16 Nov

Über den Begriff der Schreibform bei Ludwig Wittgenstein

Von Marcus Döller (Erfurt)


In einem flüchtigen Notat aus seinen privaten Denktagebüchern gibt Wittgenstein Auskunft über den Begriff der „Schreibform“. Mit dem Begriff der „Schreibform“ gibt Wittgenstein Aufschluss über die Grundform seines Denkens. Die Weise philosophischen Denkens, die Wittgenstein vollzieht, gibt es nur im Schreiben und nur als Schreiben. Denken und Schreiben fallen in eines. Im Schreiben aber wird das Gedachte von innen her transformiert und konstituiert. Es gibt also keinen Gedanken vor dem Schreiben, der für den Vollzug des Denkens im Schreiben bedeutsam wäre, sondern erst im Schreiben als eine Vollzugsform des Denkens bringt sich der Gedanke selbst hervor. Wittgensteins Formulierung dafür ist, dass wir nur fähig sind aufzuschreiben, was „in der Schreibform in uns entsteht“. Damit muss zweierlei verstanden werden: erstens, was es heißt, etwas aufschreiben zu können und zweitens, was es heißt, dass Gedanken in uns entstehen: Was heißt es etwas zu können und was heißt es in diesem Können etwas in uns entstehen zu lassen? Beides, die Fähigkeit schreiben zu können und in der Form des Schreibens das Schreiben von innen her zu verändern, hängen konstitutiv zusammen.

Man glaubt oft – und ich selber verfalle oft in diesen Fehler – daß alles aufgeschrieben werden kann, was man denkt. In Wirklichkeit kann man nur das aufschreiben – d.h. ohne etwas blödes & unpassendes zu tun – was in der Schreibform in uns entsteht. Alles andere wirkt komisch & und gleichsam wie Schmutz Dreck. D.h. etwas was weggewischt gehörte.

Ludwig Wittgenstein, Private and Public Occasions. hg. v. James C. Klagge and Alfred Nordmann. 2003, S. 34.

Es ist ein Fehler zu denken, alles, was wir denken können, ließe sich auch wirklich aufschreiben. Selbst wenn sich alles, was wir wirklich denken können, auch in Wirklichkeit aufschreiben ließe, wäre es nur „etwas blödes & unpassendes“ – es wäre „gleichsam wie Schmutz“ oder wie Wittgenstein über das von ihm durchgestrichene Wort Schmutz notiert, als wollte er es verstärken: Dreck. Schmutz oder Dreck, so kommentiert Wittenstein zugleich darauf, gehört weggewischt. Wenn wir etwas schreiben, was wir denken können, dann schreiben wir nicht. Wir schrieben nur, wenn wir schreiben, was erst in der „Schreibform“ hervorgebracht wird. Nur, wenn die Schreibform es vermag etwas „in uns“ entstehen zu lassen, schreiben wir. Damit ist gesagt, dass wir nicht schon vor dem Schreiben zu schreiben fähig sein können, sondern erst im Prozess des Schreibens als Vollzugsgeschehen auf neue Weise zu schreiben vermögen. Wenn wir aufschreiben, was wir denken können, dann schreiben wir nicht und wir denken auch nicht schreibend, wir schreiben nur etwas, das sofort wieder suspendiert werden muss. In der Schreibform etwas in uns entstehen zu lassen heißt, im Schreiben zu denken und durch das Schreiben zu denken. Das besagt, dass Schreiben selbst nicht nur Gedanken einer bestimmten Form produziert, sondern zugleich, dass nur im Schreiben bestimmte Gedanken gedacht werden können, die erst in der Form des Schreibens sich einstellen und hervorbringen. Die Schreibform ist es, die erst die Gedanken in uns entstehen lässt. Die Schreibform bringt Gedanken in der Form des Schreibens hervor, das heißt es schreibend zu denken.

Denken ist nicht derart, dass wir Gedanken, die wir jenseits des Schreibens auch haben können, nur noch aufschreiben müssten. Die Denkform der Schreibform ist eine Form, die sich im Vollzug des Schreibens einstellt. Es gibt hier kein Denken vor oder nach dem Schreiben. Das Denken vollzieht sich als Schreiben. Das heißt die Schreibform als Denkform zu begreifen.

Wenn wir im Schreiben nur denken, was wir auch ohne das Schreiben zu denken fähig sind, dann ist dieses Schreiben die Hervorbringung von Schmutz und Dreck. Es ist nichts anderes als die Hervorbringung ihres eigenen Überschusses, den es zu eliminieren und zu suspendieren gilt. Schreiben, wenn es das Aufschreiben von Gedanken ist, die wir auch jenseits des Schreibens haben können, etwa im Sprechen oder im Nachdenken, das sich nicht in der Schrift materialisieren würde, ist bloßer Schmutz und Dreck.

