11 Jan

Anti-antisemitische »Staatsraison«?

Eine Antwort auf Igor Levits Beschwerde über fatales Schweigen angesichts der jüngsten islamistischen Demonstrationen in Deutschland

von Burkhard Liebsch (Universität Bochum)

In einem langen Interview beklagte kürzlich der bekannte Pianist Igor Levit in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein fatales Schweigen über die jüngsten antisemitischen Proteste auf deutschen Straßen, in denen wieder einmal, diesmal allerdings von radikalen Islamisten, »Tod den Juden« skandiert wurde. Das richte sich gegen alle, die sich der »moralischen Grundlage« der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Verrät das von Levit festgestellte Verharren der Zivilgesellschaft in kollektivem Schweigen »emotionale Teilnahmslosigkeit« (wie es der Interviewer Giovanni di Lorenzo ausdrückte) und ein völliges Verkennen der Herausforderung, die für alle Bürger in jenen Protesten liegt? 

      Der gegen Bürger Israels, darunter viele Kinder, verübte Terror und die Gegenreaktion der Regierung unter der Führung von Benjamin Netanjahu wühlen weltweit die Menschen auf. Viele fühlen sich wie der israelische Historiker Tom Segev geradezu gelähmt angesichts der politischen Aussichtslosigkeit massiver Gewalt, die vor Ort herrscht. Andere flüchten sich in wütenden Protest, in dem alles durcheinander gerät: als »neo-kolonialistisch« gebrandmarkte Annexion fremden Territoriums und legitime Selbst­behauptung gegen Vernichtungsdrohungen, Antisemitismus und Kritik an einer Regierung, die die Axt an den israelischen Rechtsstaat zu legen droht, Befreiung von einem als rassistisch bezeichneten »Apartheitsregime« und schierer Terror, der auch die Zukunft der eigenen Kinder und Kindeskinder gleich mit ruiniert.[i]

      In diesem Durcheinander gilt es, was den Nebenschauplatz Deutschland betrifft, wenigstens eines klar zu stellen: Nach 1945 ist besonders dieses Land dem Schutz der Schwächsten verpflichtet. Nur unter dieser Voraussetzung verdient der Staat Achtung. Er steht also unter Beobachtung der Bürger, die um seine historischen Voraussetzungen wissen. Zu diesen zählt die Erinnerung daran, wie man Andere durch immer weiter radikalisierte Diskriminierung[ii] zu den Schwächsten und Schutzlosesten gemacht hat, darunter auch zahlreiche Schriftsteller:innen, anders kulturell Produktive und Hochschullehrer, die zuvor zu den Leistungsträgern ihres jeweiligen Faches gehört hatten. Wenn sie es nicht rechtzeitig ins Exil geschafft haben, drohte ihnen ein furchtbares Schicksal, auch jenen, die durch die Nazis überhaupt erst zu »Juden« gemacht wurden – zu Juden, wohlgemerkt, im Sinne ihrer Verfolger, die mehrfach nach dem Vorbild des ehemaligen Wiener Oberbürgermeisters Karl Lueger selbstherrlich erklärten: »Wer Jude ist, das bestimmen wir«. Deshalb sprach man von »Antisemitismus ohne Juden« – eine gewiss fragwürdige Diagnose, da auch sie das jüdische Selbstverständnis der jeweils Definierten übergeht. 

      Wenn als historische Antwort auf den Versuch der Vernichtung der europäischen Juden heute fast unisono wiederholt erklärt wird, es gehöre zur historischen Verantwortung und »Staatsraison«[iii] Deutschlands, auf das Existenzrecht des Staates Israel verpflichtet zu sein, so lässt sich das auch so verstehen, dass sich Formen der Diskriminierung nicht wiederholen dürfen, die nach 1933 auf diesen Versuch hinausgelaufen sind. Demnach dürften der deutsche Staat und die Bürger dieses Landes aber nicht nur keinen Antisemitismus mehr dulden, sondern müssten sich jeder willkürlich diskriminierenden ›Definition‹ von Anderen widersetzen. Letztere betrifft aus historischen Gründen in erster Linie Juden, aber nicht nur sie. Denn in der Logik des Diskriminierens liegt es nach einschlägiger geschichtlicher Erfahrung, auf eine schließlich radikale Ausgrenzung hinauszulaufen, die nur in tödliche Desaster münden kann. Und das kann jede(n) treffen.

         Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe höchst unterschiedlicher Auslegungen der Staatsraison, die mit der einschlägigen Begriffsgeschichte, wie sie etwa von Friedrich Meinecke und von Herfried Münkler rekonstruiert worden ist, so gut wie nichts mehr zu tun haben. Während dieser Begriff bis vor Kurzem noch als zur Legitimation aller möglichen, völkerrechtlich nicht belangbaren Verbrechen dienlich aufgefasst werden konnte[iv], stellt die von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede vor der Knesset im Jahre 2008 statuierte Verpflichtung des deutschen Staates auf die Sicherung des Existenzrechtes Israels die geschichtlich-politische Antwort auf den genozidalen Mord an den Juden Europas dar und ordnet die eigene (längst europäisch eingebundene und relativierte) Souveränität dem ethischen Sinn dieser Antwort unter. Im Gegensatz zu einer souveränitätstheoretischen Deutung des Begriffs Staatsraison, die auf diesem Wege im Grunde bereits preisgegeben worden ist, gebe ich ihm hier noch eine andere, zivilgesellschaftliche Wendung.

      Wenn die gelegentlich hochtrabend anmutende Rede von Staatsraison in gesellschaftlicher Hinsicht im Wesentlichen besagt, dass sich die Bürger dieses Staates jedweder (zumal systematischen) Diskriminierung Anderer widersetzen müssen, dann ergibt sich für die politische Gegenwart in Anbetracht der Lage im Nahen Osten daraus mindestens eine klare Konsequenz: Ganz gleich, was jemand getan oder unterlassen haben mag (etwa gegen die Unterdrückung der Palästinenser zu protestieren), womit jemand sympathisiert (etwa mit dem Tun der israelischen Armee im Gaza-Streifen) oder wozu sich jemand politisch solidarisch verhält (wie etwa zum Staat Israel unter seiner derzeitigen, von der Hälfte der dortigen Bürger selbst schärfstens wegen ihrer Angriffe auf den Rechtsstaat kritisierten Regierung), nichts, gar nichts rechtfertigt im Geringsten, die Betreffenden hasserfüllt zu diskriminieren. Schon gar nicht, indem man Anderen öffentlich mit Vernichtung droht, wie es im Beisein von Polizeikräften geschehen ist. Dies muss – zumal in diesem Land – als schlechterdings intolerabel gelten. Und darüber sollten sich auch diejenigen aus dem arabischen und persischen Nahen und Mittleren Osten nicht täuschen, die in diesem Land Zuflucht gefunden haben (und hoffentlich weiter finden werden, wenn sie darauf angewiesen sind).

      Für Deutschland ergibt sich daraus konkret: Es kann bzw. darf keinerlei Zusammenhang zwischen der aktuellen politischen Situation Israels im Verhältnis zu seinen Nachbarn einerseits und irgendwelchen Diskriminierungen andererseits geben, die man unter Verweis auf israelische Politik rechtfertigt. Niemand hat sich, bloß weil er sich religiös, politisch, verwandtschaftlich, musikalisch oder wie auch immer sonst dem Judentum zugehörig fühlt, für die Politik der jeweils amtierenden Regierung Israels zu verantworten. Über diese Politik muss man allerdings, wie über jede Politik, streiten, auch wenn sie wie jetzt angesichts des jüngsten Hamas-Terrors schlechterdings nicht nicht reagieren kann und sich zu radikalen Gegenmaßnahmen genötigt sieht – bis hin zur Vernichtung der Hamas, die allerdings von der normalen palästinensischen Bevölkerung nicht klar zu unterscheiden ist. Infolgedessen drohen diese Maßnahmen tausende von Unschuldigen zu treffen, so dass sich Israel immer mehr und neue Feinde macht, wenn man weiter so vorgeht. Das bedrückt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von Nationalsozialisten zu verantwortenden Vernichtungspolitik, an die wir immer wieder erinnert werden, wo Juden Hass auf sich ziehen. Offenbar konnte die Gründung des Staates Israel keinen Schlusspunkt unter diese unselige Vorgeschichte setzen. 

