Zufall und System bei Schelling

Von Daniel Unger (München / Freiburg)


Schelling (1775-1854) definiert den Begriff des Zufalls nicht neu; er folgt stets einer bis auf Aristoteles zurückreichenden Tradition. In seiner eigentümlichen Mehrdeutigkeit erkennt Schelling aber ein tieferes Problem, dessen logische und ethische Folgen stets zu früh abgetan wurden: namentlich für die Möglichkeit geschlossener Systeme und ihrer Verhältnisse zueinander, ebenso aber für den Einzelnen in seiner faktischen Existenz. Und es wird bei Schelling ein Problem bleiben – einem Philosophen, der wie kein zweiter Idealist die kritische Frage nach der Möglichkeit eines Gesamtsystems des Wissens immer wieder aufs Neue stellte, und sich trotz intensiver Arbeit und hoher Erwartungen der Öffentlichkeit in den letzten 40 Jahren seines Schaffens nie mehr zu einem definitiven schriftlichen Werk durchringen konnte.

1. Zufall als aufhebendes Moment geschlossener Sinnzusammenhänge

Die beiden Seiten des Zufalls als das Auch-anders-sein-Könnende und als das Von-außen-Hinzukommende,1 welche Schelling aus einer aristotelischen Tradition übernimmt, machen nur Sinn vor dem entgegengesetzten Hintergrund einheitlicher zweckgerichteter Zusammenhänge. Wenn der frühe Schelling in seinem „Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ (1799) konstatiert, es könne in der Natur keine Zufälligkeit geben, da auch nur ein einziger Zufall völlige Regellosigkeit bedeuten würde,2 scheint er ganz im Einklang mit traditionellen Systemphilosophen wie Spinoza, welcher jede zufällige Erscheinung auf Täuschung, auf bloße Unkenntnis der Ursache zurückführte.3 Eine solche Argumentation funktioniert aber nur innerhalb eines geschlossenen Systems. Ich möchte dieses Problem eingangs an einem literarischen Beispiel erläutern:

Schillers Tragödie Fiesco entfernt sich am Ende sehr weit von der historischen Vorlage. Die literarische Figur findet ihren Tod nach einem finalen Dialog mit Verrina, der Fiesco schließlich als Tyrannen erkennt und ins Meer stößt, wo dieser von seinem Purpurmantel, den er nicht ablegen wollte, zum Grund gezogen wird und ertrinkt. Auch der historische Fiesco ertrank, sein plötzliches Ende aber – er vertrat sich auf einer Schiffsplanke – hätte in seiner nichtssagenden Zufälligkeit die gesamte Tragödie zur Groteske verkehrt. Das heißt nicht, dass ein solcher Unfall auf keine eindeutige Ursache zurückgeführt werden könnte (möglicherweise wurde die Planke durch Nässe rutschig oder verbog sich, oder Fiesco wurde durch ein äußerliches Ereignis abgelenkt usw.), nur führen all diese Kausalitätsreihen aus dem Stück hinaus, sie durchbrechen den einheitlichen Sinnzusammenhang von Motiven, Handlungen, Schuld und Strafe.

Gleiches gilt für das Recht, wo es jeweils einen entscheidenden Unterschied macht, ob ein tödlicher Dachziegel gezielt geworfen oder fahrlässig fallen gelassen wurde – oder sich bei einem Erdbeben gelöst hat. Aber es braucht nicht einmal den Rahmen eines sinnvollen Verhältnisses von Schuld und Strafe: Derselbe Dachziegel kann eine (zumindest für einen bestimmten Zeitraum) historische Wendung herbeiführen, wenn er die „richtige“ oder „falsche“ Person zu einem glücklichen oder unglücklichen Zeitpunkt trifft. Überall dort, wo systematische Sinnzusammenhänge nach menschlichen Zwecken gestiftet werden, können Zufälle einbrechen und entscheidend wirken, und sie bleiben auch dann Zufälle, wenn sie auf eindeutige Kausalitätsreihen zurückgeführt werden können.