Wittgenstein schreibt diese kurze Reflexion über die Schreibform an einer Stelle in seinen Denktagebüchern, in denen jeder seiner Sätze selbst mit seiner Überflüssigkeit konfrontiert ist. Er selbst behauptet von sich, er verfiele oft dem Fehler zu glauben, wir könnten alles aufschreiben, was wir denken. Unverkennbar ist die religiöse Sprache. Glauben und Verfallen sind religiöse Begriffe. Zu Glauben und im Glauben vom Glauben abzufallen oder gar durch den Glauben zu fallen und zu verfallen, das sind Begriffe, die in ihrer Entgegensetzung aufeinander bezogen sind. Schmutz und Dreck, das sind die Gegenbegriffe zu Reinheit und Purismus im Denken. Die Form des Denkens kann sich nur aus einem Begehren nach Reinheit des Gedachten als der Form des Denkens ergeben. Der Glaube daran wir könnten alles, was wir denken können auch wirklich schreiben, ist Abfall vom Glauben und Verfall im Glauben. Abfall ist Schmutz und Dreck. Abfall ist das Verfallensein im Glauben daran, alles, was wir denken können, auch schreiben zu können.

Die Schreibform ist nur dann eine Form des Denkens, wenn sie in uns etwas entstehen lässt. Schreibform ist Denkform, wenn im Vollzug des Schreibens Züge im Denken klar werden, die wir jenseits des Schreibens nie erfahren und ausdrücken könnten. Schreiben ist eine Form des Denkens, weil es Denken ist, wenn es in der Schreibform die Form des Denkens erzeugt, hervorbringt und produziert. Die Erzeugung, Hervorbringung und Produktion des Denkens im Schreiben aber ist immer intern auf seine Überflüssigkeit bezogen. Es ist nicht so, als ob wir das Verfallene und den Abfall vom neu in uns Entstehenden der Schreibform trennen könnten, wir selbst müssen immer wieder diesem Fehler verfallen. Wittgenstein unterstreicht nicht nur das „in uns entsteht“ er unterstreicht auch das „oft“ – das sich auf den Fehler und die Verfehlung des Schreibens bezieht. Der Fehler besteht in der Verfallenheit des Glaubens. Zu glauben, wir könnten alles, was wir fähig sind zu denken auch schreiben. Indem wir aber schreiben und im Schreiben etwas in uns entstehen lassen, was wir noch nie gedacht haben und was vielleicht noch nie gedacht worden ist, produzieren wir zugleich Schmutz und Dreck, der weggewischt gehört, wie Wittgenstein in seinen oft anzutreffenden Purismus schreibt, mit dem er das Denken zugleich rein zu halten versucht und es mit seiner Unreinheit konfrontiert, die es immer mitkonstituiert.

In der Schreibform etwas denken zu können heißt also zweierlei, so können wir uns durch die Abwehrhaltung Wittgensteins gegen den Abfall im Glauben, durch den allein es den Glauben geben kann, klar machen. Die Schreibform lässt in uns nur etwas Neues entstehen, weil sie in uns immer auch etwas wiederholt, was wir „weggewischt“, das heißt eliminiert und suspendiert wünschen. In der Schreibform kann in uns nur dann etwas Neues entstehen, wenn wir uns im selben Zug gegen das wenden, was wir lieber nie geschrieben hätten. Die Schreibform aber bringt immer Gedanken hervor, die „komisch & und gleichsam wie Schmutz Dreck“ wirken, von denen wir begehren, dass sie wieder ungeschrieben gemacht werden könnten. Mehr noch als das: Die Schreibform kann nur etwas Neues in uns hervorbringen – und nichts anderes heißt denken – weil wir in der Schreibform etwas in uns entstehen lassen, „was weggewischt gehörte“, so die Einsicht, die Wittgenstein selbst nur im Schreiben zu äußern vermag.

Die Perfidie des Schreibens von Gedanken, die wir auch jenseits des Schreibens haben könnten, liegt also in ihren Exzess, ihrem Überfluss, ihrem Abfall vom Glauben. Nur im Exzess, im Überfluss und im Abfall vom Glauben aber, können wir in der Schreibform in uns etwas hervorbringen, was noch nie gedacht worden ist.

