Bemerkungen zu Wolfram Eilenbergers Zeit der Zauberer

Von Ansgar Beckermann (Bielefeld)


Dies ist, das soll gleich zu Anfang gesagt sein, ein außerordentlich gut geschriebenes, sehr informatives und insgesamt überaus spannendes Buch. Aber ist es auch ein Buch, das es ermöglicht, sich auf vernünftige Weise der Philosophie der von Eilenberger (E.) behandelten Protagonisten Wittgenstein, Benjamin, Cassirer und Heidegger zu nähern? Ich habe da meine Zweifel.

Ein prägender Aspekt des Buches ist, dass es als Mehrfachbiografie der vier Philosophen konzipiert ist. E. schildert das Leben dieser Philosophen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und in diese Schilderung sind immer wieder Darstellungen der jeweiligen philosophischen Positionen und deren Entwicklung eingeflochten. Ein solches Vorgehen ist nicht ungewöhnlich, beschränkt sich häufig aber doch auf einzelne Personen – ich denke etwa an die wundervolle Hume-Biografie von Gerhard Streminger. Und: Der biografische Zugang ist in aller Regel nicht der übliche. Wer etwas über die Philosophie Platons, Descartes‘ oder Kants sagen will, konzentriert sich normalerweise auf die Werke dieser Philosophen. Welche Thesen werden in einem Werk vertreten? Wie argumentiert der Autor für diese Thesen? Auf welche anderen Positionen reagiert der Autor? Welche gesellschaftlichen Bedingungen nimmt er in dem Werk auf? Usw. Biografische Umstände können zur Erläuterung herangezogen werden, stehen aber nicht im Mittelpunkt.

Wie verlässlich ist nun, was E. über die Positionen seiner Protagonisten schreibt? Da ich von Benjamin, Cassirer und Heidegger nicht viel verstehe, konzentriere ich mich auf Wittgenstein (W.) – und zwar auf den Tractatus des frühen W., so wie E. auch. Der Tractatus wurde im Wesentlichen während des Ersten Weltkriegs geschrieben, manche Teile aber auch schon ab 1912. Wer sich die Mühe macht, diesen schwierigen, zum Teil enigmatischen Text durchzuarbeiten, dem fällt sofort auf, dass er sehr verschiedene Teile enthält. Er beginnt mit sprachphilosophischen Überlegungen, die zu einem besseren Verständnis der Grundlagen der Logik führen sollen, und endet mit ethischen, religiösen, zum Teil mystischen Bemerkungen, deren Zusammenhang mit den Anfangsbemerkungen nicht immer klar ist. Es kann sehr gut sein, dass für die späteren Überlegungen auch W.s Kriegserfahrungen eine entscheidende Rolle spielen. Für die Ausführungen am Anfang des Tractatus gilt das sicher nicht.

In diesen Ausführungen versucht W., Probleme zu lösen, die sich bei der neuen Grundlegung der Logik durch Frege und Russell ergeben hatten. W. wendet sich gegen eine axiomatische Auffassung der Logik, wie sie sich bei Frege und Russell findet. Dieser Auffassung zufolge gibt es ausgezeichnete Sätze – die Axiome – und Schlussregeln, und es gilt: a) Ein Satz ist genau dann logisch wahr, wenn er sich aus den Axiomen mit Hilfe der Schlussregeln ableiten lässt, und b) ein Satz B folgt genau dann aus den Sätzen A1 , …, An, wenn sich B aus diesen Sätzen und den Axiomen mit Hilfe der Schlussregeln ableiten lässt. W. bestreitet, dass es zwischen Axiomen und abgeleiteten Sätzen einen relevanten Unterschied gibt (6.1265, 6.127). Alle logischen Sätze sind gleichberechtigt. Und er bestreitet, dass wir Schlussregeln benötigen (5.132).  Vielmehr muss sich seiner Meinung nach die Logik aus der Sprache von selbst ergeben. Dass ein Satz logisch wahr ist, muss sich aus ihm selbst ergeben; er muss dafür nicht aus anderen Sätzen abgeleitet werden (6.1265, 6.127). Analog gilt: Dass ein Satz B aus den Sätzen A1 , …, An folgt, ergibt sich aus einem Vergleich der Wahrheitsgründe dieser Sätze; Schlussregeln sind überflüssig (5.132).

