Selbstgestaltung und der Zufall, wer wir sind

Jan-Hendrik Heinrichs (Jülich/Aachen)


Es herrschen widersprüchliche moralische Haltungen gegenüber dem vor, was wir nur mithilfe des Zufalls sind oder vollbringen. Der durch glücklichen Zufall gelungenen Lebensrettung spenden wir mehr Lob als dem gleichermaßen energisch betriebenen, aber erfolglosen Rettungsversuch, obwohl doch Verhalten und Absichten erfolgreicher und gescheiterter Retter die gleichen sind, und unsere moralische Intuition sagt, gleiches Verhalten und gleiche Absichten seien moralisch gleich zu behandeln. Dass nicht nur unsere Handlungen, sondern auch unser Charakter moralisch unterschiedlich beurteilt wird, je nachdem, unter welchen Einflüssen er sich entwickelt hat, scheint mindestens ebenso schwer zu erklären und zu rechtfertigen zu sein. Und doch sind solche Unterscheidungen weit verbreitet.

Varianten moralischen Zufalls

Vorgeführt hat das Problem des moralischen Zufalls sehr prominent Thomas Nagel in einem debattenprägenden Aufsatz von 1976 [1]. Nagel schließt kategorisch aus, dass der Zufall darüber mitbestimmen dürfe, wie eine Person moralisch beurteilt wird. Dass dies im Alltag häufig doch geschieht, ist eben das Problem des moralischen Zufalls. Ein erheblicher Teil der nachfolgenden Debatte widmet sich der Frage, ob es entgegen Nagel vielleicht doch manchmal gerechtfertigt ist, dass der Zufall moralische Bewertungen beeinflusst [2]. Nagel führt vier unterschiedliche Formen sogenannten moralischen Zufalls vor:

Zunächst zeigt er, dass die Ergebnisse und die moralische Bewertung von Handlungen oft vom Zufall abhängen. Ein viel diskutiertes Beispiel ist der moralische Unterschied zwischen einem erfolgreichen Attentäter und einem, dessen Anschlagsversuch aufgrund einer zufälligen Störung fehlschlägt. Nur einem von beiden machen wir wegen eines Mordes Vorwürfe. Auch gewöhnliche körperliche Handlungen dürften auf diese Weise vom Zufall betroffen sein. Ein wenig vom Zufall hängt es sogar ab, ob wir beim nächsten Schritt stolpern und jemanden anrempeln. Dem stolpernden Rempler wird ein – oft entschuldbarer – Vorwurf gemacht, die gleichermaßen vorsichtige – oder unvorsichtige – Spaziergängerin muss sich nicht erst entschuldigen, sie bleibt ohne Vorwurf. Diese Art des moralischen Zufalls nennt man ergebnisbezogenen Zufall.

Die zweite Form moralischen Zufalls greift an den Zuständen und Eigenschaften an, die eine Person nur aufgrund ihrer Situation und Umstände hat. Wer schuldlos nur deshalb bleibt, weil sie nicht in Versuchung geführt wurde, wird anders behandelt als jemand, die mit denselben Charaktereigenschaften und Dispositionen in Versuchung geführt wird und jener erliegt. Nagel führt das dramatische Beispiel deutscher Emigranten vor, die nur wegen ihrer frühen Ausreise nach Argentinien nicht in Versuchung gerieten, sich dem NS-Regime anzuschließen, dies aber wohl getan hätten, wären sie in Deutschland verblieben. Sie werden moralisch anders bewertet als die daheim gebliebenen, obwohl sie dieselben Handlungsdisposition hatten. Weniger dramatisch und lebensnäher lässt sich dieser Effekt bei all den kleinen Übertretungen sehen, die Personen begehen, weil sie sich in der falschen Situation wiederfinden – oder sich selbst darein gebracht haben. Man spricht hier von situationsbezogenem Zufall.

