28 Okt

Wittgensteins Denken erkunden und entdecken

Von Wilhelm Vossenkuhl (München)


Vor 70 Jahren starb Ludwig Wittgenstein. Dies ist ein Anlass, aber noch kein Grund sich mit seinem Denken zu beschäftigen. Der wahre Grund ist unabhängig vom Todesdatum sein Denken. Dessen Bedeutung, Tiefgang und Reichweite wieder und neu zu entdecken, ist lohnend, wird aber von allerlei Vorurteilen und Stereotypen behindert. Ein Vorurteil ist die stereotype Trennung zwischen Frühwerk (Tractatus) und Spätwerk (Philosophische Untersuchungen), ein anderes ist die Unterstellung, er habe im Ansatz eine Theorie sprachlicher Bedeutung entwickelt, ohne sie im Einzelnen ausgeführt und vollendet zu haben. Das liege auch daran, dass seine Texte aphoristisch und unsystematisch seien.

Der Tractatus enthält schon den Gedanken, den wir üblicherweise den Philosophischen Untersuchungen zuschreiben. Es ist der Gedanke, dass der Gebrauch über die Bedeutung von Zeichen entscheidet. Der Tractatus ist bereits von dem Gedanken geleitet, dass der Bedeutung der Zeichen keine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, die so wie Naturgesetze wirksam wären. Wittgenstein ist von Anfang an davon überzeugt, dass sich die Bedeutung von Zeichen, Wörtern und Sätzen in ihrer Anwendung zeigt. „Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus“ (Tractatus 3.262). Und: „Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muß man auf den sinnvollen Gebrauch achten“ (3.326). In einer Klammer bemerkt er, dass in der Philosophie die Frage nach dem Gebrauch von Wörtern und Sätzen zu wertvollen Einsichten führe (6.211). Das Denkbare, Gesetzmäßige und Logische ist schon im Tractatus und nicht erst in den Philosophischen Untersuchungen vom Gebrauch der Zeichen bestimmt. Nur das, was die Zeichen in ihrem Gebrauch zeigen, wird sinnvoll gedacht und gesagt.

Zweifellos gibt es Unterschiede zwischen dem Tractatus, den Wittgenstein selbst immer „Logisch-philosophische Abhandlung“ nannte, und den Philosophischen Untersuchungen. Er gibt einiges auf, woran er zunächst glaubte. Er gibt den Glauben an die logische Form, die das Denken und die Wirklichkeit verbindet, auf, ebenso auch den Glauben an eine allgemeine Satzform und die Bedeutung der Logik. Es ist dennoch lohnend, sich die Einbettung der logischen Form in die ingeniöse Logik mit dem N-Operator genauer anzusehen. Mit dem Glauben an die logische Form gibt Wittgenstein auch den Glauben an die Bedeutung und die Möglichkeit philosophischer Theorien auf. Das wollen viele seiner Interpreten nicht wahrhaben. Sie glauben, dass sich nach dem Tractatus nur die Art und Form der Theorie der Sprache verändert habe. Selbst aus der therapeutischen Aufgabe, philosophische Probleme aufzulösen und dadurch zu lösen, wollen manche eine Theorie machen. Wittgenstein sagt zwar, dass der Philosoph eine Frage wie eine Krankheit behandelt (§255), er will deswegen die Philosophie aber nicht zu einer Psychiatrie machen.