Wer sich für Logik interessiert, muss daher nach W. zuerst klären, wie Sprache funktioniert. Was muss der Fall sein, damit wir überhaupt über die Welt sprechen können. Dazu muss, so W., die Welt selbst auf bestimmte Weise strukturiert sein: In ihr muss es Gegenstände geben, die sich mit anderen Gegenständen, aber nicht mit allen, verbinden können. (Der Begriff „Gegenstand“ wird von W. in einem technischen Sinn gebraucht, der nicht unbedingt dem normalen Sinn entspricht.) Welcher Gegenstand mit welchem anderen verbunden sein kann, das macht seine logische Form aus. Wenn ein Gegenstand mit einem anderen verbunden sein kann, dann ist er manchmal tatsächlich mit ihm verbunden, manchmal aber auch nicht. Wenn ein Gegenstand tatsächlich mit einem anderen verbunden ist, dann ist dies eine Tatsache. Wenn er nur möglicherweise, aber nicht wirklich mit ihm verbunden ist, dann spricht W. von einem „Sachverhalt“. Sätze in einer Sprache haben nun nach W. eine ganz analoge Struktur. In ihnen kommen Namen vor, die auf eine bestimmte Weise miteinander verbunden sind. Jeder Name steht für einen Gegenstand. Und er kann nur für einen Gegenstand stehen, wenn er dieselbe logische Form hat. Jeder Satz besteht darin, dass in ihm Namen auf eine bestimmte Weise miteinander verbunden sind, und er besagt, dass die Gegenstände, für die die Namen stehen, auf dieselbe Weise miteinander verbunden sind.

Das ist eine sicher sehr spezielle Auffassung von Sprache. Und sie hat eine bemerkenswerte Konsequenz – dass man über Sprache und ihr Verhältnis zur Welt eigentlich gar nicht sprechen kann. Denn Tatsachen sind keine Gegenstände und Sätze (die nach W. übrigens auch Tatsachen sind) sind ebenfalls keine Gegenstände. Aber reden kann man nach W. nur über Gegenstände. Doch nach W. kann sich Manches, über das man nicht reden kann, trotzdem zeigen. Z.B. kann man nicht sagen, dass sich zwei bestimmte Gegenstände miteinander verbinden können oder auch nicht. Aber das zeigt sich, wenn man versucht, sie miteinander zu verbinden. Es geht, oder es geht eben nicht.

Was ich an E.s Darstellung des Tractatus bemängele, ist, dass er auf all diese Überlegungen auch nicht mit einer Zeile eingeht. Wie soll der Leser/die Leserin so ein angemessenes Verständnis dieses Werks gewinnen? E. interessieren am Tractatus eigentlich nur die Passagen, in denen es um die Grenzen der Sprache, das Nichtsagbare geht. („6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ „6.421 Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt.“) Und da er sich für die ersten Teile des Tractatus wenn überhaupt nur wenig interessiert, entgeht ihm auch eine ironische Pointe. E. geht zwar gegen Ende seines Buches auf die spätere philosophische Wende W.s ein und zitiert dabei auch den ersten Paragraphen der Philosophischen Untersuchungen, in dem W. die Sprachtheorie des Augustinus kritisiert. Aber ihm entgeht dabei anscheinend, dass sich diese Kritik mindestens ebenso gegen seine eigenen Ansichten im Tractatus richtet. Wenn jedoch die Sprachtheorie am Anfang des Tractatus falsch ist, dann entbehren auch alle Aussagen am Ende des Tractatus über die Grenzen des Sagbaren jeder Grundlage.  

Ich kann nicht sagen, ob die Darstellung der Philosophie Benjamins, Cassirers und Heideggers in E.s Buch ähnliche Lücken ausweist. Aber deutlich wird doch, dass sich E. überall dort besonders angesprochen fühlt, wo es existentiell und vielleicht auch ein bisschen „spooky“ wird. (Ich jedenfalls kann bei Benjamins These, es könne neben den normalen menschlichen Sprachen auch noch eine ausgezeichnete „Sprache Gottes“ geben, bei der es einen nicht arbiträren Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem gibt, nur ungläubig mit dem Kopf schütteln.) Wirklich erschreckend allerdings finde ich seine Sympathie fürs Irrationale. Bei dem Davoser Streitgespräch zwischen Heidegger und Cassirer kommt die Diskussion nach E. an einen Punkt, an dem Cassirer resigniert feststellt „Wir stehen an einer Position, wo durch bloße logische Argumentation wenig auszurichten ist“. Und E. kommentiert: „Genau das hat Heidegger immer schon gewusst! Es geht im Ursprung eben nicht um Argumente, sondern um den Wagemut zum Springen selbst!“ (370) Man könnte es auch so sagen. Wichtig sind nicht Argumente und Gründe, wichtig ist eine letztlich grundlose Entscheidung. Das soll Philosophie sein? Da kann ich nur vehement widersprechen. Nach meinem Verständnis geht es in der Philosophie, wie auch in der Wissenschaft, immer nur darum, wer die besseren Argumente hat. Darüber kann man natürlich streiten. Aber Argumente und Gründe sind das A und O der Philosophie.

Grundlose Entscheidungen sind in meinen Augen eher das Metier von Gurus. Und deshalb kann man über E. vielleicht auch sagen: Er interessiert sich für Philosophen nur, wenn sie als Gurus auftreten. Ich dagegen würde sagen: Wenn jemand als Guru auftritt, verlässt er damit automatisch das Gebiet der Philosophie.


Ansgar Beckermann war bis zu seinem Ruhestand 2010 Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld.