11 Jan

Anti-antisemitische »Staatsraison«?

Eine Antwort auf Igor Levits Beschwerde über fatales Schweigen angesichts der jüngsten islamistischen Demonstrationen in Deutschland

von Burkhard Liebsch (Universität Bochum)

In einem langen Interview beklagte kürzlich der bekannte Pianist Igor Levit in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein fatales Schweigen über die jüngsten antisemitischen Proteste auf deutschen Straßen, in denen wieder einmal, diesmal allerdings von radikalen Islamisten, »Tod den Juden« skandiert wurde. Das richte sich gegen alle, die sich der »moralischen Grundlage« der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Verrät das von Levit festgestellte Verharren der Zivilgesellschaft in kollektivem Schweigen »emotionale Teilnahmslosigkeit« (wie es der Interviewer Giovanni di Lorenzo ausdrückte) und ein völliges Verkennen der Herausforderung, die für alle Bürger in jenen Protesten liegt? 

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05 Dez

Judenhass im Namen von Freiheit und Würde

Bild des Eintrags Antisemitismus im Wörterbuch

Joël Ben-Yehoshua (Jena)


„Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft dem Judenstaat erklären wir den Krieg“


In Anbetracht des antisemitischen Massakers in Israel am 7. Oktober 2023 und der teils verstörenden globalen Reaktionen darauf hat Philip Hogh darauf aufmerksam gemacht, dass es eine „genuine Aufgabe kritischer Theorien“ ist, das Phänomen Antisemitismus besser zu erfassen sowie zu verstehen, „warum soziale Bewegungen und mit ihnen sympathisierende und sich als Kritiker*innen verstehende Intellektuelle antisemitische Morde beklatschen oder relativieren“.

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14 Sep

Rassismus (auch) ohne Race

von Ina Kerner (Universität Koblenz)

Seit ein paar Jahren setzt sich die deutschsprachige Politische Theorie und Philosophie immer öfter kritisch mit dem Rassismus des eigenen Kanons auseinander. Das ist überfällig – und vollzieht eine Entwicklung kritischer Reflexivität nach, mit denen der englischsprachige Wissenschaftsraum bereits seit Beginn des Millenniums aufwartet (u.a. Mills 1997; Babbitt/Campbell 1999; Boxill 2001; Bernasconi 2001; Bernasconi/Cook 2003; Valls 2005; Eigen/Larrimore 2006). Es kommt nicht von ungefähr, sondern gründet im Material, in den explizit rassentheoretischen Arbeiten ebenso wie in den eher beiläufigen rassistischen Überlegungen, die den Kanon durchziehen, dass das neue Interesse an kritischen Rassismusanalysen deutlich fokussiert ist. Es geht primär um „Rasse“ oder Race – um theoretische Operationen zum Zweck der kategorialen Unterscheidung und Hierarchisierung verschiedener Großgruppen von Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise auf körperliche Merkmale wie die Hautfarbe beziehen und diese Merkmale ursächlich mit vermeintlichen je gruppenspezifischen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften assoziieren. Man analysiert den Niederschlag, aber auch explizite Ausarbeitungen derart rassialisierter und rassialisierender Denk- und Wissensformen im politiktheoretischen und philosophischen Kanon und diskutiert die wichtige Frage, was das alles für künftige Bezugnahmen auf die dabei ins Zentrum des analytischen Interesses gerückten Texte und Autor:innen heißt.

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07 Sep

Neuer Wein in alten Schläuchen?! Philosophische Rassismuskritik zwischen Akademisierung und Katalyse

von Peggy H. Breitenstein (Jena)

Bei Betrachtung der jüngsten deutschsprachigen Debatten um das rassistische und kolonialistische Erbe der Philosophie zeigen sich aufschlussreiche Tendenzen. Einige von ihnen erinnern an vergangene Zeiten, in denen dieses Thema auch bereits kürzere Konjunkturen erlebte, bevor es dann wieder erfolgreich verdrängt oder vergessen wurde. Doch diesmal scheinen sich auch Entwicklungen anzubahnen, die wirklich neuartig sind, und manche könnten Gärstoff enthalten, der alte Schläuche zum Bersten bringt.