Die dritte und hier wichtigste Form moralischen Zufalls – der konstitutive Zufall –, betrifft Eigenschaften, deren Erwerb nicht unter der Kontrolle der Person stand. Personen werden unterschiedlich bewertet, je nachdem, welche Eigenschaften und Dispositionen sie erworben haben. Dabei schauen wir oft nicht darauf, wie sie diese erworben haben: Schon David Hume beschreibt, dass wir beispielsweise Großzügigkeit immer loben und Geiz immer tadeln, egal aus welcher persönlichen Geschichte sie resultieren. Diese Ungleichbehandlung ist deshalb besonders interessant, weil niemand sich von Anfang an selbst erschafft. Vielmehr werden alle Personen zu erheblichem Teil von ihrer Biologie, Umwelt und Sozialisation geprägt. Kein noch so überlegter und willentlicher Schritt in der Selbstgestaltung findet ohne eine lange Geschichte vorangehender, fremdbestimmter und zufälliger Einflüsse statt. Und jene prägen eben auch die Entscheidung zum überlegten und willentlichen Schritt der Selbstgestaltung.

Die vierte, und wahrscheinlich umfassendste Form moralischen Zufalls beschreibt den Umstand, dass Handlung insgesamt durch vorhergehende, nicht von der handelnden Person beeinflusste Ereignisse bedingt sind. Davon dürften alle Handlungen betroffen sein, denn auch rein mentale Handlungen wie Urteilen oder Schlussfolgern hängen von Ereignissen – mindestens von der Genese von Wahrnehmungsinhalten ab, die nicht unter der Kontrolle der Person standen. Diese Form von Zufall nennt sich kausaler moralischer Zufall.

Moralischer Zufall und die Erklärung menschlichen Verhaltens

Wer wir sind, ist von situationsbezogenem und konstitutivem Zufall geprägt. Diese begegnen uns deshalb auch regelmäßig in Projekten der Erklärung menschlichen Verhaltens. Gerade in den modernen Kognitions- und Neurowissenschaften ist das Projekt der Erklärung von Handlungen und Zuständen durch vorherige Ursachen – und damit durch aus der Sicht der Person Zufälliges – weit verbreitet.

In den Kognitionswissenschaften ist der situationsbezogene Zufall insbesondere im Forschungsprogramm des Situationismus aufgefallen. Dort wurde untersucht, welchen Anteil unterschiedliche Einflussfaktoren auf menschliches Verhalten haben, und insbesondere, ob situationsbedingte Einflüsse oder Charaktereigenschaften dabei eine größere Rolle spielen. Vertreter des Situationismus haben mit einigen eindrucksvollen Experimenten zu zeigen versucht, dass Charaktereigenschaften vergleichsweise vernachlässigbar sind. Es sei der Zufall der Situation, der vornehmlich beeinflusst, wie wir handeln. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass moralische Vorwürfe oft ihr Ziel verfehlen. Warum einer Person für ihr Verhalten Vorwürfe machen, wenn dieses Verhalten ganz vorwiegend durch die Situation bestimmt war, und nicht durch den Charakter der Person [3].

Das neurowissenschaftliche Projekt der Handlungserklärung findet seine eindrucksvollsten Erfolge bei pathologischen Fällen, d. h. einerseits dem Versuch, zu erklären, warum Personen eine bestimmte psychische Erkrankung haben und andererseits ob und warum die Erkrankung bestimmte Verhaltensweisen und Eigenschaften produziert. So versucht man bestimmte Gedächtnisleistungen durch die Alzheimersche Erkrankung und diese durch Amyloid-Plaques zu erklären [4], bestimmte emotionale Zustände durch eine Depressionen und jene durch molekulare Effekte in den Neuronen und deren Synapsen[5]. In jedem Fall bemüht man sich, psychische Zustände und zum Teil die daraus resultierenden Handlungen durch ihre Ursachen zu erklären.

