Demokratie und Verschwörungstheorien. Eine unfreiwillige Partnerschaft?

von Lucas von Ramin (Dresden)


Ob Brunnenvergiftung, Hexenbünde oder Freimaurerloge – Verschwörungserzählungen haben nicht nur Konjunktur, sondern sind ein andauernder Bestandteil menschlicher Kulturgeschichte. Obwohl solche Erzählungen als Gefahr für heutige Demokratien beschrieben werden, finden sich in den meisten Verschwörungstheorien demokratische Motive. Oft wird eine kleine Gruppe oder Elite imaginiert, die die Mehrheit betrügen und beeinflussen will. Es lassen sich zwei Diskussionsstränge identifizieren, mit denen den Verbindungslinien zwischen Demokratie und Verschwörungstheorien nachgegangen werden kann.

Postfaktizität und Verschwörungstheorien

In den letzten Jahren hat die Debatte über das Verhältnis von Politik und Wahrheit an Bedeutung gewonnen. Zur Zeitdiagnose und diskutiert unter Begriffen wie „Fake News“, „Postfaktizität“ oder „Post-Truth“ gehört die Annahme, dass sich dieses Verhältnis radikalisiert hat. Der Prozess der Gegenwart wird als Verfallsgeschichte aufgefasst, „in der die großen Errungenschaften der Aufklärung und Moderne – unter anderem Rationalität, Objektivität, Wissenschaftlichkeit, Faktenbezug, Demokratie – verdrängt werden von Emotionalität, Irrationalität und neuen autoritären politischen Strukturen.“1

Verantwortlich für diese Entwicklung werden in den kulturellen »common sense« gesickerte Annahmen, aus schnell vereinheitlichten Theorien des Poststrukturalismus gemacht. Gemein sei diesen Theorien, dass sie die Idee objektiver Erkenntnis ablehnen und Wissen als Ergebnis von sozialen Verhältnissen und Macht verstehen. Die Folge sei ein epistemischer Relativismus, der Verschwörungstheorien in die öffentlichen Diskurse hat einwandern lassen. In dem weiten Feld poststrukturalistischer Ansätze sind es in den letzten Jahren prominent Theorien Radikaler Demokratie2 (RD), die mit den genannten Vorwürfen in Verbindung gebracht werden.

Die Diskussion konzentriert sich in der Regel auf zwei Argumente. Erstens gehen RD zurück auf ein radikales Verständnis demokratischer Selbstregierung und den damit verbundenen epistemischen Prämissen. Unter der Annahme umfassender Kontingenz3, gibtes für gesellschaftliche und politische Strukturen keine letzten Gründe. Selbstregierung heißt, dass es in Demokratien keine Themen geben kann, die von der demokratischen Auseinandersetzung ausgeschlossen sind. Der in der Diskussion um Postfaktizität geforderte Rückbezug auf Wahrheit ist aus dieser Sicht die Rückkehr zu einer postdemokratischen Alternativlosigkeit. Dieser sensible Umgang mit Wahrheit wird dann als Türöffner für Verschwörungstheorien verstanden. Wenn es keinen starken Begriff von Wahrheit gibt, um bestimmte Vorstellungen aus dem politischen Diskurs auszuschließen, dann sind auch Verschwörungstheorien Teil des Diskurses.

So offensichtlich dieser Zusammenhang scheint, so offensichtlich sind aber auch seine Grenzen. Weder beziehen sich Verschwörungstheorien explizit auf radikaldemokratisches Autorenspektrum, noch sind sie ohne Weiteres mit den Prämissen vereinbar. Denn im Sinne der Gleichwertigkeit müsste anerkannt werden, dass die eigene Welterklärung oder Verschwörung nur eine unter vielen ist.

Im zweiten Argument wird der Zusammenhang von Macht und Politik thematisiert mit Verweis auf die Hegemonietheorie von C. Mouffe und E. Laclau. Kurz gesagt gehen diese Theoretiker:innen davon aus, dass Gesellschaften diskursiv durch Machtverhältnisse konstituiert werden, die es aufgrund ihrer Herrschaftsstruktur zu hinterfragen gilt. Demokratie ist deshalb auch nicht durch eine hegemoniale Stellung realisiert, sondern durch das Zerbrechen und Durchbrechen von Hegemonien. P. Manow kritisiert, dass die Logik des permanenten Herrschaftsverdachtes zu ständigen „Demokratiegefährdungsdiagnosen“ und „Hypernervösität“4 führt.