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31 Aug

Armut überkreuz? Rassismus, Sexismus, Klassismus im Kapitalismus[1]

Von Brigitte Bargetz (Kiel/Wien) und Jana Günther (Darmstadt)

Seit der Coronakrise stiegen nicht nur die Vermögen elitärer Bevölkerungsteile, sondern auch die Armutsrisiken weltweit. Gerade während Krisen zeigt sich immer wieder, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders vulnerabel sind. Dazu gehören insbesondere Menschen in unteren Einkommensklassen, Migrant*innen, People of Colour sowie Frauen.

Armut und Ausbeutung

Armutslagen und -risiken haben verschiedene Ausprägungen. Armut steht heute vornehmlich mit der weltweiten Durchdringung kapitalistischer Produktions- und Lebensweisen nach der Auflösung des Sowjetblocks sowie mit (post-)kolonialer Ausbeutung im Globalen Süden und indigener Bevölkerungsgruppen in Zusammenhang. Kapitalismus als „Gesellschaftsform“, so formulierte es Nancy Fraser vor einiger Zeit pointiert, ‚verschlingt‘ „routinemäßig die Grundlagen der eigenen Existenz“.[2]

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24 Aug

Antiziganismus – (K)Ein Thema für die Philosophie?

Laura Soréna Tittel (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Die Verstrickung der Philosophie in den Rassismus wurde in den letzten Jahren heiß diskutiert. Von Antiziganismus war dabei jedoch kaum die Rede. Vielmehr wurde dem klassischen philosophischen Kanon vorgeworfen, Rechtfertigungen für den Kolonialismus und für rassistisch bestimmte Hierarchien hervorgebracht zu haben. Doch wie verändert sich der Blick, wenn man in den philosophischen Schriften nicht nur nach rassistischen Denkmustern sucht, sondern explizit nach antiziganistischen? Ist die Philosophie auch in den Antiziganismus verstrickt oder kann sie etwa helfen, ihn besser zu verstehen?

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03 Aug

Intersektionalität und Rassismus. Eine staatstheoretische Sicht

von Birgit Sauer (Universität Wien)

Die Krisen der vergangenen Jahre – die Finanzkrise 2008, die Covid 19-Pandemie, Inflation und Klimakatastrophe – lassen die Ungleichheiten innerhalb westlicher Gesellschaften, aber auch zwischen den unterschiedlichen Regionen der Welt, dem Globalen Süden und dem Globalen Norden, wie in einem Brennglas sichtbar werden. Die ungleiche globale Verteilung von Impfstoff gegen Covid, die Dürren, die Kleinbäuerinnen in Afrika oder Asien ihre Lebensgrundlage entziehen, die migrantische 24h-Pflegerin in Westeuropa, deren prekäres Einkommen durch Inflation dezimiert wird – all dies sind Beispiele dafür, dass rassistische Strukturen bzw. (post-)koloniale Konstellationen bis heute existieren und dass diese Strukturen mit weiteren Herrschaftsformen verknüpft sind: mit Geschlecht, Klasse, Sexualität oder Nationalität.

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18 Jul

Wie umgehen mit dem rassistischen Erbe in der Philosophie? Die richtigen Fragen stellen!

von Andrea Esser (Universität Jena)