2. Zufall in der Natur und seine Auflösung in der Wissenschaft eines Gesamt-Systems

Wie aber verhält es sich in der Natur, außerhalb menschlicher Zwecksetzung und Sinnstiftung? In seiner Würzburger Zeit (1803-1806) hat der noch recht junge Schelling zum einzigen Mal in seinem Schaffen ein ganzheitliches System in Vorlesungen dargelegt, das objektive Natur- und subjektive Transzendentalphilosophie (mit seinen Dimensionen von Kunst, Religion und Staat) in sich vereint, also letztlich alle Zufälligkeit in einer Totalität aufhebt. Was hier, vereinfacht gesagt, geschieht, ist die anfängliche Aufhebung jeder Unterscheidung von Subjekt und Objekt im Wissen, und damit die Rückführung beider Seiten auf dieselben einfachen Prinzipien. Das heißt nicht, dass alles Wissen bereits fertig vorläge, vielmehr, dass in jedem Wissen, jedem wahren Satz die Unterscheidung von Subjekt und Objekt bereits aufgehoben ist. Wissen folgt hier nicht der Unterscheidung eines fragenden, forschenden und in der nachträglichen Übereinstimmung wissenden Subjekts mit einem zu erforschenden Gegenstand, sondern setzt die Einheit von Wissen und Gewusstem immer schon voraus. Jede wahre Aussage, dass etwas ist, spricht dieselbe Identität eines Seins aus und führt die Seiten des Subjekts und Objekts aus der Differenz verschiedener Ebenen und Perspektiven auf stets dieselbe Identität zurück. Es braucht nur einen wahren Satz, um aus seinen Variationen und Potenzierungen formelhaft alle Prinzipien des Alls ableiten zu können, verbunden über stets dasselbe Gleichheitszeichen der Identität von Allem, was ist.

Jeder rein empirische Ansatz, der mit der Differenz von Subjekt und Objekt beginnt, könne dagegen nur Kausalketten aus der Beobachtung beschreiben, an der Negativität einzelner „Dinge“, ihrer Bestimmtheit und ihren Wirkungen entlang, ohne je eine feste Position zu erlangen, von der aus Wissen möglich wäre. Begriffe zeitgenössischer mechanistischer Diskurse wie „Kraft“, „Stoff“, „Stoß“ etc. seien somit reine Abstrakta, die zwar verschiedene Beobachtungen zu verallgemeinern helfen, selbst aber leer und bedeutungslos bleiben müssten und gerade nicht Gesetzmäßigkeiten der Natur objektiv beschreiben, sondern eigentlich nur aus regelmäßigen Sinneseindrücken herleiten, deren Gesetze selbst nicht weiter erklärt werden könnten. Dasselbe gilt ebenso für die subjektive Seite des Bewusstseins und seinen allgemeinen Zusammenhang des Geistes: Worte wie „Wille“, „Handlung“ usw. bleiben dann leer, wenn sie bloß aus Kausalketten der Verstandesreflexion abstrahiert werden. Sinnvoll und wesentlich werden sie dort, wo die völlige Einheit mit den Naturbegriffen eingesehen werden – nicht als anthropomorphe Projektion menschlicher Innerlichkeit auf die Natur, sondern als Rückführung beider Seiten auf eine anfängliche und nie aufgehobene Identität. Sie schließt Dynamik, Evolution und Geschichte keineswegs aus, diese sind aber nie gleichgültige Veränderung, sondern stets formelhaft ableitbare Potenzierungen derselben Identität, auf verschiedenen sich ausdifferenzierenden Seiten und Ebenen desselben Wissens. Wissenschaftliche Bestimmung und Dynamik bzw. Geschichte des Einzelnen beschreiben ein- und dieselbe Bewegung. Zufall kann es für diese Perspektive, sobald sie einmal gewonnen ist und durchgehalten wird, nicht mehr geben. So wie es vorhin nur einen Punkt des Zufalls brauchte, um einen notwendigen Zusammenhang ad absurdum zu führen, braucht es hier nur einen Punkt des Wissens, aus dem sich das Ganze herleiten lässt.

3. Zufall als Anstoß und Abgrund

Dies klingt alles recht harmlos, und für eine überzeitliche Perspektive ergibt sich auch tatsächlich das Bild eines harmonischen Ganzen. Aus der Perspektive eines Einzelnen, stellt sich das Ganze für Schelling aber nochmal anders dar. Jedes einzelne Sein, auch das eines Menschen, ist doppeldeutig, sofern es einerseits als seiend unmittelbar Identität ist, als Einzelnes aber negativ bestimmt ist durch Anderes, wo der Verweis aber nicht anhält, sondern immer weiter ins Endlose hinausführt (wie die leeren Kausalketten, welche den Sturz des historischen Fiescos verursachten). In Einklang gebracht sind beide Richtungen für eine solche Perspektive, für die Etwas als Symbol des Ganzen zugleich dasselbe ist und bedeutet.4Dies können einzelne Pflanzen, Insekten, Gesteinsformationen usw. sein, die in ihrer ganzen individuellen Gestalt für die Wissenschaft die evolutionären Prinzipien ihres Gewordenseins ausdrücken.5 Die eigentliche Sphäre aber, worin der Mensch dieser Wahrheit einen anschaulichen Ausdruck verleiht, ist die symbolische Kunst (besonders in der Skulptur und im Drama). Hier sind, wie eingangs beispielhaft gezeigt, alle Zusammenhänge sinnvoll, alle Verweise schließen sich zusammen und drücken etwas Allgemeines, Ganzheitliches aus – ohne zufälliges Auch-anders-sein-Können und von außen Hinzutretendes.