Dieses Spiel mit Ungewissheit machen sich besonders Populist*innen zu eigen, weil es ermöglicht, im Namen der Demokratie die jeweils etablierte Demokratie anzugreifen. Verschwörungstheorien spielen mit dieser Unsicherheit und ziehen aus ihr Legitimität. Allerdings wird dieses Ringen um Macht zum existentiellen Ernst übersteigert, wie die Radikalität und das Gewaltpotenzial der letzten Jahre zeigen. Verschwörungserzählungen bedienen sich folglich radikaldemokratischer Grundannahmen, gehen aber nur den halben Weg. Sie instrumentalisieren Ungewissheit mit demokratischen Semantiken, erkennen diese Ungewissheit aber für ihre eigene Position nicht an. Verschwörungstheorien treten mit einem radikalen Wahrheitsanspruch auf, mit einer klaren Vorstellung von Gut und Böse.

Ideologie und Verschwörungstheorien

Neben der „großen Erzählung“ eines postfaktischen Zeitalters wird der zudem Moderne vorgeworfen, sich in den Widersprüchen des selbstauferlegten Ideals der Selbstbestimmungzu verstricken. Auch dieses Narrativ begleitet von Beginn an eine Verfallsgeschichte, wie es insbesondere durch die Texte der Kritischen Theorie bekannt geworden ist. Für Horkheimer und Adorno ist beispielsweise in der Kombination aus Demokratie und Kapitalismus ein Totalitarismus am Werk, welcher Entfremdungserfahrungen hervorbringt, die die psychologische Grundlage für Verschwörungstheorien liefern. Diese sind eine Gegenreaktion auf die Überforderung der Modernisierung.

Das Potenzial, aber auch Problem dieser Analyse ist, dass Verschwörungstheorien in gewisser Weise eine berechtigte Reaktion auf den enttäuschten Freiheits- und Gleichheitsanspruch darstellen. Verschwörungstheorien werden deshalb seit Mitte des 20. Jahrhunderts als „Elitenkritik“5 verstanden und teilen diese Position nicht nur strukturell, sondern auch phänomenal mit dem Populismus. Beide stehen unter Ideologie- und damit auch Komplexitätsreduzierungsverdacht, weil sie komplexe Sachverhalte simplifizieren, um damit zur gesellschaftlichen Polarisierung und politischen Mobilisierung beizutragen. Erneut lassen sich zwei Motive nachzeichnen.

Ein erstes Motiv bietet der Fokus auf die Kategorie des Volkes. Im Anschluss an die RD gibt es nicht nur keine Letztbegründungen, sondern die Konstitution des Volkes steht immer wieder zu Debatte, kann erneuert und erweitert werden. Eine Denkfigur, die von O. Marchart deshalb für das demokratische Subjekt eingeführt wird, ist die des „Als ob“6. Im Anschluss an Laclau schreibt er, dass jeder politische Akteur agiert, „als ob er Willenssubjekt, als ob er Herr des eigenen Willens wäre.“7 Nur so lässt sich der Pluralität an Bürger:innen gerecht werden. Verschwörungstheorien übergehen diese Offenheit. Hier gibt es das Volk nicht nur als ‚als ob‘, sondern als tatsächliches und dies äußert sich in überladenen kollektiven Identitätskonzeptionen.

Dieses Verständnis wird heute insbesondere mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus verbunden, welcher die Einheit eines Volkswillens gegen eine scheinbare politische Elite inszeniert. Es wird eine ideologisch verkürzte Form von Selbstbestimmung imaginiert durch den Wunsch nach unmittelbarer Ausführung eines bereits definierten Volkswillens. In Verschwörungstheorien wiederholen sich deshalb Motive, die bereits vom antisemitischem Denken bekannt sind. Durch die Imagination einer Gruppe der Mächtigen, die das gemeine Volk hinters Licht führt, lässt sich der Kampf gegen die Elite immer wieder als demokratisches Aufbegehren umdefinieren. Die Komplexität demokratischer Verfahren wird verkürzt auf dem Kampf zwischen scheinbar einheitlichen Volk und Elite.

Weshalb solche ideologischen Schließungen in Verschwörungstheorien immer wieder attraktiv sind, lässt sich mit einem zweiten Ansatz erklären. Im groben lautet die These, dass die Moderne ihr Ideal der Selbstverwirklichung nicht erfüllen kann, weil die Rationalisierung und Ökonomisierung des Lebens neue Zwänge und gesellschaftliche Schichtungen erzeugt, unter denen das Versprechen von Freiheit als Illusion erfahren wird. Weil die Illusion Frustration erzeugt, entsteht Hass auf Personen und Gruppen, die zumindest im verschwörungstheoretischen Glauben das Kapital und die Elite verkörpern. Die mit der „Zivilisation auferlegte Triebunterdrückung“8 äußert sich in der Suche nach Schuldigen. Verschwörungserzählungen vermitteln durch die Identifikation von eindeutigen Feinden ein Gefühl der Kontrolle.