Der Theorie-Glaube und die Suche nach theoretischen Grundlagen des Sprechens und Denkens steht dem Gedanken der Philosophischen Untersuchungen im Weg, dass ‚der Regel folgen‘ „eine Praxis“ ist (§202). Wittgenstein ist überzeugt, dass es keine Theorie gibt, die erklärt, was wir beim Sprechen tun. Der Gebrauch der Sprache ist vielmehr eine Praxis mit allen Konsequenzen. Die wichtigste ist, dass diese Praxis nicht theoretisch erklärt werden kann. Das Wort ‚Regel‘ verführt dazu, an eine allgemein gültige Struktur, an eine Gebrauchstheorie der Sprache zu glauben. Die gibt es aber nicht, zumindest gibt es sie für Wittgenstein nicht. Jeder Versuch, so eine Theorie zu entwickeln, führt – wie er glaubt – in die Irre. Schon eine einzelne Äußerung mit einer Regel zu deuten, führt in die Irre. Denn jeder Sprachgebrauch kann, wie Wittgenstein bemerkt, mit einer Regel in Übereinstimmung gebracht und mit einer Regel gedeutet werden. Diese Beliebigkeit des Deutens nennt er ein „Paradox“ (§201). Obwohl sich Wittgenstein bemüht, auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, haben ihm viele nicht geglaubt und alle möglichen Theorien des Sprachgebrauchs in seinem Namen entworfen. Namhafte Philosophen haben versucht, Wittgensteins Denken metaphysische Modelle wie den Realismus oder den Antirealismus des Regelfolgens zu unterstellen, als ob sein Denken erst dann wertvoll wäre, wenn ihm eines dieser Modelle zugrunde liegen würde. Auf diese Weise haben sie dessen Denken verunstaltet und verfehlt. Wittgensteins Denken wird steril und unfruchtbar, wenn es theoretisiert wird. Es verliert seine Dynamik und Offenheit.

Natürlich gibt es in vielen Sprachen neben dem Lexikon ihrer Wörter auch Regeln und eine dazu gehörende Grammatik. Es gibt sehr viele Regelmäßigkeiten beim Sprechen und Denken. Keine dieser Regelmäßigkeiten erklärt aber im Voraus das, was wir tatsächlich als nächstes sagen und denken werden. Im Nachhinein können wir mit bestimmten Regelmäßigkeiten das rationalisieren und deuten, was wir gesagt und gedacht haben. Dabei ist aber offen, ob es tatsächlich das ist, was wir wirklich sagen wollten und gedacht haben. Im Nachhinein können wir dies nicht zuverlässig entscheiden und im Vorhinein können wir es nicht wissen, oder doch?

Wir haben doch Absichten beim Sprechen. Wir wollen etwas sagen und die Absichten, so nehmen wir an, bestimmen das, was wir sagen. Wir wissen doch, welche Absichten wir beim Sprechen haben, also kennen wir auch die Bedeutung unserer Äußerungen oder etwa nicht? Daran müssen wir nicht zweifeln. Regeln sind dabei aber nicht im Spiel. Wittgenstein macht uns darauf aufmerksam, dass für die Absichten keine Regeln erforderlich sind. Das meint zumindest Wittgensteins alter ego, dessen Beiträge im Text immer in Anführungszeichen stehen. Er will uns auf diese Weise etwas zu bedenken geben, was nicht schon entschieden und vielleicht ganz anders ist.

Wittgenstein will uns in diesem Fall das merkwürdige Verhältnis zwischen Absichten und Äußerungen zu bedenken geben. Sein alter ego meint, eine Intention sei ein seelischer Vorgang, für den bestimmte Gepflogenheiten des Sprechens, also Regeln, nicht erforderlich seien (§205). Wenn für Intentionen keine Regeln nötig sind, sind auch deren Bedeutungen unabhängig von Regeln. Daraus können wir schließen, dass es von den Intentionen zu den Äußerungen auch keine transitive Übertragung von Regeln gibt. Zumindest ist eine solche Übertragung nicht nötig. Wenn wir eine Fremdsprache lernen, ist es anders, weil wir überlegen müssen, wie wir das, was wir sagen wollen, auch grammatikalisch richtig sagen können, um verstanden zu werden.      

Wittgenstein will den Sprachgebrauch nicht von Intentionen abhängig machen. Er schließt damit die Bestimmung der sprachlichen Bedeutung als Intentionalität, wie es einige Sprachphilosophen tun, aus. Dies hat mit Regeln nichts zu tun, sondern entspricht seiner Skepsis gegenüber dem kognitiven Charakter des Seelischen und damit auch der Intentionen. Dabei beschäftigt er sich intensiv mit dem Seelischen wie seine Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie zeigen. In vielen Passagen dieser von G.E.M. Anscombe und G.H. von Wright zusammengestellten und herausgegebenen Schrift geht es ihm darum zu zeigen, dass Denken kein Vorgang im Kopf ist, und dass die Bedeutung von Äußerungen nicht im Kopf zu finden sind. Das haben nach ihm auch andere bemerkt.