Das flüchtige Notat Wittgensteins über die „Schreibform“ versucht sich über den transformativen Charakter des Schreibens als Denken zu vergewissern. In dieser Beschreibung der Denkform als Schreibform ist zweierlei in seiner gegenläufigen Spannung gesagt. Zum einen lässt sich nicht alles, was wir denken können, auch wirklich aufschreiben, nicht aber, weil wir unfähig wären es aufschreiben zu können, sondern weil es einen Überfluss darstellt, der „weggewischt gehört“ und damit auf seine Eliminierung hindrängt. Zum anderen lässt sich nur im Schreiben in uns etwas hervorbringen, was sich jenseits des Schreibens nicht denken lässt, darin besteht die transformative Produktivkraft dessen, was Wittgenstein als „Schreibform“ bezeichnet. Indem Wittgenstein das Geschriebene als die Schreibform aber vom bloß Gedachten jenseits der Schreibform zu unterscheiden versucht, trägt er den Überfluss selbst in die Schreibform ein. „Man glaubt oft – und ich selber verfalle oft diesen Fehler – daß alles aufgeschrieben werden kann, was man denkt.“ Der Glaube daran, alles aufschreiben zu können, was sich auch denken lässt, ist selbst Unglaube als Abfall vom Glauben. Nur durch diesen Unglauben als Abfall vom Glauben aber, konstituiert sich die Schreibform an einer Ununterscheidbarkeitsschwelle zwischen Überfluss des Geschriebenen und dem Geschriebenen, das im Schreiben den Gedanken in uns entstehen zu lassen vermag.

Der transformative Charakter der Schreibform als Denkform besteht demnach in einer gegenläufigen Doppelbewegung. Indem sich im Vollzug des Schreibens Gedanken hervorbringen, die wir nicht jenseits des Schreibens haben können, bringt der Vollzug des Schreibens Gedanken hervor, die uns mit ihrer eigenen Überschüssigkeit und Überflüssigkeit konfrontieren. Alles, was geschrieben worden ist, hätte auch nicht geschrieben werden müssen, wenn es ohne das Schreiben gedacht werden kann. Was aber einmal geschrieben ist, lässt sich auch nicht einfach wieder wegwischen, ob es gelesen wird oder nicht. Was niedergeschrieben ist, das ist nicht mehr der Vollzug des Schreibens, es dokumentiert einen Vollzug des Schreibens, in dem Schreiben und Denken einst in eins gefallen sind. Es ist die Vergangenheit des Schreibens als Denken. Die Einheit von Denken und Schreiben in dem, was Wittgenstein als Schreibform bezeichnet, ist deshalb immer mit ihrer Entzweiung konfrontiert. Alles, was in uns entsteht, vermag es im Vollzug des Schreibens Gedanken in einer bestimmten Form hervorzubringen. Die Form des Denkens und die Form des Schreibens sind eine Einheit in diesem Vollzug. Die Einheit des Vollzuges von Denken und Schreiben aber ist zugleich eine, die auf ihre innere Entzweiung verwiesen ist, weil im Schreiben Gedanken hervorgebracht werden, die sich gegen den Schreibvollzug wenden, ja ihn dementieren und unterlaufen. Deshalb ist der Schreibvollzug als Form des Denkens in seiner Form mit der eigenen Überschüssigkeit und Überflüssigkeit konfrontiert.

Der „Fehler“ zu glauben, alles was gedacht werden könne, müsse auch geschrieben werden können, ist kein vermeidbarer Fehler, er ist ein unvermeidbarer Fehler, der dem Vollzug „Schreibform“ selbst innewohnt. Die Prozessualität der Schreibform besteht nicht nur darin, dass in der Schreibform etwas „in uns entsteht“, sondern sie besteht zugleich darin, dass in der Schreibform etwas „in uns entsteht“, was seine eigene Dementierung und Suspension will – „was weggewischt gehört“ – wie Wittgenstein schreibt. Die Prozessualität der Schreibform ist aber genau mit dieser Gegenbewegung gekennzeichnet. Sie ermöglicht und begründet Gedanken, die wir nur in der Schreibform und durch die Schreibform haben können, zugleich aber konfrontiert sie diese Gedanken mit ihrer eigenen Überschüssigkeit und Überflüssigkeit. Schreibend zu denken und denkend zu schreiben heißt deshalb beides: es heißt im Schreiben Gedanken hervorzubringen und es heißt das Schreiben dementieren und suspendieren zu wollen. Die Prozessualität des Schreibens zu verstehen heißt aber beides zu denken. Die Kreation und die Destruktion als Effekt der Kreation. Der destruktive Drang, alles wieder wegwischen zu wollen, ist nicht allein ein Drang, der dem kreativen Trieb im Schreiben Gedanken hervorzubringen, entgegensteht und widerstreitet, er ist vielmehr der destruktive Drang der Dementierung und Suspendierung als Effekt der kreativen Produktion im Schreiben. Schreiben heißt deshalb Gedanken im Schreiben zu begründen, die sich der eignen Überschüssigkeit ausliefern können müssen.


Marcus Döller ist Doktorand der Philosophie am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit Hegels Theorie der Befreiung am Übergang von seiner Sozialtheorie zur Theorie des absoluten Geistes. Seine weiteren Forschungsschwerpunkte erstrecken sich neben Sozialphilosophie und politischer Philosophie auch auf Ontologie, Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie, ausgehend von Impulsen des Deutschen Idealismus und der Kritischen Theorie.

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