Die Coronamüdigkeit der Philosophie, oder: wie soll die Zukunft aussehen?

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Die COVID-19 Pandemie ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Der kurze Sommer der Erleichterung ist dem Herbst der Ernüchterung gewichen. Alle blicken gebannt und gespannt, manche ängstlich, viele genervt, in die nahe Zukunft des Winters. Die Pandemie hat bislang gezeigt, was Philosophie kann und zeigt jetzt umso deutlicher, was sie nicht kann: kraftvolle Szenarien für eine gerechte Gesellschaft der Zukunft entwickeln.

Wer der Philosophie vorgeworfen hatte, diese könnte nur langsam denken und nicht auf aktuelle Ereignisse reagieren, wurde eines Besseren belehrt. Innerhalb weniger Wochen wurden unzählige kürzere und längere Texte, ja sogar Bücher verfasst und herausgegeben und der Strom der Coronapublikationen in der Philosophie wird in den nächsten Monaten, wahrscheinlich sogar Jahren nicht abreißen. Man kann sicherlich über die Qualität, ja über den Sinn und Zweck dieser philosophischen Schnellschüsse diskutieren und einmal mehr hat sich gezeigt, dass in der Philosophie die Meinungen auseinandergehen. Die Pandemie insgesamt hat vor Augen geführt, dass Wissenschaft – ich will die akademisch Philosophie hier dazuzählen – von Dissens geprägt ist, was sich in den letzten Wochen zu einem Schauspiel der Petitionen und Gegenpetitionen erwachsen hat, in der emphatischen Deklaration von Wahrheiten, die sich nicht decken und den Außenstehenden, der sich von der Wissenschaft Klarheit erwartet, staunend, resignierend oder verärgert zurück lassen. Für die Philosophie hatten wahrscheinlich von vornherein weniger Menschen, schon gar nicht die PhilosophInnen selbst, die Erwartung, dass hinsichtlich der philosophischen, ethischen und politischen Fragen der Pandemie und ihrer Bekämpfung Konsens herrschen könnte.

Was sich sehr deutlich gezeigt hat, ist, dass die Philosophie ganz gut darin ist, „kleinere“ Fragen anzugehen. Mit dem Attribut „klein“ meine ich nicht, dass diese Fragen unerheblich, unwichtig, einfach oder unwichtig wären. Sie sind und waren es. Dennoch: ob diese oder jene Maßnahme und Beschränkung der Freiheit gerechtfertigt ist, das konnten PhilosophInnen schön durchbuchstabieren. Natürlich mit jeweils anderem Ergebnis auf Basis unterschiedlicher Prämissen über Freiheit, Würde oder das Verhältnis von Staat und BürgerIn. Dasselbe gilt für die vielen medizinethischen Fragen, die diese Pandemie aufwirft, und die mit Hilfe des in den letzten Jahrzehnten angehäuften medizinethischen Arsenals an Argumenten und vergleichbaren Fällen, einer Antwort zugeführt wurden. Ob und inwiefern diese philosophischen Reflexionen praktische Relevanz entfaltet haben, ja ob sie überhaupt dafür gemacht wurden oder gemacht werden hätten sollen, ist unklar. Noch immer gilt, und das ist legitim, Philosophie wird fast ausschließlich für PhilosophInnen betrieben, die auch in der Lage sind, die Verästelung der Argumente, ihre Herkunft und Plausibilität in die Menge der bisherigen Literatur einzuordnen und zu bewerten.

Sicherlich, es gab auch das große und kleine philosophische Raunen zur Pandemie, die Versuche hier metaphysische und zeitdiagnostische Diagnosen zu stellen. Das fand sich dann vor allem in den Feuilletons und weniger in den Fachzeitschriften wider. Die COVID-19 wird, viel stärker als die Wirtschaftskrise um das Jahr 2010 herum, eine Generation prägen. Das war schon im Frühjahr zu erahnen und ist mittlerweile offensichtlich.

Die Coronamüdigkeit hat auch die Philosophie schön langsam, aber sicher erfasst. Welche Fragen sind jetzt noch zu beantworten? Natürlich werden die oben genannten „kleinen“ Fragen bleiben und immer wieder durchexerziert werden. Mein Eindruck ist jedoch der, dass die Philosophie schlecht darin ist, darüber nachzudenken, was denn nun langfristig geschehen soll. Hat die COVID-19 Pandemie überhaupt langfristige Folgen oder ist sie nur eine kurze Unterbrechung und alle machen nachher wie bisher? Das betrifft die Philosophie natürlich auch als akademische Disziplin und wie sie Lehre und Forschung gestalten will, ob in ein paar Monaten einfach wieder so fröhlich durch die Welt gejettet wird wie vor 2020. Zentral scheint mir jedoch die Frage, ob die COVID-19 Pandemie als Bruchstelle fungieren kann für die soziale und wirtschaftliche Ordnung, zumindest in einigen Ländern wie Deutschland oder Österreich. Wie sollen die massiven wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie abgefedert werden? Ist eine gerechtere Gesellschaft möglich? Stellen sich diese Fragen überhaupt oder bleibt die Pandemie letztlich ein medizinischer Notfall, den man eindämmt und sobald die Krankheit unter Kontrolle ist, zu den Akten legt?