      Insofern sind wir bis in die Folgen des jüngsten Terrors hinein weiter mit in die nachfolgende Geschichte verstrickt. Aber gewiss nicht aufgrund eines angeblich vererbten, unentrinnbaren Schuldkomplexes, den man wie zuletzt der türkische Präsident Reccep Tayyip Erdoğan süffisant gegen »die Deutschen« ins Spiel brachte, um ihnen jegliche ›unbefangene‹ Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts abzustreiten. Im Gegensatz zu ihnen hätten die Türken schließlich keinen Holocaust zu verantworten, also dürften sie, im Gegensatz zu den Deutschen, den Staat Israel schonungslos kritisieren, d.h. in diesem Falle: ihm ein genozidales Projekt der Vernichtung der Palästinenser unterstellen, wie es zuletzt auch amerikanische Intellektuelle wie Judith Butler getan haben.[v] Zweifellos reicht der jungtürkische Genozid an den Armeniern, der für Erdoğan gar nicht existiert, an den zu erinnern er aber sonderbarerweise trotzdem als eine »Beleidigung des Türkentums« (gemäß Artikel 301 des türkischen StGB) unter Strafe stellt, nicht an die Shoah heran. Aber in beiden Fällen steht der jeweilige Nachfolgestaat vor der unabdingbaren Herausforderung, wenigstens die Verbrechen einzugestehen, für die er historische Verantwortung zu übernehmen hat. Auf Leugnung und Lüge kann kein Staat beruhen, der nach außen und innen Anspruch auf Achtung erhebt, ganz gleich wie souverän und machtbewusst er sich gibt. 

      Diese Lehre hat uns jedenfalls die geschichtliche Erfahrung erteilt.[vi] Daran messen wir den eigenen Staat; und von diesem Selbstverständnis wird nach wie vor die deutsche Gesellschaft getragen, die niemandem mehr (und erst recht nicht dem Staat) erlauben wird, die Schwächsten systematisch derart zu diskriminieren, wie man es gewiss nicht nur, aber vor allem mit den Juden gemacht hat. Deswegen stehen sie par excellence für diejenigen, die die Gesellschaft zu schützen hat, ganz gleich, um wen es sich im Einzelnen handelt und welchen Überzeugungen die Betreffenden anhängen. Doch die Gesellschaft ist kein homogenes Gebilde. Diejenigen, die sie tragen, sind nur ein Teil von ihr, und sicher nicht derjenige, der sich ständig lautstark Gehör verschafft wie jene Identitären, die in ihrer Minderheit widersinnig behaupten, »das Volk« zu sein, um dem großen Rest damit zu drohen. 

      Bei diesem »Rest« handelt es sich doch offenbar um die sogenannte schweigende Mehrheit derer, die sich nicht jeden Tag in den Feuilletons oder auf der Straße äußern können oder wollen, so viel Grund sie auch täglich dazu hätten, das verbrecherische Tun von Autokraten und Diktatoren anzuprangern, von ökologischen und anderen Sorgen einmal ganz abgesehen. Aber daraus ist nicht einfach auf Teilnahmslosigkeit zu schließen. Schließlich entsetzt und lähmt uns auch die Ausweglosigkeit, in die das israelisch-palästinensische Verhältnis seit langem geraten ist – mit der Konsequenz, dass sich die Juden immer weiter tödlicher Bedrohung ausgesetzt sehen, der offenbar nur die wenigsten von ihnen ihrerseits noch Ideen einer zu befriedenden Nachbarschaft entgegenzusetzen vermögen. 

      Vor dem Hintergrund der eigenen, deutsch-jüdischen Geschichte ist es das, was am meisten lähmt. Nichts hätte vor diesem Hintergrund mehr beruhigt, als wenn Israel zu einer solchen Nachbarschaft gefunden hätte. Und nichts muss mehr beunruhigen als der aktuelle Befund, dass nicht wenige, die hier mit Palästinensern sympathisieren, Juden auch bei uns keine wie auch immer geartete Ko-Existenz, sondern nur den Tod gönnen wollen. Das rührt in der Tat an den sensibelsten Punkt unserer Geschichte und unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses. 

      Jedoch nicht, weil wir einem ominösen Schuldkomplex verfallen wären, den man jederzeit gegen uns – womit ich die teils weit nach 1945 geborenen Landsleute meine – instrumentalisieren kann, sondern weil wir nicht vergessen haben, was keinem Staat, keiner Gesellschaft und keiner Gruppe je wieder erlaubt sein darf: sich auf den am Ende tödlichen Weg der Diskriminierung Anderer zu begeben. 

      Nicht einzusehen ist, dass das mit politischer Blindheit einhergehen muss. Im Gegenteil: Wir sehen das Leid, das unschuldigen Palästinensern widerfährt. Und wir sehen, dass auf beiden Seiten, auf israelischer und palästinensischer Seite wie in der jüngsten Aktion der Palestinians and Jews for Peace in Köln, eine geteilte Trauer darüber zum Vorschein gekommen ist, was den Angehörigen der jeweils Anderen widerfahren ist. Wenn überhaupt, dann hat das Verhältnis der Kinder und Kindeskinder auf beiden Seiten nur auf der Basis solcher Trauer Zukunft. Zu hoffen wäre, dass ihr mehr politische und die Verfeindeten wieder verbindende Kraft zuwachsen wird ­– gerade jetzt, in einer Zeit, in der nur noch wortlos vernichtende Gewalt das Sagen hat.

      Mit solcher Gewalt hat man in Deutschland historisch einschlägige Erfahrung gemacht. Sie hat Millionen Juden (und Millionen Andere), aber auch das euphemistisch so genannte Dritte Reich mit in den Untergang gerissen. Davon möchten Politiker:innen wie die Chefin der AfD sich nicht »befreit« wissen. Damit verraten sie nur, nicht zu wissen (oder nicht wissen zu wollen), worauf der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft geschichtlich beruht: auf der bestimmten Negation jeglicher Gewalt, die Andere, ganz gleich wen, wieder mit Vernichtung bedroht, ob vorerst ›nur‹ verbal, durch fortgesetzte Diskriminierung oder durch brutale Un-Taten. 

      Aber was heißt schon »beruht…«? Um ein in Beton zu gießendes Fundament, wie im Fall eines Denkmals, kann es sich nicht handeln, nur um ein von zivilgesellschaftlichem Zusammenleben selbst getragenes Ethos, das schon in dem Moment zu verkümmern droht, in dem man es für fraglos verlässlich hält. 

      Dass es das nicht sein kann, zeigt sich jetzt wieder im »pro-palästinensischen«, keineswegs nur importierten Antisemitismus derer, die offenbar von der Geschichte Deutschlands nichts wissen oder von ihr nichts wissen wollen. Keine schulische Aufklärung, kein besserer Geschichtsunterricht, kein eindringlicher Film (wie der über die Comedian Harmonists, über den Holocaust oder Schindlers Liste) und keine populäre, von Millionen verfolgte Serie (wie Babylon Berlin) wird je ausreichen, um das zu verhindern. Keine Staatsraison und kein gesellschaftliches Ethos (zu Hegels Zeiten hätte man von Sittlichkeit gesprochen) wird je völlig verhindern, dass Minderheiten öffentlich ihren Hass auf Andere zum Ausdruck bringen. Das kann nichts und niemand versprechen. Auch ein rigoros verschärftes Versammlungs- und Demonstrationsrecht nicht.

      Insofern sind die aktuellen, unterschiedslos von Hass auf Israel und auf Juden generell diktierten Demonstrationen jedoch gerade kein zureichender Anlass, sich wieder vor dem  ganzen Land zu fürchten. Josef Schuster, der amtierende Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, betonte ganz zu Recht, dass 2023 in Deutschland nicht 1933 ist: Nicht nur die Spitzen des Staates, Millionen Bürger stehen eindeutig – wenn auch gegenwärtig angesichts der Brutalität der jüngsten terroristischen Gewalt teils wie gelähmt – auf der Seite derer, die seit Treblinka und Belzec, Sobibor und Auschwitz und hunderten von Konzentrationslagern für immer unter ihrem Schutz stehen werden – ganz gleich, ›was man gegen sie hat‹, ganz gleich, was man in Israel für eine Politik macht. Jude in Deutschland sein, das hat an sich nichts damit zu tun. Genauso wenig ist ein Syrer allein etwa deshalb, weil er Syrer ist, für Bashar al-Assads Gewaltpolitik mitverantwortlich oder eine iranische Muslimin für das Regime der Mullas und deren Unterstützung des Hamas-Terrors.   