Pathologische Veränderungen werden in der Debatte als besonders gravierende Fälle moralischen Zufalls gehandelt [6]. Augenfällig wird das anhand von realen und konstruierten Beispielen, in denen das Verhalten von Personen sich unter Einfluss eines Tumors verändert. Neill Levy diskutiert einen konstruierten Fall, in dem ein Teenager im Heranwachsen aufgrund eines Tumors zu aggressivem und kriminellem Verhalten tendiert. Ihn, so der Gedanke bei Levy, würde man moralisch anders behandeln müssen als einen Altersgenossen, der ohne krankhafte Veränderung des Gehirns dieselben adoleszenten Verhaltensauffälligkeiten zeigt [7]. In einem noch dramatischeren, realen Fall entwickelte ein Mann unter Einfluss eines wachsenden Tumors kriminelle sexuelle Interessen und konnte nur nach Tumortherapie wieder mit seiner Familie leben [8]. Auch dieser Person würde man – so die Idee konstitutiven moralischen Zufalls – moralisch anders behandeln müssen als jemand, dessen ähnliche sexuelle Interessen aus nicht pathologischen Ursachen stammen.

In so einer Analyse gelten die neuralen Grundlagen des Mentalen aber durchweg als externe, nicht in der Einflusssphäre der handelnden Person stehende Einflussfaktoren, als Zufall. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie pathologisch sind oder nicht. Dass wir gleiches Verhalten aufgrund von pathologischen Veränderungen anders behandeln als solches auf der Basis nicht pathologischer Entwicklung, scheint nicht dadurch gerechtfertigt, dass eines von beiden der Person eher zuzurechnen wäre als das andere. Wir beurteilen Personen also aufgrund unterschiedlicher Zufälle in ihrer Entwicklung moralisch unterschiedlich.

Selbstgestaltung und moralischer Zufall

Diese unterschiedliche moralische Gewichtung des Zufalls findet sich auch jenseits pathologischer Fälle. Obzwar Hume konstatiert, dass wir Großzügigkeit immer loben und Geiz immer tadeln, machen wir in der moralischen Praxis einen Unterschied, wie Personen ihre Charakterzüge entwickelt haben. Jemanden, der seine Großzügigkeit in aktiver Selbstgestaltung erworben hat, loben wir mehr als jemanden, der aufgrund eines sonnigen Gemüts und eines Lebens im materiellen Überfluss großzügig ist. Unterschiedliches Lob für denselben Charakterzug setzt voraus, dass es einen moralisch relevanten Unterschied gibt zwischen einerseits den nur zufälligen oder fremdbestimmten und andererseits den der Person zuzurechnenden Einflussfaktoren darauf, wer wir sind.

Auch in dieser Hinsicht spielen übrigens die modernen Neuro- und Kognitionswissenschaften eine relevante Rolle. So wird versucht, auf Basis ihrer Ergebnisse Mittel zur Selbstgestaltung zur Verfügung zu stellen. Der sogenannten Neuropädagogik, den Interventionen der Neuropsychologie, und dem Neuroenhancement liegt der Gedanke zugrunde, mithilfe von Interventionen in die neuralen Grundlagen des Mentalen sei selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Persönlichkeit möglich.

Nicht nur gibt es also vermeintlich einen moralisch relevanten Unterschied zwischen zufälligen und der Person zurechenbaren Einflussfaktoren. Es ist durch die kontinuierliche Verwendung letzterer scheinbar auch möglich, mehr und mehr Anteile der eigenen Konstitution in die moralisch zurechenbare Einflusssphäre der Person zu rücken.

Jedoch sind, wie oben bereits festgestellt, alle noch so überlegten und willentlichen Schritte der Selbstgestaltung von einer langen Geschichte vorangehender fremdbestimmter und zufälliger Einflüsse abhängig und geprägt. Aus dieser Perspektive scheint es keinen Unterschied zu machen, ob man noch so gezielt und regelmäßig zu Techniken der Selbstgestaltung greift, denn am Anfang jeder individuellen Geschichte der Selbstgestaltung steht der nicht verfügbare Zufall, wer man ist. Auch hier – wie in pathologischen Fällen – beurteilen wir Personen mit denselben Eigenschaften aber unterschiedlichen Entwicklungspfaden moralisch unterschiedlich. Wir korrigieren also sowohl beim Einfluss pathologischer Veränderungen als auch bei Fällen aktiver Selbstgestaltung, welche Zufälle wir als moralisch berücksichtigenswert erachten und welche nicht. Der Zufall pathologischer Veränderungen und nicht der Zufall biologisch durchschnittlicher Adoleszenz gilt uns als entschuldigend, derjenige aktiver Selbstgestaltung und nicht derjenige besonderer Begabung als lobenswert.