Die Staaten rüsten sich für die nächsten Monate. Nicht nur wie sie der Pandemie Herr werden, sondern vor allem werden auch Milliarden und Milliarden verteilt, umverteilt, kanalisiert – und irgendwo wird dann auch gespart werden. Was hat die Philosophie hier zu sagen? Man könnte denken: die Philosophie hat oft über das Verhältnis von Staat und den Freiheitsrechten der BürgerInnen nachgedacht und das hat sie das zur Anwendung gebracht als im Falle der Pandemie diese Abwägung zu treffen war. Nun hat die Philosophie aber doch ebenso oft darüber nachgedacht, wie eine gerechte Sozial- und Wirtschaftsordnung auszusehen hat (in einem Staat und global). Dieses Wissen könnte, ja sollte doch gerade jetzt mobilisiert werden, wenn wir als Folge dieser Pandemie eine fast beispielslose Erschütterung der Wirtschaft und damit einhergehende sozialen Verwerfungen erleben. Es braucht nicht nur Argumente dafür, wie Beatmungsgeräte oder Spitalsbetten verteilt werden sollten, sondern auch wie die materiellen und immateriellen Ressourcen, die der Staat nun aufwendet oder die in dieser Gesellschaft in den Händen von Privatpersonen vorhanden sind, verteilt werden sollten.

Ich habe zwei Vermutungen, warum das nicht oder nur in geringerem Ausmaß geschieht – Ausnahmen wie die Überlegungen von Niklas Dummer und Christian Neuhäuser gibt es zum Glück.

Erstens sind Fragen der sozialen Gerechtigkeit komplex. Sie betreffen ziemlich viele Stellschrauben der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Sie sind langfristige Fragen. Die philosophischen Reflexionen zur Pandemie zeigen eine gewisse Kurzfristigkeit, in dem sie auf Fragen abzielen, die nur für ein paar Wochen oder Monate zu beantworten sind und dann verschwinden, sobald die Pandemie verschwunden oder zumindest eingedämmt ist. Bei den wirtschaftlichen und sozialen Folgen geht es dagegen nicht um akute Fragen der Verteilung von Medikamenten oder Freiheitseinschränkungen, sondern um Stellschrauben für Monate und Jahre. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der sozialen Erschütterungen sind auch weniger sichtbar. Es gibt keinen täglichen Ticker, wie viele ihren Job verloren haben oder sich weiter verschulden oder delogiert werden oder sich neu bei der Tafel für ein Essen anstellen. Jeder spürt Ausgangsbeschränkungen und sieht die Masken im täglichen Leben, wohin die Milliarden fließen, sieht man nicht und auch nicht ob es genug Notschlafstellen gibt. Die Auswirkungen sind oft mittel- oder langfristig. Die Öffentlichkeitsökonomie der Pandemie kennt, obwohl schon medizinisch ungenau, nur infizierte, kranke und genesene Menschen. Die Krankheit dauert ein paar Wochen, dann ist sie überstanden (oder man ist gestorben). Soziale Folgen funktionieren zumeist nicht nach dieser Logik, sie dauern oft nicht nur ein paar Wochen und man ist von ihnen auch nicht so einfach „geheilt“ und lebt dann sein bisheriges Leben weiter wie zuvor. Wie gesagt, werden auch die Folgen einer überstandenen COVID-19 Erkrankung fast nicht thematisiert.

Zweitens scheint das Ziel einer gerechten Gesellschaft weniger realistisch als das Ziel einer Gesellschaft, die mit der Pandemie gut und richtig umgeht. Die Pandemie ist neu und der Staat zeigt hier seine Handlungsmacht. Plötzlich ist vieles möglich, was undenkbar schien. Und vieles, was der Staat tut, findet auch die Zustimmung in der Philosophie und wird als richtig und moralisch gerechtfertigt angesehen. Der Staat ist in der Pandemie eher der Freund derer, die Gerechtigkeit in den medizinischen Fragen einfordern. Bei den sozialen Fragen sieht die Sache anders aus. Es gibt wohl nur wenige PhilosophInnen, die sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit eingehend beschäftigt haben, die nicht der Tendenz zu neigen, dem Staat Versagen, ja sogar Böswilligkeit vorzuwerfen. Der Staat hätte längst mehr tun können, hat aber in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit steigen lassen, Armut und Arbeitslosigkeit nicht verhindert und ermöglicht die Anhäufung unverschämter Reichtümer, die die Demokratie letztlich gefährden. Diese oder vergleichbare Diagnosen sind Standardrepertoire der politischen Philosophie, wenn sie sich nicht auf abstrakte Theorien beschränkt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass nun wenig Hoffnung existiert, dass der Staat oder die Gesellschaft und ihre Akteure – es geht ja nicht nur um den Staat hier – die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie besser lösen werden als der schlechte track record in sozialen und wirtschaftlichen Belangen der letzten Jahre vermuten lässt. Da, so meine Vermutung, winken viele PhilosophInnen gleich einmal resigniert ab und entwickeln erst gar keine neuen Ideen für eine gerechte Post-COVID-19-Gesellschaft. Dazu kommt der Impuls, dass man diese Fragen doch eigentlich schon beantwortet hätte. Es sei schon klar, wie Güter, Fähigkeiten oder Rechte gerecht verteilt werden sollten – es geschieht halt nur nicht und wird auch während und nach der Pandemie nicht geschehen. Dieser Pessimums ist nicht unbegründet, aber er stimmt trotzdem nachdenklich.