Gerade in der tragischen Kunst drückt sich aber diese Unentrinnbarkeit des systematischen Ganzen für den Einzelnen von ihrer furchtbaren Seite aus. Niobe ist symbolisch schön in dem Moment, wo sie erkennen muss, dass sie auch ihr letztes Kind nicht vor den Göttern verbergen und retten kann.6 König Ödipus blendet sich, als er erkennt, dass er in der Flucht vor seinem Schicksal seinen Fluch erfüllt hat. Dies muss nicht zur Verzweiflung führen: Gerade Ödipus zeigt in der freiwilligen Selbstbestrafung sein freies Einvernehmen mit der Notwendigkeit des Ganzen; auch auf Kolonos bleibt er im Einverständnis mit einer übergreifenden Ordnung. Was hier untergeht ist nur Willkür (das Pendant zum Zufall im Geist), nicht Freiheit des Einzelnen. Ein solcher Einklang von Freiheit und Notwendigkeit, und das ist das Entscheidende, kann nur dort gelingen, wo der Mensch nicht einem blinden Fatum unterliegt, sondern einem in sich einheitlichen und sinnvollen Ganzen.

Wie aber verhält es sich dort, wo der Untergang des Einzelnen zufällig bleibt? Mit erstaunlichem Einverständnis haben Schelling und Hegel, zwei sehr gegensätzliche Systemphilosophen, die wichtige Rolle des Zufalls in Shakespeares Stücken herausgestellt, der ihren symbolischen Gehalt keineswegs mindert, vielmehr selbst eine sehr wesentliche Erfahrung der Neuzeit zu treffen scheint. Wie viele Zufälle, wie viele vertauschte Schwerter, verwechselte Gifte, zu spät eintreffende Boten usw. braucht es, damit Hamlet oder Romeo und Julia ihr Ende finden. Dass sie aber untergehen müssen, ist unvermeidlich: Hamlet ist schon lange vor seinem Tod der Welt überdrüssig, Romeo und Julia sind von Anfang an gemeinsam, wie Hegel es ausdrückt, in fremde Erde verpflanzt7 – es sind keine Wendungen zu einem glücklichen Ende denkbar. Die zufällige Äußerlichkeit und fatalistische Notwendigkeit ihres Untergangs entspricht einer tiefen Entfremdung zur Welt, die nach Schelling und Hegel einer sophokleischen Tragödie unbekannt war. Dessen Figuren bleiben auch im Untergang heimisch in einer geschlossenen Weltordnung, die überall an klaren sittlichen Prinzipien und mythologischen Motiven erkennbar bleibt, die modernen Charaktere Shakespeares hingegen sind hierfür in ihrer innerlichen Vereinzelung zu tief geworden.8

Aus der optimistischen Perspektive beider Systematiker beschreibt die Zufälligkeit, welche diesen Figuren überall in der Welt begegnet, trotz aller Tragik vor allem einen Mangel, ein Noch-Nicht. Können sie nirgends einen Halt finden, durch den ihnen die Welt sinnvoll würde, müsste eine höhere Religion, ein höherer Staat und eine höhere Wissenschaft dies leisten können – und damit, zumindest bei Schelling in Würzburg, auch die Grundlage einer neuen, ganzheitlichen Kunst geben (während für Hegel die Kunst diese Rolle nicht mehr einnehmen kann). Auf diese Weise zeigt der Zufall in der Welt nur etwas noch Falsches an, er behält die Rolle eines bloßen Anstoßes zu etwas Höherem, der irgendwann hinter sich gelassen werden könnte.

