Brauchen wir eine allgemeine Dienstpflicht? Eine philosophische Einmischung

Von Dietrich Schotte (Regensburg)


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Schon vor Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine vor gut einem Jahr wurde von Politiker:innen immer wieder laut die Überlegung geäußert, nicht nur die ausgesetzte (nicht „abgeschaffte“!) Wehrpflicht wieder einzuführen – sondern diese gleich zu einer ‚allgemeinen Dienstpflicht‘ zu erweitern. Und diese Überlegungen werden lauter und von einem politisch zusehends breiteren Kreis geäußert, seit klar ist, dass sich dieser Krieg hinziehen wird.

Was ist der Kern dieser Überlegung? Alle deutschen Staatsbürger:innen sollten dieser Vorstellung nach wenigstens einmal in ihrem Leben ein oder anderthalb Jahre einen ‚Dienst an der Gesellschaft‘ leisten. Nur, dass dies nun eben nicht mehr allein in Form eines Dienstes an der Waffe, bei der Bundeswehr, sondern auch ohne zusätzliche Anträge und Verfahren als Dienst etwa im Gesundheitswesen, in der öffentlichen Verwaltung, bei Polizei, THW oder Feuerwehr möglich sein soll.

Und warum nicht allein, wie es ja grundgesetzlich verankert ist, als Wehrdienst? Weil es ja nicht allein um die Herstellung von Verteidigungs- bzw. Wehrfähigkeit gehe. Das war ja (neben einer am Ende schlicht nicht mehr gegebenen Wehrgerechtigkeit) einer der Gründe für die Aussetzung der Wehrpflicht: dass die Bundeswehr mittlerweile primär eine Einsatz- und Bündnisarmee ist, deren Hauptaufgabe in der Wahrnehmung militärischer Aufgaben besteht, die allenfalls mittelbar etwas mit Landesverteidigung zu tun haben. Und Aufgaben dieser Art lassen sich besser mit Zeit- und Berufssoldat:innen bewältigen, d.h. mit in hohem Maße professionalisierten Gewaltspezialist:innen mit einem entsprechenden Berufsethos.

Nun ist die Ausweitung der Wehrpflicht hin zu einer allgemeinen Dienstpflicht mit wenigstens vier Problemen verbunden, zu denen sich ihre Verteidiger:innen verhalten sollten, bevor sie dem Staat das Recht geben, derart umfangreich in die Lebensgestaltung seiner Bürger:innen einzugreifen.

Erstes Problem: Wozu soll eine ‚allgemeine Dienstpflicht‘ eigentlich dienen?

Als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, wurde bisweilen die Befürchtung geäußert, dass damit ja nicht nur der Bundeswehr die Soldaten, sondern den Krankenhäusern, Pflegediensten usw. die Zivildienstleistenden fehlen würden. Und angesichts der aktuellen Situation gerade im Bereich der Pflege, so könnte man argumentieren, dürfte eine allgemeine Dienstpflicht hier vielleicht eine Entlastung zur Folge haben.

Einerseits könnte sich diese Überlegung am Ende als äußerst teure Verlustrechnung entpuppen. Denn die Arbeitskräfte, die so angeblich in die entsprechenden Systeme gespült werden sollen, mögen zwar verhältnismäßig günstig sein – aber sie sind im Regelfall eben auch unqualifiziert. Mehr noch: Sie würden auch massiv Ressourcen binden, denn sie müssten verwaltet, ausgestattet, betreut und eben ausgebildet werden.

Schon eine Reaktivierung der Wehrpflicht dürfte etwa die ohnehin logistisch stark beanspruchte Truppe endgültig an den Rand des Zusammenbruchs treiben. Schließlich verfügt selbst die Bundeswehr gar nicht mehr über erforderlichen Strukturen, um neben der Erfüllung ihrer Bündnisaufgaben auch noch Tausende Wehrpflichtige auszubilden.

Andererseits wäre es ein Armutszeugnis erster Güte, das sich der deutsche Staat auf diese Weise wenigstens gleich selbst ausstellte: Anstatt die Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten, werden einfach unqualifizierte Arbeitskräfte per staatlichem Gesetz in den Dienst gezwungen.

Auch daher wird wohl betont, dass ja mittels Dienstpflicht den jungen Leuten ‚Gemeinsinn‘ und ‚Gemeinwohlorientierung‘ vermittelt würden. So lautet immerhin das von allerhöchster Instanz, dem Bundespräsidenten, bis hinab in die Hinterbänke und Ortsverbände verschiedener Parteien und auch aus den Medien zu hörende Argument.