      Nur zu verständlich ist, dass viele Juden jetzt wieder an diesem Schutz zweifeln und ihn lebenspraktisch als sehr unzulänglich empfinden; auch solche, die sich wie der Pianist Igor Levit durch angeblich pro-palästinensischen Antisemitismus kürzlich erst zu Juden haben werden sehen. Aber vom Zweifel zur Verzweiflung an diesem Land, in dem er eine »durch Schweigen« beförderte »dehumanisation der Juden« beobachtet, der er zuletzt im Rahmen eines Solidaritätskonzerts im Berliner Ensemble mit einigen ›Prominenten‹ entgegenzutreten versuchte, führt doch kein ganz kurzer Weg. Derartige Events beweisen zudem nicht, in welcher ›Verfassung‹ sich der Rest der Gesellschaft befindet, zu der immerhin auch Millionen durch solche Kritik nur vor den Kopf zu stoßende Jüngere zählen, die sich nach 1945 für eine der Nichtdiskriminierung verpflichtete Staatlichkeit verantwortlich fühlen. Darin liegt die Kraft einer Solidarität, die leicht zu unterschätzen ist, wenn man nur öffentliche Demonstrationen zum Maßstab nimmt und als dehumanisierendes Schweigen brandmarkt, was ihm nicht gerecht wird. Es handelt sich um eine weniger ›spektakuläre‹, vielmehr alltägliche Solidarität, auf die jede(r) angewiesen sein könnte. Denn zum »Juden« kann jede(r) durch Andere werden. Dazu bedarf es nur der Willkür einiger, die ganz nach eigenem Gutdünken glauben definieren zu können, wer einer ist. Potenziell sind wir das alle: Definierte und Definierende, so lautet unweigerlich die zutiefst irritierende Schlussfolgerung.

      Dass die gewaltträchtige Erbschaft immer neuer Diskriminierungen jemals zu überwinden sein wird, steht nicht zu erwarten. Vor dieser Herausforderung steht jede Gesellschaft und jedes Zusammenleben, auch das der Palästinenser. Es kann in Wahrheit keinen »pro-palästinensischen« Antisemitismus geben. Denn letzterer stellt für jede Gesellschaft eine tödliche Bedrohung dar. 


[i] Vf., »Entweder oder im Israel-Krieg: Trauer gegen Terror?«, in: Telepolis, 4. November 2023; https://www.telepolis.de/features/Entweder-oder-im-Israel-Krieg-Trauer-gegen-Terror-9351424.html;

[ii] Vgl. Vf., »Zwischen Verbot und Unvermeidlichkeit. Demokratiekritische Überlegungen zum Verhältnis von Differen­zierung und Diskriminierung«, in: WiderspruchMünchner Zeit­schrift für Philosophie 73 (2023), 107−120.

[iii] Dazu, wie es indessen tatsächlich um das Verhältnis des deutschen Staates zu Israel nach 1945 bestellt war, hat die Ausgabe von Max Uthoffs und Claus v. Wagners Die Anstalt vom 12. Dezember 2023 in aller Kürze (und in dem in diesem Zusammenhang kaum zu umgehenden sarkastischen Ton) das Wichtigste gesagt. https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-vom-12-dezember-2023-100.html

[iv] Vgl. G. Kunert, Verspätete Monologe, München 1984, 53.

[v] Ich beziehe mich auf Judith Butlers Artikel The Compass of Mourning in der London Review of Books vom 19. Oktober (Vol. 45, no. 20).

[vi] Vgl. Vf. (Hg.), Geschichtskritik nach ›1945‹. Aktualität und Stimmenvielfalt, Hamburg 2023.


Burkhard Liebsch, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Universität Bochum und leitet derzeit ein internationales Forschungsprojekt zur Hermeneutik Ricœurs. Arbeitsschwerpunkte: Prak­tische Philosophie/Sozialphilosophie; Theorie der Geschichte; das Politische in kulturwissenschaftlicher Perspektive; spezielle Forschungsthemen: Gewaltforschung, Kulturtheorie, Lebensformen, Sensibilität, Europäisierung, Erfahrungen der Negativität, Geschichte des menschlichen Selbst. 

Neuere Veröffentlichungen: Unaufhebbare Ge­walt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen (2015); Einan­der ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. 2 Bde. (2018); Europäische Ungastlichkeit und ›identitäre‹ Vorstellungen. Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen (2019); Drohung Krieg (2020; mit B. Taureck); Trostlose Vernunft? (2021; mit B. Taureck);  Orientierung und Ander(s)heit. Spielräume und Grenzen des Unterscheidens (2022, mit W. Stegmaier). (Mit-) Hrsg. u. a. von: Perspektiven europäischer Gastlichkeit (2016); Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges (22017); Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte (2018); Emmanuel Levinas: Dialog. Ein kooperativer Kommentar (2020); Die Grenzen der Einen sind (nicht) die der Anderen (2020); Radikalität und Zukunft des Krieges (2021).

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