In vielen klassischen Texten der philosophischen Tradition kann man auf Passagen treffen, die – mindestens nach heutigen Maßgaben – als rassistisch zu beurteilen sind. Die Philosophie hat, wie viele andere Fächer auch, damit begonnen, sich mit diesem rassistischen Erbe auseinanderzusetzen. Sofern philosophische Vorurteilskritik, die Prüfung erhobener Ansprüche, die Aufdeckung von Schein und Ideologiebildung in der Philosophie ihrerseits eine lange Tradition haben und durchaus zum Kerngeschäft philosophischen Arbeitens gerechnet werden, könnte man meinen, dass diese Aufgabe keine sonderliche Herausforderung für das Fach darstellt. Viele philosophische Theorien bieten ein geeignetes begriffliches und methodisches Instrumentarium zur (macht- bzw. ideologie-)kritischen Textanalyse, aber auch, um die philosophische Theoriebildung und sogar noch die Praxis des Philosophierens der Selbstkritik auszusetzen. Ob die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Erbe aber auch im konkreten Fall selbstkritisch ausfällt, hängt vor allem von den Fragen ab, mit denen sie eröffnet wird. Bereits die Fragestellung lenkt den Fokus der Auseinandersetzung auf bestimmte Gegenstände und entscheidet darüber, ob etwa vorrangig über die Vergangenheit gerichtet wird oder ob rassistische Vorurteile und ausschließende sowie einschränkende Rahmenbedingungen auch der gegenwärtigen philosophischen Praxis mit zum Thema gemacht werden. Ist Letzteres der Fall, könnte die selbstkritische Beschäftigung mit der eigenen Tradition auch neue, um die Kritik erweiterte Sicht- und Verfahrensweisen, ein geschärftes Problembewusstsein und eine gesteigerte Sensibilität für die eigene Situiertheit und die damit verbundenen Grenzen eröffnen. Für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt könnte diese Erweiterung des Fokus möglicherweise wichtig sein …

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27 Apr

Das weiße (Nicht-)Wissen der Philosophie

von Marina Martinez Mateo (Akademie der Bildenden Künste München)

Die Philosophie ist in ihrem institutionellen Funktionieren als Disziplin ein Ort weißen (Nicht-)Wissens. Das heißt nicht – so viel vorweg –, dass sie nur das ist: Kontinuierlich werden dem Weißsein der Philosophie andere Formen des Wissens und Denkens entgegengesetzt, ganze Traditionen und Denkformen, die außerhalb der weißen Begrenzungen der Philosophie stattfinden. Diese anderen Formen des Denkens aber stoßen auch heute noch gegen eine Wand kanonisierter, als „wichtig“ und als philosophisch (im „ernstzunehmenden“ Sinn) geltender Denkbestände, die sie mindestens an die Ränder der Philosophie (wenn nicht ganz aus ihr heraus) drängt. Um diese Wand soll es im Folgenden gehen. Was bedeutet es, vom weißen Nicht-Wissen der Philosophie zu sprechen? Drei Annahmen sind damit verbunden: Erstens die Annahme, dass die Philosophie, historisch wie gegenwärtig, ein weißer Ort ist. Zweitens die Annahme, dass es ein Ort weißen „Wissens“ ist, dass sich also das Weißsein der Philosophie in den Formen des Wissens und Denkens widerspiegelt, die darin stattfinden. Die dritte Annahme lautet, dass es sich bei diesem Wissen um ein „Nichtwissen“ handelt, wie es Charles Mills nennt, das heißt um ein Wissen, das Ausdruck rassialisierter Herrschaft ist und darum ein begrenztes, verblendetes, verfälschendes, verdummendes Wissen (eben ein Nicht-Wissen) darstellt. Diese drei Annahmen werden im Folgenden erläutert und diskutiert.

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18 Apr

Heidegger und das Wesen der Dichtung

Von Gerhard Poppenberg (Heidelberg)

Der Beitrag zeigt, dass Heideggers Engagement für den NS und seine Abwendung davon philosophisch parallel zu seiner „Kehre“ stattfindet: seiner Wendung zur Dichtung als einer Neukonzeption der Ontologie. Deren Implikationen werden im Folgenden angedeutet. Das Problem eines nicht metaphysischen „Wesens der Dichtung“ steht mit Hölderlin im Kontext eines ebenfalls nicht metaphysischen, sondern historischen „Wesens des Deutschen“, das Heidegger vor allem in seinen Hölderlin-Vorlesungen der Dreißiger- und Vierzigerjahre sowie seinen Aufsätzen zum Werk des Dichters entfaltet. Damit deutet sich die Komplexität der Frage nach Heidegger und dem NS an, die jenseits wohlfeiler Verurteilungen als philosophisches Problem zu erörtern ist. Der Beitrag ist eine Ergänzung zu den Ausführungen des Autors in der Philosophischen Rundschau. (Anmerkung der Redaktion der Philosophischen Rundschau)

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