Warum wir nur manchen Zufall würdig finden, zu bestimmen wer wir sind

Das ist verblüffend, weil dies gegenläufig zum moralischen Umgang mit ergebnisbezogenem moralischem Zufall ist. Dort orientiert sich die Bewertung einer Handlung oft am Ergebnis, ob es sich nun durch Zufall eingestellt hat oder unter der Kontrolle der Person stand. Weder der gescheiterte Seenotretter, dessen Rettungsring gebrochen ist, noch derjenige, der sich auf dem Weg zum Ertrinkenden in Fischernetzen verheddert hat, wird wegen der Lebensrettung gelobt. Victor Kumar hat vorgeführt, dass diese Orientierung eine gute funktionale Erklärung findet [9]. Ihm zufolge ist die Orientierung am realen Ergebnis schlicht effektiver, allein schon, weil der Erfolg eindeutiger zu messen ist als das Motiv.

Hinsichtlich des Zufalls, der bestimmt, wer wir sind, orientieren wir uns hingegen nicht einfach an den vorliegenden Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Vielmehr berücksichtigen wir verschiedene Formen der Entwicklung unseres Charakters unterschiedlich und differenzieren Arten des Zufalls.

Aber auch für diese Unterschiede gibt es eine naheliegende Erklärung. In unserer moralischen Praxis vermeiden wir überwiegend doppelte Belastungen und doppelte Bevorteilungen. Deshalb schreiben wir jenen Zufällen, die zusätzliches Leid für die Person bedeuten oder bedeutet haben – krankhafte Veränderungen, Härten in der Sozialisation, Auszehrung, Verlusterfahrungen – eher entschuldigenden Charakter zu und gesellen der bestehenden Härte nicht noch Vorwürfe hinzu. Zufälle, die eher einen Vorteil bedeutet haben – das besondere Talent, die privilegierte Position – hingegen mäßigen den zusätzlichen Vorteil des Lobs für das Erreichte. Den Zufall, der bestimmt, was uns gelingt, akzeptieren wir also anscheinend und preisen ihn in unserer moralischen Praxis ein. Den Zufall, wer wir sind, hingegen, unterwerfen wir selbst einer moralischen Zensur. Nur manchen Zufall halten wir für würdig, die moralische Bewertung unseres Charakters zu beeinflussen.


Jan-Hendrik Heinrichs ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neurowissenschaften und Medizin 7: Gehirn und Verhalten des Forschungszentrums Jülich und Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen. Weitere Informationen finden sich unter seiner Orcid 0000-0002-0560-8483.


1. Nagel, T., Moral Luck. Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes, 1976. 50: p. 136-151.

2. Heinrichs, J.-H. and A. Jefferson, Moralischer Zufall, in Handbuch Handlungstheorie: Grundlagen, Kontexte, Perspektiven, M. Kühler and M. Rüther, Editors. 2016, J.B. Metzler: Stuttgart. p. 228-236.

3. Harman, G., The Nonexistence of Character Traits. Proceedings of the Aristotelian Society, 2000. 100(1): p. 223-226.

4. Karran, E. and B. De Strooper, The amyloid hypothesis in Alzheimer disease: new insights from new therapeutics. Nature Reviews Drug Discovery, 2022. 21(4): p. 306-318.

5. Fries, G.R., et al., Molecular pathways of major depressive disorder converge on the synapse. Mol Psychiatry, 2023. 28(1): p. 284-297.

6. Jefferson, A., 63Brain Pathology and Moral Responsibility, in Agency in Mental Disorder: Philosophical Dimensions, M. King and J. May, Editors. 2022, Oxford University Press. p. 0.

7. Levy, N., The responsibility of the psychopath revisited. Philosophy, Psychiatry, & Psychology, 2007. 14: p. 129-138.

8. Burns, J.M. and R.H. Swerdlow, Right orbitofrontal tumor with pedophilia symptom and constructional apraxia sign. Arch Neurol, 2003. 60(3): p. 437-40.

9. Kumar, V., Empirical Vindication of Moral Luck. Noûs, 2019. 53(4): p. 987-1007.