungen?“, „Was ist das Wesen von Vorstellungen?“ und „Wie wird das Wort ‚Vorstellung‘ gebraucht?“ (vgl. PU §§ 370f.). Und nicht zuletzt gibt es auch in die Sprache eingeschriebene Bilder (vgl. PU § 115), also idiomatisierte Metaphern, die zu Verwirrung Anlass geben können. Genau dies dürfte eine der Ursachen des oben besprochenen Problems des Fremdpsychischen sein: In Bezug auf mentale im Kontrast zu körperlichen Eigenschaften hat sich die Metapher des Inneren im Kontrast zum Äußeren etabliert, die sich in einer Vielzahl gebräuchlicher Ausdrücke manifestiert („Introspektion“, „jemandem hinter die Stirn sehen“, „eine Information aufnehmen“ usw.). Wenn wir diese Metapher wörtlich nehmen und annehmen, dass sich geistige Eigenschaften im Inneren einer Person befinden, dann liegt natürlich auch die Idee nahe, dass sie von außen nicht sichtbar sind und dass wir auf der Grundlage des Verhaltens einer Person immer nur mehr oder weniger zuverlässige Hypothesen darüber aufstellen können, was in ihrem Geist vor sich geht (vgl. PU §§ 422–427).
Literatur
Wittgenstein, Ludwig (2003 [1953]): Philosophische Untersuchungen [= PU], hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main (Suhrkamp).
Wright, Crispin (1998): „Self-knowledge: the Wittgensteinian Legacy“, Royal Institute of Philosophy Supplement 43, S. 101–122.
Weiterführende Literatur
Hacker, P.M.S (2019): „Knowledge of other minds: the inner and the outer“, Kap. 8 von ders.: Wittgenstein: Meaning and Mind, Teil 1 von Bd. 3 des Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, zweite, stark überarbeitete Auflage, Hoboken, NJ (Wiley Blackwell), S. 153–166.
Hanfling, Oswald (2000): Philosophy and Ordinary Language: The Bent and Genius of our Tongue, London (Routledge).
Rathgeb, Nicole (2020): „Die Philosophie-Konzeption des späten Wittgenstein“, Kap. 1 von dies.: Die Begriffsanalyse im 21. Jahrhundert: Eine Verteidigung gegen zeitgenössische Einwände, Paderborn (mentis), S. 15–78. (https://brill.com/view/title/54878?language=de)
[1] Ich setze hier voraus, dass die Äußerung der Kommilitonin aufrichtig ist. Aber auch wenn sie mich täuschen sollte, gilt das Nachfolgende: Nachdem sie mir gesagt hat, dass sie Kopfschmerzen hat, wäre es nicht mehr korrekt, wenn ich sagen würde: „Ich vermute, dass sie Kopfschmerzen hat.“
Nicole Rathgeb ist Postdoktorandin an der Universität Bern und arbeitet im Bereich der Philosophie des Geistes. In ihrer Dissertation hat sie sich mit philosophischer Methodologie auseinandergesetzt.