Das Interesse an solchen Erzählungen ist, wie eine Studie des Leipziger Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung beispielhaft an der AfD zeigt, besonders unter Anhängern rechtspopulistischer Bewegungen verbreitet9. So wird auch gegenwärtig, mit Schlagworten wie „Großer Austausch“, „QAnon“, „Deep State“ oder „Great Reset“ Corona zu einer bloßen Verschwörung oder aber zu einer gezielten Manipulation der Bevölkerung stilisiert. Das Perfide ist, dass die missverstandene Selbstbestimmung durch antisemitische und verschwörungstheoretische Vorstellungen den demokratischen Kampf missbraucht. Dass es um die Auflösung gesellschaftlicher Widersprüche geht, ist bei Verschwörungstheorien jedoch nur oberflächlich der Fall, weil sie nur Ablenkung sind im weiterlaufenden Reproduktionsprozess der gesellschaftlichen Asymmetrien. Sie bringen zwar erlebte und empfundene Ungerechtigkeiten zum Ausdruck, aber reduzieren diese auf einen klaren Feind in einem vereinfachten Weltbild. Gerade weil die Erzählung von dem Feindbild leben, sind sie vielmehr an einer Radikalisierung, denn an einer Auflösung von Widersprüchen interessiert.

Diskussion um Demokratie

Die kurze Diskussion beide Stränge zeigt, dass eine radikale Gegenüberstellung von Verschwörungstheorien und Demokratie nicht hilfreich ist. Einerseits ist es notwendig, die offene Flanke demokratischen Selbstverständnisses zu reflektieren. Auffällig ist besonders die Differenz zwischen einer Theoretisierung von Demokratie im akademischen Diskurs und dem demokratischen Alltagsverständnis. Das gesunkene Vertrauen in die Demokratie und der steigende Wunsch nach direkt-demokratischen Verfahren ist deshalb oft eng verbunden mit einem vulgären Demokratiebegriff, welcher den Volkswillen als bestimmbare Einheit konstruiert. Anderseits lässt sich erst durch die Gegenüberstellung eine normative Grenze ziehen. Verschwörungstheorien bedienen sich zwar eines demokratischen Narratives, erkennen dieses aber für ihre eigene Erklärung nicht an. Die verschwörungstheoretische Weltdeutung steht der demokratischen Auseinandersetzung nicht zur Verfügung. Dies ließ sich sowohl für den Postfaktizitäts- als auch für den Ideologiestrang behaupten. Die abschließende These lautet deshalb, dass die „Anerkennung von Kontingenz und Pluralität gesellschaftlicher und politischer Ordnungen“10 einen Eigenwert hat, der entweder begründungssbedürftig ist oder eben den letzten Grund der Demokratie darstellt. Es bedarf daher nicht weniger, sondern mehr gesellschaftlicher Debatten um die eigentliche Bedeutung von Demokratie.


Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Artikel, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie in einem Schwerpunkt zu Verschwörungserzählungen erschienen ist.


Lucas von Ramin (Dr. phil), ist wissenschaftlicher Koordinator des Potenzialbereichs »Gesellschaftlicher Wandel« an der Technischen Universität Dresden. Er studierte Politikwissenschaft und Philosophie in Dresden und New York und forscht zu radikalen Demokratietheorien, der Kritischen Theorie sowie zur philosophischen Ästhetik.


1 Schaal, Gary S., Dannica Fleuß und Sebastian Dumm. 2017. „Die Wahrheit über Postfaktizität.“ APUZ 44-45. S. 31.

2 Stichwortgeber dieser Theorie waren besonders Autor*innen die O. Marchart dem französischen Linksheideggerianismus zuordnet, wie J. Ranciere, A. Badoiu oder J-L.Nancy. Prominent sind ebenfalls die Arbeiten von C. Mouffe und E. Laclau, der sogenannten Diskursanalyse der Essex-School. Ihnen ist der Fokus auf die Analyse und Kritik von Entpolitisierungsprozessen im westlichen Parlamentarismus gemein, durch die der Liberalismus seine Hegemonie absichert.

3 Marchart, Oliver. 2016. Die politische Differenz: Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. 3. Aufl. Berlin: Suhrkamp, S. 74 ff.

4 Manow, Philip. 2020. (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Berlin: Suhrkamp, S. 140.

5 Butter, Michael. 2018. „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp.

6 Marchart, Oliver. 2016. Die politische Differenz: Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. 3. Aufl. Berlin: Suhrkamp, S. 341.

7 Ebd.

8 Ziege, Eva-Maria. 2018. Antisemitismus und Gesellschaftstheorie: Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.85.

9 Huster, Susanne und Oliver Decker. 2020. „Studie: ‚Erschreckend viele Wähler der AfD teilen Verschwörungsmentalität und antidemokratische Einstellungen‘“. Zugriff am 16. April 2021. https://idw-online.de/de/news732040.

10 Flügel-Martinsen, Oliver. 2019. „Verteidigung vs. Befragung der Moderne?“. In Radikale Demokratietheorie: Ein Handbuch, herausgegeben von Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen, 1. Aufl., S. 717.