Wittgenstein will die Realität seelischer Vorgänge, von Gefühlen und inneren Bildern nicht bestreiten. Da es aber keine Kriterien für deren Bedeutung gibt, können sie auch nicht gewusst, sondern nur empfunden werden. Zahnschmerzen hat man, aber man weiß sie nicht, obwohl man weiß, ob man sie hat oder nicht hat. Das Ergebnis seiner Überlegungen zum Verhältnis zwischen privaten Empfindungen und der Bedeutung von Wörtern und sprachlichen Äußerungen können wir in den Philosophischen Untersuchungen nachlesen (§§243-249). Es will uns zunächst nicht einleuchten, dass man nicht weiß, dass man Zahnschmerzen hat. Wir sprechen so, als wüssten wir es. Schließlich wissen wir doch, ob wir lügen, wenn wir behaupten, wir hätten Zahnschmerzen, ohne welche zu haben. Lügen sei ein Sprachspiel, das wie jedes andere gelernt sein wolle, meint er (§249). Sprachspiele haben einen kognitiven Charakter. Beim Lügen kann man erwischt werden, bei seelischen Vorgängen nicht. Wer gut lügen kann, wird selten dabei erwischt.

Sprachspiele werden, wie Wittgenstein vielfach behauptet, durch zuschauen, wie andere sie spielen, erlernt (z.B. §§31, 340). Das Sprachspiel des Lügens ist nun aber nicht so leicht durch zuschauen erlernbar wie etwa Schach. Hin und wieder können wir jemandem ansehen, ob er oder sie lügt. Sicher ist das aber nicht. Für das Sprachspiel des Lügens können wir eine Regel wie ‚sage etwas, was nicht stimmt‘ oder ‚behaupte das Gegenteil dessen, was stimmt‘ annehmen, aber wie wir im Einzelfall diesen Regeln folgen, ist offen. In sein Notizbuch schrieb Wittgenstein: „Unsere Regeln lassen Hintertüren offen…, die Praxis muß für sich selbst sprechen“ (Ms 174, Notizbuch).  

Die Radikalität von Wittgensteins Praxis-Gedanken gilt es auszuloten, nicht nur in der Philosophie, sondern in den Sozialwissenschaften, wo immer es um das geht, was Menschen tun. Die menschliche Praxis folgt keiner Theorie und ist nicht theoretisierbar und mit keiner Theorie erklärbar.

Wittgenstein hat lediglich den Tractatus veröffentlicht, aber konzentriert an Texten gearbeitet, die er als Philosophische Untersuchungen veröffentlichen wollte. Diese Texte bestehen aus nachgelassenen Manuskripten, Typoskripten und Tagebuchnotizen. Sein Denken ist deswegen sein unveröffentlichter Nachlass. Die Rechte über den Nachlass liegen beim Trinity College in Cambridge. Faksimiles und Transskriptionen des Nachlasses liegen im Wittgenstein Archiv in Bergen, und werden dort von Alois Pichler und seinem Team wissenschaftlich bearbeitet und verwaltet. Das Konvolut dieser Texte ist über das Suchprogramm WiTTFind zugänglich, das Max Hadersbeck am Center for Information and Language Processing der Ludwig-Maximilians-Universität in München entwickelte. Die Herausgeber der Werke, die im Suhrkamp Verlag erscheinen, haben aus dem Nachlass die Texte zusammengestellt, die vielen als Referenz ihrer Arbeit mit Wittgenstein dienen. Daneben gibt es die von Michael Nedo herausgegebene Wiener Ausgabe der Schriften, die im Klostermann Verlag erscheinen und die Entwicklung von Wittgensteins Denken nachvollziehbar machen. Angesichts dieser Textlage ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Wittgensteins Denken eine Art Work in Progress ist, an dem wir selbst forschend teilhaben können.


Wilhelm Vossenkuhl ist emeritierter Professor für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität in München (vossenkuhl@lmu.de)