Diese Rolle wird sich beim späten Schelling auf tiefgreifende Weise ändern, worauf ich noch einen kurzen Ausblick geben möchte. Nach seiner letzten größeren Veröffentlichung, der Freiheitsschrift von 1809, ergibt sich ein Problem, dass das Würzburger System im Kern untergräbt: Der systematische Beginn mit der Einheit des Seins kommt immer zu spät, die Vernunft beginnt mit einem Haltepunkt, der selbst haltlos, nicht notwendig, unbegründet ist. Ein in sich geschlossener Kreis der Wissenschaft bekommt seinen eigenen Grund nie zu fassen.9 Dieser Abgrund des „unvordenklichen Seins“10 setzt jedes allein durch Vernunft geschlossene System unter einen Vorbehalt, dessen Zufälligkeit in ihm nie eingeholt werden kann. Der späte Schelling wird daher zwei Systeme setzen, die nicht ineinander überführt werden können: ein System der Notwendigkeit aller Möglichkeiten des Seienden, das nach seinem Was (quid) fragt und das bisherige System der Vernunftwissenschaft in sich begreift – und ein System existentieller Erfahrung, das nach dem Dass (quod) des Seienden fragt. Die logische Ordnung alles Seienden kann durch das erste System nachvollzogen und gesetzmäßig abgeleitet werden, der eigentliche Sinnzusammenhang alles Seienden in seiner Dassheit kann nur durch Erfahrung gestiftet werden. Diese Seite hat bei Schelling eine eigene Geschichte, wo, einer alten pythagoreischen Tradition folgend,11 der nicht einzuholende Zufall zu den Urprinzipien gerechnet wird, und nur auf Zwecke hin, vorwärts, Stufe für Stufe überwunden werden kann. Eine solche den Menschen weit übergreifende Geschichte kann von ihm nur ex negativo in der Erfahrungsgeschichte eigener Sinnstiftungen anschaulich werden, in den zwar jeweils scheiternden, aber doch notwendig aufeinander folgenden mythologischen und offenbarungsreligiösen Weltsetzungen. Diese müssen bei Schelling wiederum in ihrem geschichtlichen Zusammenhang einholen, was ihnen allen Voraussetzung ist: die Vorstellung einer dem Menschen vorangehenden Zwecksetzung im Ganzen, welche die Überwindung des abgründig-Zufälligen vorantreibt, ohne die jede Sinnstiftung in der Welt willkürlich bleiben müsse, und Sein und Bedeutung des Einzelnen nie in Einklang gebracht werden könnten.


Zu Schellings Philosophie, insbesondere zu seiner Ästhetik, verweise ich noch auf folgende meiner Publikationen:

Klassizität im Übergang. Zur besonderen Stellung der Niobe in Schellings Erörterung der Skulptur.“ Schelling Studien 6. Freiburg / München 2018. S. 163-174.

Schellings Philosophie der Kunst in ihrer Entwicklung.“ Schelling Studien 7. Freiburg / München 2019. S. 137-154.

Zusammen mit Christoph Binkelmann den Artikel: „Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Kunst.“ In: „Lexikon Schriften über Musik.“ Hg. v. Hartmut Grimm, Melanie Wald-Fuhrmann und Felix Wörner. Bd. 2. Kassel 2022. S. 740-743.


Daniel Unger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Projekts „Schelling in München (1811-1841). Hybride Nachlass-Edition“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.


1 Vgl. etwa Schelling, F. W. J.: „Ideen zu einer Philosophie der Natur“, AA I 13, S. 79 f., „System der gesammten Philosophie“, AA II 7,1, S. 286-288, „Philosophie der Mythologie“, SW XII, S. 152.

2 Vgl. Schelling, F. W. J.: „Erster Entwurf eines Systems der Natur“, AA I 7, 202.

3 Spinoza, B. d.: „Ethica“, Pars I, Prop. XXXIII, Schol. II.

4 Vgl. Schelling, F. W. J.: „Philosophie der Kunst“, AA II 6,1, S. 148 f.; „System der gesammten Philosophie“, AA II 7,1, S. 438 f.

5 Vgl. Schelling, F. W. J.: „System der gesammten Philosophie“, AA II 7,1, S. 315 f., 328 f.

6 Schelling sagt sogar, was alle Kunst wolle, sei in der Niobe-Skulptur ausgesprochen worden, vgl. „Philosophie der Kunst“, AA II 6,1. S. 316 f.

7 Vgl. Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über Ästhetik III“, TWA 15, 566 f.

8 Vgl. Schelling, F. W. J.: „Philosophie der Kunst“, AA II,6,1, S. 392-396 sowie Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über Ästhetik III“, TWA 15, S. 558-560 u. 565.

9 So Schellings Kritik an Descartes und aller ihm nachfolgender neuzeitlicher Philosophie in der „Geschichte der neueren Philosophie“, SW X, S. 4-30.

10 Vgl. Schelling, F. W. J.: „Philosophie der Offenbarung 1841/42.“ Frankfurt a. M. 1977 (Paulus-Nachschrift), S. 161-164.

11 Vgl. etwa Schelling, F. W. J.: „Initia philosophiae universae“ (in der Nachschrift Enderleins), AA II 10,2, S. 782 f.