Angesichts etwa der klar dokumentierten Solidarität der Jungen mit anderen Gesellschaftsgruppen durch bereitwilligen Verzicht in der Corona-Pandemie ist die Unterstellung, sie müssten derart erzogen werden, allerdings fast schon ehrenrührig.

Zweites Problem: Wie verträgt sich diese Forderung eigentlich mit dem grundgesetzlich verankerten Verbot der Zwangsarbeit?

Dieses Problem wird unter Umständen verdeckt, wenn man derart stark auf eine vermeintliche ‚Erziehung zum Gemeinsinn‘ abstellt – weil dann die zuvor erwähnte Problematik der erhofften volkswirtschaftlichen benefits ignoriert zu werden droht. Benefits, die, das muss man so klar sagen, durch Zwangsarbeit erwirtschaftet werden sollen.

Denn nichts anderes wäre es doch: Der Staat zwingt Menschen, für eine bestimmte Zeit einer bestimmten Art Arbeit nachzugehen. Daran ändert dann auch der Umstand nichts, dass die Bürger:innen aus einem begrenzten Angebot von Tätigkeiten wählen dürften. Denn sie hätten eben keine Wahl, ob sie diese Art Arbeit für den Staat machen wollen oder nicht – anders als jemand, die sich freiwillig für eine Laufbahn im öffentlichen Dienst entscheidet. (Und natürlich ändert auch die Bezahlung bzw. Entlohnung nichts daran, dass es sich um Zwangsarbeit handelt; das würde die Dienstpflicht allenfalls von Sklaverei unterscheiden, mehr aber auch nicht.)

Die Wehrpflicht scheint ja in Art. 12a des Grundgesetzes als Ausnahme vom allgemeinen Verbot der Zwangsarbeit in Art. 12 eingeführt zu werden. Und diese Ausnahme wird allein zugunsten eines höheren Rechtsgutes gemacht: der Existenz und Integrität der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als ganzer. Eine Güterabwägung also, aber eben zugunsten der Wehrpflicht. Nicht zugunsten einer allgemeinen Pflicht, gegen Entlohnung zwangsweise Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich von Staatsdiener:innen oder anderweitig hauptamtlich Beschäftigten zu erledigen wären.

Reicht dieser Hinweis auf mögliche Probleme der Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Dienstpflicht nicht eigentlich schon hin, um dieses Projekt zu erledigen? Nein, natürlich nicht. Denn einerseits entscheidet das Bundesverfassungsgericht gemäß juristischer Auslegung der Verfassung und nicht gemäß abstrakt-philosophischer Überlegungen, selbst wenn diese überzeugend sein sollten. Damit ist auch offen, ob eine allgemeine Dienstpflicht sich grundgesetzkonform formulieren ließe. Der Ausgang eines Verfahrens vor dem BVerfG wäre also ungewiss, sollte es zu einer Klage kommen. (Allerdings kam der wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2016 in einem Gutachten zu dem Schluss, dass eine allgemeine Dienstpflicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar wäre.)

Andererseits darf man nicht vergessen, dass auch eine etwaige Ablehnung im Zweifelsfall von den Advokat:innen einer Dienstpflicht nicht als Argument gegen ihr Ansinnen akzeptiert würde – sondern nur als weiterer, im Zweifelsfall öffentlichkeitswirksam ausgeschlachteter Beleg für einen realitätsblinden, unpolitischen „Verfassungsautismus“, den Otto Depenheuer und andere Karlsruhe ja ohnehin gerne mal vorwerfen.

Unterstellen wir also einmal, dass eine Dienstpflicht sich verfassungskonform formulieren ließe und dass ihre Umsetzung womöglich weniger kostenaufwändig wäre, als von mir vermutet. Dann bleiben immer noch Probleme offen und dies gerade dann, wenn sie wirklich primär einer Stärkung der Gemeinwohlorientierung der Betroffenen dienen sollte.

Drittes Problem: Lernt man bei Polizei und Bundeswehr, ein guter Staatsbürger zu sein?

Diese Frage ist alles andere als trivial. Denn die vergangenen Jahre haben wieder und wieder zutage gefördert, in welch erschreckendem Maße gerade auch Mitglieder von Polizei und Bundeswehr antidemokratisches, teils offen faschistisches Gedankengut in sich tragen und verbreiten. Und das, wie die Berichte in Heike Kleffners und Matthias Meißners Band Extreme Sicherheit deutlich machen, lange Zeit, ohne Angst vor Sanktionen haben zu müssen.

So wurde etwa kürzlich publik: Der Polizist, der über lange Jahre als Personenschützer für Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Überlebende der Schoa, eingesetzt war, grüßte in Chat-Nachrichten mit „HH“ (für „Heil Hitler“) und riss mit einem Kameraden u.a. Witze darüber, dass er Frau Knobloch nach Dachau fahre – immerhin sei das nicht so weit wie nach Ausschwitz.

Es ist perfide zu behaupten, dass Menschen zu Gemeinsinn und Gemeinwohlorientierung erzogen würden durch den erzwungenen Dienst in Institutionen, die eben diese affirmative Haltung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung offenkundig nicht einmal allen ihren festangestellten Mitarbeiter:innen zu vermitteln in der Lage sind. (Dass sie in Teilen womöglich gar nicht willens sein könnten, dies zu tun, will man sich lieber gar nicht vorstellen.)

Natürlich, man mag die Hoffnung hegen, dass gerade eine verstärkte Durchmischung mit Menschen, die nie von sich aus zu Polizei oder Bundeswehr gegangen wären, hier einen positiven Rückkopplungseffekt haben könnte. Nur ist das gar nicht die Aufgabe, geschweige denn die Pflicht derjenigen, die ohnehin nie vorhatten, hier Dienst zu tun. Und außerdem setzt gerade diese Hoffnung ja interessanterweise voraus, dass die so in staatliche Institutionen gezwungenen jungen Menschen eine ordentliche Portion Gemeinsinn und prodemokratische Tugend bereits mitbringen – wie sollte sonst der erhoffte positive Rückkopplungseffekt entstehen können? Was ein letztes Problem aufwirft …

Viertes Problem: Gemeinwohlethos durch Dienstpflicht – oder Dienstpflicht aus Gemeinwohlethos?

Wer sagt eigentlich, dass ein verpflichtender Dienst bei Polizei oder THW, im Kreiskrankenhaus oder bei der Bundeswehr, eine Überzeugung von dem besonderen Wert der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ein Gefühl der Verpflichtung zu Solidarität und Gemeinwohlorientierung hervorbringen wird? Dass ein Staat, der mich zur Arbeit für ihn zwingt, sich dadurch nicht nur meinen Respekt erwirbt, sondern in mir sogar den Wunsch erzeugt, eine gute Staatsbürgerin, ein citoyen im besten Sinne zu sein?

Realistisch betrachtet dürfte es doch wohl eher so sein: Wer im Zuge ihrer Erziehung und Sozialisation ein entsprechendes Staatsbürgerethos nicht vermittelt bekommen hat, die wird es auch in anderthalb Jahren erzwungenem Staatsdienst nicht erwerben. Selbst wenn in diesen Institutionen ein solches Ethos vorgelebt und eingefordert würde, wäre wohl eher zu befürchten, dass manche junge Staatsbürgerin ihre Haltung hinterfragen lernt, wenn sie sich derartigen staatlichen Zugriffen auf ihr Leben ausgesetzt sieht.

Ja, es spricht viel dafür, dass ein im besten Sinne republikanisches, d.h. gemeinwohlorientiertes und affirmativ-demokratisches Staatsbürgerethos eine jener „Voraussetzungen“ ist, von denen seit Ernst-Wolfgang Böckenförde immer wieder geraunt wird, „der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat“ lebe von ihnen, könne sie aber „nicht garantieren“. Demokratien brauchen Demokrat:innen, sagt ein Sprichwort, sonst sterben sie. Mal mehr, mal weniger leise.

Aber vielleicht sollten wir dann lieber wieder mehr über die allgemeinbildenden Schulen als Orte politischer Bildung sprechen und sie auch hierin stärker unterstützen. Und dasselbe gilt für all die kommunalen und privaten Vereine, die sich um Solidarität und Unterstützung Schwächerer, um bürgerliches Engagement und gesellschaftliche Teilhabe – kurz: um unsere Demokratie bemühen. Meist mit einem ebenso bemerkens- wie bewundernswerten Engagement von Ehrenamtlichen, denen man also wohl durchaus Bürgersinn und Gemeinwohlethos zuschreiben darf.

Hier wären die für die Einführung und Umsetzung einer allgemeinen Dienstpflicht benötigten öffentlichen Mittel sicherlich besser angelegt – wenn es denn wirklich darum gehen sollte, Gemeinsinn und Staatsbürgerethos zu stärken.


Dietrich Schotte ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Philosophie der Universität Regensburg. Seine Forschungen konzentrieren sich historisch auf die Philosophie der frühen Neuzeit und Aufklärung sowie systematisch auf Fragen der praktischen, vor allem der politischen Philosophie, zuletzt auf Probleme einer Philosophie der Gewalt. Hier ein Gespräch (Podcast) mit Dietrich Schotte über sein Buch „Was ist Gewalt?“ im Thomasisus Club.